Theater zwischen Frieden und Krise

Mit welchen Gruppen arbeiten Sie im Teatro por la Paz und was ist die Vision des Projektes?

Wir arbeiten seit dem Jahr 2016 vor allem mit drei Zielgruppen. Dabei ging es immer darum, Dialogräume zu öffnen, um den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Binnenvertriebenen und anderen neue Perspektiven zu eröffnen. In einer ersten Intervention begleiteten wir die Mitarbeitenden verschiedenster Projekte der „Pastoral Social“. In diesem Prozess eigneten sie sich Werkzeuge des partizipativen Theaters an, die sie in ihrer Arbeit unterstützen. Des Weiteren arbeitet das Teatro por la Paz mit einer äußerst heterogenen Gruppe aus den sozial benachteiligten Randbezirken der Stadt zum Aspekt der Unsicherheiten in ihrem Alltagsleben. Wie auch mit der ersten Gruppe konnten wir mit ihnen an unterschiedlichen Orten der Stadt unsere partizipativen Stücke aufführen und auf diese Weise ein breites Publikum für die Themen der Teilnehmenden sensibilisieren. Eine dritte Zielgruppe besteht aus vorwiegend jugendlicher Landbevölkerung aus Konfliktregionen des Departements, die sich der Kontrolle des kolumbianischen Staates entziehen. Sie reflektieren mittels Theater die Dynamiken der Gewalt und Kriegserfahrungen in ihren noch jungen Leben. Das Projekt soll den Teilnehmenden mit dem kreativen Werkzeug des Theaters neue Perspektiven auf die konfliktbehafteten Lebensgeschichten ermöglichen sowie ihnen dabei helfen, neue Zukunftspläne zu entwickeln.

Welche besonderen Herausforderungen und Probleme ergeben sich im täglichen Zusammenleben in der Grenzstadt Cúcuta? Wie macht sich die gestiegene Anzahl venezolanischer Migrant*innen bemerkbar?

Die Stadt Cúcuta ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen. Die gegenwärtigen Neuansiedlungen gehen zu einem großen Teil auf Hinzugezogene aus dem Nachbarland zurück, die häufig mit nicht mehr ankommen als dem, was sie und ihre Familienangehörigen am Leibe tragen. Dabei ist die Zahl der Venezolaner*innen, die sich in Cúcuta niederlassen, im nationalen Vergleich noch gering. Von den mehreren Zehntausend Menschen, die täglich einen der Grenzübergänge nach Cúcuta überqueren (die meisten pendeln und kehren abends wieder zurück), bleiben nur wenige Tausend in der Stadt. Und auch von diesen relativ wenigen Migrant*innen zieht der Großteil nach kürzeren Aufenthalten in Cúcuta zu Fuß weiter in die kolumbianischen Millionenstädte oder ins benachbarte Ausland. Es lohnt jedoch, darauf hinzuweisen, dass in Cúcuta viele Realitäten nebeneinander existieren, von denen wir als im sozialen Sektor tätige Ausländer*innen das Privileg haben, einige kennenlernen zu dürfen. Eine der Wirklichkeiten ist die der wohlhabenden Oberschicht, die von den Bedürfnissen und mitunter Nöten der weniger gut gestellten Kolumbianer*innen nur wenig mitbekommt. Der Kontakt vieler Angehöriger der Oberschicht mit notleidenden venezolanischen Migrant*innen beschränkt sich dann häufig auf Begegnungen an Straßenkreuzungen mit Scheibenputzern und Eltern mit kleinen Kindern, die um Almosen betteln müssen. Allgemein nimmt die Fremdenfeindlichkeit in der Stadt zu. Gleichzeitig gibt es auch beeindruckende Beispiele gelungener Integration. Ein nicht von der Hand zu weisendes Problem, das durch die Situation des kollabierenden Nachbarstaates verstärkt wird, ist die zunehmende Unsicherheit im direkten Grenzgebiet im Großraum Cúcuta. Dort kämpfen rivalisierende Banden um die Gewinne aus lukrativem Schmuggel und die Kontrolle von Territorien. Nicht nur einmal ist es in den vergangenen Monaten in direkter Umgebung der legalen und illegalen Grenzübergänge zu Schusswechseln, Granatenanschlägen und bestialischen Morden gekommen.

Inwiefern spiegelt sich diese Situation auch im Theaterprojekt wider?

Viele der venezolanischen Migrant*innen lassen sich in den benachteiligten Stadtteilen nieder, aus denen auch zahlreiche Projektteilnehmende stammen. In den erarbeiteten Theaterszenen tauchen dann die Alltagskonflikte zwischen den beiden Gruppen um Arbeitsplätze, Vorurteile und kulturelle Eigenheiten auf. Im März des vergangenen Jahres führte das Projekt ein mehrtägiges Theaterevent in nur einigen Kilometern Entfernung von der internationalen Brücke „Simón Bolívar“ zum Thema Grenze durch, bei dem auch Teams aus anderen von der AGEH geförderten Projekten in Kolumbien zu Gast waren. Die Teilnehmenden aus Grenzregionen zu Venezuela wie der Guajira und Arauca, aber auch von der Grenze zu Ecuador an der kolumbianischen Pazifikküste untersuchten dabei mit Hilfe des Theaters geographische, aber auch mentale Grenzen „in den Köpfen“. Ein Ergebnis dieses Treffens war, dass Grenze nicht nur ein trennendes Element enthält, symbolisiert durch Wachtürme und Mauern, sondern immer auch das Moment des Neuen, Unerforschten, das Möglichkeiten für die Zukunft bietet.

Sie planen demnächst ein Projekt mit venezolanischen Migrant*innen – was haben Sie da genau im Sinn?

Das Projekt geht in eine Verlängerungsphase bis September 2021, die auf der bisherigen erfolgreichen Arbeit aufbauen wird. Dabei besteht der Wunsch, verstärkt im ländlichen Raum einzuwirken, aber auch mit der Gruppe aus den peripheren Bezirken Cúcutas weiterzuarbeiten. Diesen Fokus möchten wir um neue Elemente erweitern. Meine Rolle wird dabei aus einer Mischung aus Beratung, Implementierung und Koordination bestehen; grundsätzliche Entscheidungen werden immer im Konsens mit der Direktion der Pastoral Social getroffen. Konkret geplant ist die Erweiterung der Theatergruppe, die sich aus Männern, Frauen und Kindern aller Altersklassen zusammensetzt, um eine gleichstarke Gruppe von Teilnehmenden venezolanischer Herkunft. Das Ziel: mit Hilfe des partizipativen Theaters sichere Räume schaffen, die der aufnehmenden Bevölkerung und der neu hinzukommenden die Möglichkeit bieten, sich zu begegnen und ihre Konflikte friedlich auszutragen.

Nicht wenige der „venezolanischen Migrant*innen“ sind eigentlich ursprünglich Kolumbianer*innen, die zu Zeiten des bewaffneten Konflikts nach Venezuela gegangen sind und jetzt aufgrund der Krise wieder zurückkommen – wie schlagen sich solche Identitätsfragen in der Theaterarbeit nieder?

Wie genau das Zusammenspiel zwischen Kolumbianer*innen und Venezolaner*innen aussehen wird, werden die kommenden zwei Jahre zeigen. In bereits durchgeführten Pilotworkshops hat sich gezeigt, dass die Frage der nationalen Herkunft bei der venezolanischen Bevölkerung Cúcutas allem Anschein nach durch die Migrationserfahrung enorm in den Vordergrund gerückt ist. Hoffentlich trägt das neue Projektelement dazu bei, dass sich die verschiedenen Menschen in der Vielfalt ihrer Identitäten kennenlernen können – ganz im Sinne unseres Mottos „Teatro por la paz es… mirar el corazón del otro“.

Was haben Sie von dem großen propagandistischen Konzert Ende Februar mitbekommen, als Guaidó die Hilfsgüterlieferung nach Venezuela auf Teufel komm raus durchsetzen wollte und internationale (auch kolumbianische) Popstars vor Ort waren? War das auch im Theaterprojekt Thema und wie wurde es aufgenommen?

Meine Familie und ich haben am Wochenende des 22. und 23. Februar 2019 die Stadt bewusst verlassen. Es war einfach nicht abzusehen, wie sich die Situation entwickeln würde. Wir sind dann am nächsten Tag nach Cúcuta zurückgekehrt, um vor Ort Informationen einzuholen und uns ein besseres Bild unserer Lage machen zu können. Schon im Vorfeld, und auch in den Tagen nach dem Großereignis, hat uns die starke Präsenz von Militärhubschraubern, Kampffliegern und großen Transportmaschinen verstört, die im Stundentakt den Stadtkern überflogen. Hier und im ganzen Grenzgebiet Norte de Santander haben nicht zuletzt die illegalen Gruppen von der Veranstaltung profitiert. Nach Schließung der offiziellen Grenzübergänge konnten sie ihre Gewinne aus der Kontrolle des illegalen Grenzverkehrs maximieren. Sowohl die Vereinten Nationen als auch das internationale Rote Kreuz hatten sich früh von der Bezeichnung „Hilfsgüterlieferungen“ distanziert und den politischen Charakter der Aktion hervorgehoben. Die vielen offenen Fragen um die Ereignisse in Cúcuta und die internationale mediale Inszenierung hat beispielsweise die New York Times im Nachklang investigativ aufgerollt.

Wir im Theaterprojekt haben in der Woche nach dem Event verschiedene Sicherheitsexperten vor Ort mit Projektteilnehmer*innen aus Stadt und Land zusammengeführt, um die Folgen abschätzen zu können. Den Leuten aus dem Projekt war dabei klar, dass vor allem sie die Leidtragenden weiterer Eskalationen sein würden. Zu diesem Zeitpunkt geisterten noch Szenarien in der Öffentlichkeit herum, die eine US-Militärintervention auf kolumbianischem Boden beinhalteten. Die eingeladenen Experten unterstrichen jedoch deutlich den Mediencharakter der Veranstaltung. Dies hat sich inzwischen insofern bestätigt, als wieder relative Ruhe im Stadtgebiet eingekehrt ist. Was vor Ort zugenommen hat, sind Macht und Einfluss illegaler Banden.

Gibt es in Ihrem Projekt viele grenzüberschreitende (familiäre) Beziehungen nach Venezuela, die sich nun aufgrund der Krise schwieriger gestalten, oder finden die Leute dennoch Mittel und Wege?

Das Leben in Cúcuta ist seit jeher durch grenzüberschreitende Beziehungen geprägt. So gut wie jede*r hat Familie oder Geschäfte jenseits der Grenze. Die venezolanisch-kolumbianische Grenze ist in ihrem gesamten Verlauf von der Karibik bis ins Amazonasgebiet unkontrollierbar. Selbst von den internationalen Brücken in Cúcuta kann man illegale Grenzübergänge, die nur einen Steinwurf entfernt sind, beobachten. Wer die Grenze überqueren will, kann dies mit einem gewissen Risiko überall und zu jeder Zeit tun.

Trotz der unfassbaren Ereignisse im Nachbarland und der damit verbundenen Migration in Millionenhöhe sind die tieferliegenden Probleme vor Ort dieselben geblieben. Im ländlichen Raum liefern sich alle möglichen bewaffneten Akteure schwere Gefechte; es ist wohl berechtigt, in diesem Zusammenhang von kriegerischen Auseinandersetzungen zu sprechen, die gegenwärtig wieder einmal einen traurigen Höhepunkt erreichen. Für die Pastoral Social und das Theaterprojekt ist es immer ein Anliegen gewesen, an diesen Orten präsent zu sein und Hoffnung und Möglichkeiten zu bieten. Bei allen Entwicklungen bleibt dies eine Konstante.