Frau Spira, Sie sind im März 1933 nach der Verhaftung Ihres Ehemannes Günther Ruschin aus Deutschland geflohen. Welches waren die Stationen Ihres Exils?
Es gab im Ganzen drei Stationen. Zuerst bin ich in die Schweiz gegangen, weil ich dort Freunde hatte und es für mich zunächst das einfachste war, von Berlin aus mit dem Zug nach Zürich zu fahren. Wir – Günther und ich – hatten in Berlin zur „Truppe 1931“ gehört, einem Kollektiv von Schauspielern, das gemeinsam Stücke entwickelte und spielte. Gleich Anfang 1933 wurde unser Stück „Wer ist der Dümmste?“ – der Dümmste war Hitler – verboten. Anfang März 33 machten Polzei und SA eine Razzia in unserer Wohnung. Mein Mann wurde gleich mitgenommen von der SA. Ich hatte das Glück, durch einen Polizisten verschont zu bleiben, und konnte noch in der Nacht in die Schweiz fahren.
Ich war dort mit meinem Mann verabredet, der nach wenigen Wochen Haft irrtümlicherweise – das gab es 1933 noch – entlassen wurde. Er ist nach seiner Freilassung mit dem nächstmöglichen Zug in die Schweiz gefahren. Am gleichen Abend erschien bei seinen Eltern die SA, um ihn wieder abzuholen, aber er war zum Glück schon in Sicherheit.
Wir hatten abgemacht, uns mit der „Truppe 1931“ in Paris zu treffen. Gemeinsam mit meinem Mann bin ich also nach Frankreich gefahren. Am 14. Juli 1933 waren wir dann in Paris und sind dort geblieben, bis 1939 der schreckliche Zweite Weltkrieg ausbrach. Bei Kriegsausbruch wurden wir wieder mal verhaftet und kamen ins Gefängnis, mein Mann in die Santé und ich nach der Roquette, die heute zum Glück nicht mehr existiert. Da haben wir ein paar Monate gesessen, und dann wurden wir Frauen in das Lager Rieucros in der Nähe von Mende gebracht, wo ich dann fast zwei Jahre war. Eigentlich wollten wir nach Nordamerika gehen, aber die Staaten traten in den Krieg gegen Nazideutschland ein und nahmen keine neuen Deutschen mehr auf. Da hatten wir das große Glück und bekamen durch das Eingreifen von Anna Seghers und Bodo Uhse ein Visum für Mexico. Wir fuhren also dorthin und blieben fünfeinhalb Jahre.
War Ihre Übersiedlung nach Mexico 1941 eine bewußte Entscheidung? Wollten Sie nach Mexico?
Wir konnten uns überhaupt nicht entscheiden, es war unmöglich auszuwählen. Wir waren glücklich, daß wir die Möglichkeit hatten, nach Mexico zu gehen. Natürlich sind wir gerne nach Mexico gegangen, wir haben nicht etwa Hemmungen gehabt, nein, wir waren an und für sich sogar glücklich, nicht nach Nordamerika zu gehn, weil wir fanden, Mexico sei eben doch ein etwas unbetretener Boden.
Die kommunistischen und linken Emigranten und Emigrantinnen haben in Mexico neben der Gründung der Bewegung „Freies Deutschland“ und der gleichnamigen Zeitschrift vielfältige kulturelle Aktivitäten entwickelt, bei denen Sie eine wichtige Rolle spielten. Könnten Sie darüber etwas erzählen?
Wir haben in Mexico den Heinrich-Heine-Club gegründet. Das war – sagen wir mal – ein literarischer Club, der sich zur Aufgabe machte, wenigstens alle 14 Tage eine kulturelle Veranstaltung zu organisieren: entweder eine Lesung aus einem Buch, das noch nicht herausgekommen war, oder aus einem Buch, das anderswo in der Emigration erschienen war, einen Vortrag zu einem kulturellen Thema, und wir spielten auch kleine Szenen, aber auch ganze Theaterstücke. Der Heine-Club war ein wichtiger Treffpunkt deutschsprachiger Emigranten, nicht nur von Deutschen, sondern auch von Österreichern, Ungarn, Franzosen, die ein wenig deutsch konnten. Und es gab auch eine Reihe von Mexikanern, die deutsch sprachen, denn es gab immer eine ausgezeichnete deutsche Schule in der Stadt Mexico, eine sehr gute Schule. Die Vorsitzende des Heine-Clubs war übrigens Anna Seghers.
Sie hatten im Heine-Club eine feste Theatergruppe. Wie haben Sie diese Gruppe organisiert, waren die anderen auch Berufsschauspieler?
Wir haben mit Berufsschauspielern, die ebenfalls nach Mexico emigriert waren, angefangen und haben dann selbstverständlich Leute dazugenommen, die vollkommene Laien waren. Viele dieser Laienschauspieler haben uns übrigens später oft gesagt und geschrieben, daß das Theaterspielen für sie in der Emigration ein wichtiger Halt war. Wir haben quer durch den Gemüsegarten der Literatur gespielt. Angefangen haben wir z.B. mit so etwas wie Woyzeck von Büchner, wir haben auch die Dreigroschenoper gespielt. Ganz verschiedene Dinge haben wir gemacht, eigentlich mit großem Erfolg. Und es waren wirklich alle Emigranten beglückt, daß es uns gab. Natürlich hat jeder versucht, Spanisch zu lernen, manche konnten es sehr gut, manche konnten es sehr schlecht, trotzdem waren sie alle glücklich, der deutschen Sprache und Literatur zuhören zu können. Es waren ja eine ganze Reihe von Schriftstellern und bekannten Leuten, die dort mitgemacht und sich engagiert haben, außer Anna Seghers noch Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Bodo Uhse.
Ich habe kürzlich einiges über die antifaschistische Frei Deutsche Bühne in Buenos Aires gelesen und dabei erfahren, wie schwer es angesichts der begrenzten Zahl deutschsprachiger TheaterinteressentInnen war, einen Spielplan zu gestalten – die Theaterstücke fanden oft nur ZuschauerInnen für drei Vorstellungen –, aber in Buenos Aires gab es immerhin einige zehntausend deutschsprachige EmigrantInnen. In Mexico war die Zahl doch erheblich kleiner, oder?
Wir haben manchmal ein Stück nur einmal gespielt, zwei- bis dreimal war eigentlich üblich, mehr war ganz selten. Also an und für sich – das möchte ich betonen – war es für niemanden ein Brot, das war im besten Fall ein Zubrot, wir haben aber nicht davon leben können.
Wovon haben Sie in Mexico gelebt?
Wir lebten am Anfang davon, daß wir eine Bibliothek, also eine Leihbibliothek hatten…
…mit spanischsprachigen Büchern?
Nein, nur mit deutschen Büchern. Und da kamen eben auch hauptsächlich Deutsche hin, und da wir überhaupt keinen Geschäftssinn entwickeln konnten, weder mein Mann noch ich, haben wir die Leute immer noch zum Tee oder Kaffee eingeladen und mit denen dann über die Bücher, die sie sich ausgeliehen hatten, geschwätzt. So konnten wir auf keinen grünen Zweig kommen, aber wir kamen doch irgendwie gerade so rund und mußten keine Schulden machen. Unser Geschäft war gleichzeitig auch unsere Wohnung. Wir hatten einen großen schönen Raum, in dem wir abends auch schliefen, und mein Sohn hatte ein großes Zimmer, das war alles. Später habe ich verschiedene Arbeiten gehabt, hauptsächlich habe ich Pflege gemacht. Ich habe Kranke gepflegt, nachts habe ich an Krankenbetten gesessen und versucht, die Menschen bis zu ihrem Tode zu begleiten, es ihnen zu erleichtern. Meistens handelte es sich um Zuckerkranke, es war sehr schrecklich. Dann habe ich Kinder gepflegt bzw. auf sie aufgepaßt. Oder ich habe große vornehme Häuser verwaltet. Die reichen Leute sind in die Vereinigten Staaten gefahren, und ich habe derweil ihre Häuser in Ordnung gehalten, mit den Kindern und allem, was drinne war. Mein Mann arbeitete bei einem Polen, der sehr schöne Arbeiten in Gold und Silber – Heiligenmedaillons – anfertigte. Mein Mann hat die ausgeliefert und zu den Kunden gebracht.
Nach den Schilderungen Ihres Buches haben Sie recht gut spanisch gesprochen?
Ja, verhältnismäßig. Es war nicht so schwer, da ich ja ein recht gutes Französisch sprach.
Aber Sie haben nicht in Spanisch Theater gespielt?
Nie.
Sie haben es auch gar nicht versucht?
Wir haben es auch gar nicht versucht. Mein Mann hat einmal gefilmt, da hat er aber einen Deutschen gespielt, einen, der einen deutschen Akzent haben mußte. Wir haben es nie gewagt, spanisch zu spielen, ich jedenfalls nicht. Meine Freundin Brigitte Alexander, die sprachlich hochbegabt war und in Genf in mehreren Sprachen erzogen worden war, hatte das Glück, mit der spanischen Sprache überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben. Sie ist später in Mexico geblieben – ihr Mann war dort gestorben, und sie saß da mit drei Kindern und konnte es sich finanziell nicht leisten, wieder zurück nach Deutschland zu gehen – und hat dort als Schauspielerin gearbeitet. Ihre Tochter Susana ist übrigens heute eine der besten Schauspielerinnen Mexicos.
Nach dem, was Sie erzählen und was Sie auch im Buch beschreiben, war ja die Zeit in Mexico sehr wertvoll für Sie…
…unbedingt, ich habe etwas gesehen, was ich in meinem Leben nicht vergessen werde und was ich auch sicherlich nicht hätte sehen können, wenn mein Leben normal verlaufen wäre.
Was hat Sie so beeindruckt an Mexico?
Also vor allen Dingen alles, was historisch da war, die ungeheure Kultur, die die Indios vorher gehabt haben, bevor die Spanier alles kaputtgemacht haben. Überall, auf jedem Berg, auf dem eine Kirche stand, stand eigentlich ein Tempel. Das ist alles zerstört worden, das ist alles kaputtgemacht worden. Die Spanier waren wie die Wahnsinnigen hinter dem Gold her, haben alles ausgeraubt, und dabei fiel für den lieben Gott – die Kirche – auch noch etwas ab. Das ist ein Schmäh, also schrecklich, wie es heute entschuldigt wird, daß sie so viele Leute getötet haben, ihnen alles gestohlen haben, alles zerstört haben, was sie aufgebaut hatten, was oft viel mehr wert war als das, was sie selber an Kultur mitbrachten. Als sie Lateinamerika vor fünfhundert Jahren besetzten, haben sie entsetzlich gehaust und die wirklichen Werte kaputtgemacht. Was nicht zerstört wurde an vorkolumbianischer Kultur, was erhalten ist an Bauwerken, an Gegenständen und Kunstwerken, ist faszinierend. Auch die wissenschaftlichen Leistungen, die Architektur, die Mathematik oder dieser wunderbare aztekische Kalender sind ja einmalig in der Welt. In Mexico gibt es ein wunderbares anthropologisches Museum, dessen Besuch ich jedem empfehle, wenn er in der Stadt Mexico ist. Es ist einmalig, was sie da gesammelt haben an Schätzen. Man bekommt auf jeden Fall Achtung vor der Kultur, die da einmal war. Noch heute tun die Weißen so, als seien sie die Glücksbringer für die noch vorhandenen Indios, wobei es schändlich ist, wie sie die Indios auch heute noch behandeln.
Wir haben öfters Reisen in Mexico gemacht, wir sind viel herumgefahren. Alle haben uns immer wieder davon abgeraten. Sie meinten, wir würden noch überfallen und totgeschlagen, weil wir die einfachen Autobusse genommen haben, die die Indios benutzten, um von ihrem Pueblocito (kleinem Dorf) in die Stadt zu fahren. Wir hatten ja kein Geld, wir waren wirklich arme Leute. In den Bussen wurde alles mitgenommen, auch lebende Hühner oder sonstige Tiere, alles möglich fuhr da mit. Wir haben dabei keine schlechten Erfahrungen gemacht, ein einziges Mal habe ich einem mitreisenden Indio gesagt, er solle seine Hand aus meiner Tasche nehmen, und der ist dann abgesprungen, fertig. Aber das war das einzige Mal, sonst waren sie alle redlich, freundlich und wir haben etwas gesehen.
Wir sind nicht nur mit diesen Autobussen gefahren, manchmal haben uns auch Freunde, die selbst interessiert waren an dem Leben draußen, in ihren schicken Autos mitgenommen. Wir haben wirklich sehr viel gesehen und sind viel herumgekommen.
Haben Sie während ihrer Zeit in Mexico daran gedacht, ganz da zu bleiben, oder war es für Sie immer klar, daß Sie zurück nach Deutschland gehen, wenn der Faschismus besiegt ist?
Uns war eigentlich immer klar, daß wir nach Hause gehen, wenn der Faschismus besiegt wird, weil wir, wie gesagt, als Schauspieler abhängig von der Sprache sind und wir doch gerne wieder in unserem Beruf tätig sein wollten.
Wann sind Sie aus Mexico zurückgekehrt?
Wir sind erst 1947 aus Mexico zurückgekommen, weil wir zunächst von dort nicht wegkamen. Die Amerikaner wollten uns nicht helfen, sie schickten ihre Schiffe so gut wie leer nach Deutschland oder überhaupt nach Europa, um ihre Soldaten abzuholen. Uns hätte ja schon irgendein Hafen in Europa gereicht, in Frankreich oder England, das wäre uns egal gewesen, wir wären schon weitergekommen. Sie haben uns nicht mitgenommen, weil wir nicht in die amerikanische, sondern in die sowjetische Zone in Berlin wollten. Unsere letzte Wohnung in Berlin war am Breitenbachplatz gewesen. Und dieser Breitenbachplatz war amerikanische Zone, also ihr Gebiet. Und immer fragten sie, warum wir in die sowjetische Besatzungszone gehen wollten. Wir sagten, weil dort alle Theater seien und wir von Gustav von Wangenheim, dem damaligen Direktor des Deutschen Theaters, eingeladen wären, dorthin zu kommen. Außerdem wollten wir nicht zurück zum Breitenbachplatz, wo wir verhaftet worden waren. Das haben sie nicht akzeptiert, und so mußten wir warten, bis wir 1947 mit einem sowjetischen Frachter die Rückreise antreten konnten.
Haben Sie nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland, in die DDR, sofort wieder als Schauspielerin gearbeitet?
Ich bin ans Deutsche Theater gegangen und konnte sofort in dem Stück „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ von Brecht, das wir in Paris uraufgeführt hatten, mitspielen. Das war sonderbar, sehr sonderbar, aber es hat mich sehr gefreut. Und mir war es sehr komisch, daß die Zuschauer, die Deutschen, an Stellen gelacht haben, wo es eigentlich gar nichts zu lachen gab. Erst nachher ist mir klar geworden, daß sie aus Verlegenheit gelacht haben, sie konnten sich gar nicht anders helfen. In bestimmten Szenen, etwa beim Spitzel, haben sie einfach gelacht, man konnte vielleicht etwas das Gesicht verziehen, aber laut lachen war da überhaupt nicht drin. Es war ja – wie soll ich sagen – ein schrecklicher Hintergrund.
Sie haben im Oktober 1989 eine rote Fahne mit Trauerflor aus Ihrer Wohnung herausgehängt und haben sich für demokratische Veränderungen in der DDR engagiert. Wann haben Sie das Gefühl bekommen, daß Sie sich engagieren müßten, daß Sie etwas tun müßten?
Ach wissen Sie, ich habe in meiner eigenen Parteiorganisation ungeheuer früh immer ausgesprochen, was ich dachte. Ich war dafür berühmt, aber die Partei hat nie eingegriffen, wahrscheinlich weil ich es nur in diesem Rahmen gesagt habe. Ich habe keine oppositionelle Gruppen zusammengestellt und dort gearbeitet, keineswegs. Ich habe dort, wo es hingehörte – wo ich meinte, daß es hingehörte –, meine Meinung gesagt, auch meine sehr gegenteilige Meinung der Partei gegenüber, und mir ist nie etwas passiert. Das hat mich allerdings sehr gewundert. Natürlich, ich bin eine Genossin von 1931, ich kannte Wilhelm Pieck persönlich – das war ja damals keine besondere Nummer, da konnte jeder die Leute kennen –, ich kannte Ulbricht, Dahlem. Heute, nach allem, was geschehen ist, nehme ich mir entsetzlich übel – und das habe ich auch öffentlich gesagt –, daß ich nicht wußte, was für einen Einfluß ich hätte haben können. Wenn ich mich direkt an das Zentralkomitee gewandt hätte, um ihnen Bescheid zu sagen, wäre das wahrscheinlich viel besser gewesen, als das nur in meiner Parteigruppe zu tun. Ich habe meinen Parteisekretär bei den Versammlungen immer gefragt, ob ich zu schnell spräche, denn sobald ich den Mund aufmachte, begann er mitzuschreiben, und ich bot ihm an, langsamer zu sprechen, wenn er länger brauche. Die ganze Gruppe lachte dann, die kannten mich schon.
1968 war ich zur Olympiade in Mexico – ich war nicht nur deswegen eingeladen, sondern auch aus anderen Gründen –, ich wurde damals 60 Jahre und durfte also ins Ausland fahren. Und da bin ich 1968 nach Mexico gefahren. Während dieser Zeit gab es den Einmarsch in der Tschechoslowakei. Ich habe darüber in Mexico nur sehr bruchstückhafte Informationen bekommen. Als ich zurückkam, wurde mir als erstes von der Partei gesagt, ich solle zu den tschechischen Ereignissen Stellung nehmen. Ich habe damals gesagt, ich sei in Mexico gewesen, hätte wenig Zeitung gelesen, aber eines müßte ich gewiß sagen, nämlich daß ich es entsetzlich fände, daß wieder einmal Deutsche in Naziuniformen an die Grenze der Tschechoslowakei gegangen seien und sogar über die Grenze, in denselben Uniformen, in denen sie schon einmal in die Tschechoslowakei einmarschiert waren.
In Naziuniformen?
Natürlich, die deutschen Uniformen wurden doch nie geändert, die DDR hatte doch gar kein Geld, das waren noch immer die alten Wehrmachtsuniformen, erst sehr spät haben wir die Uniformen geändert.
Viele BürgerInnen der ehemaligen DDR, die sich 88/89 für die gesellschaftliche Demokratisierung eingesetzt haben, haben das ja eigentlich getan, weil sie eine andere, bessere DDR wollten und einen anderen Sozialismus…
…so ist es.
…es ist dann ganz anders gekommen.
…la leider. Damals, als ich auf dem Alexanderplatz sagte: „Abtreten!“, da meinte ich nicht, daß Herr Schabowski oder Herr Krenz drankommen sollten, das nicht. Mit Herrn Krenz hatte ich schon gar nichts zu tun, einem Mann, der noch fünf Minuten vor zwölf nach China fährt, um den Leuten dafür zu gratulieren, wie sie mit ihren Studenten fertig geworden sind. Solchen Leuten kann ich nicht trauen, vertrauen schon gar nicht, und von denen will ich auch nichts wissen. Also ich dachte, die kommen bestimmt nicht ran, sondern ich hoffte, daß überhaupt das gesamte Zentralkomitee, so wie es damals war, abtritt und dafür etwas ganz neues kommt, ein Gremium, in dem vor allem sehr viele junge Menschen drin sein sollten und solche älteren Leute wie der Stefan Heym, auf die man ja absolut rechnen konnte. Bei dem, wie es gekommen ist, bin ich sozusagen ohne Stimme gewesen. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß die Leute wirklich in Massen Herrn Kohl wählen würden, echt wählen würden, daß sie so dumm wären, auf diese Propaganda reinzufallen und dem Kohl nachzulaufen. Ich bin entsetzt, ich bin wirklich entsetzt.
Die Deutschen haben eine ganz entsetzliche Eigenschaft, immer ist der oben schuld, sie selber, der Einzelne nie. Wie wir 1947 nach Deutschland kamen, war keiner ein Nazi gewesen. Wir wußten ja, daß die große Mehrheit hinter Hitler gestanden hatte, wir haben nie geglaubt, daß es 99% waren, wie die Nazis behauptet hatten, das war Quatsch, aber 75% oder 80% waren es gewiß. Aber nachdem Hitler geschlagen war, hatten sie alle nichts damit zu tun gehabt. Zwei Leute haben mir gegenüber gesagt, daß sie richtige Nazis waren und auch daran geglaubt hätten, das waren ganz junge Leute. Die waren mir soviel lieber als die anderen, die alle sagten: „Aber wir doch nicht.“
Frau Spira, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.