In der ila 365 (Mai 2013) hatten wir Luiz Ruffatos Romane „Es waren viele Pferde“ und „Mama, mir geht es gut“ vorgestellt, dichte literarische Collagen, die der Leserin und dem Leser einiges abverlangen. Als ich mir jetzt den kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenen Roman „Ich war in Lissabon und dachte an dich“ vornahm, hatte ich erneut ein eher schwieriges, die soziale Realität radikal sezierendes Buch erwartet. Doch der neue Ruffato ist ganz anders – und auch wieder nicht.
Die soziale Sensibilität und der scharfe Blick auf gesellschaftliche Widersprüche, die das Werk des brasilianischen Autors auszeichnen, prägen auch dieses Buch, geht es doch um die Erfahrungen eines brasilianischen Einwanderers, der versucht, ohne Papiere in Lissabon zurechtzukommen. Aber sind es in den anderen Büchern sehr knappe Textpassagen, die sich – vielleicht – in den Köpfen der LeserInnen zu einer Erzählung zusammensetzen, gibt es hier eine zusammenhängende Geschichte. Zumindest vordergründig. Sérgio de Souza Sampaio (Serginho) aus Cataguases im Bundesstaat Minas Gerais erzählt in dem kurzen Roman, wie sein Leben in Brasilien immer komplizierter wurde. Seine Frau wurde psychisch krank und schließlich in die Psychiatrie eingewiesen, er verlor seine Arbeit und hatte zu allem Überfluss auch noch Probleme mit der Verwandtschaft. Aus einer spontanen Laune heraus verkündete er eines Tages, alles hinter sich lassen zu wollen und sein Glück in Portugal zu machen. Erst einmal ausgesprochen, entwickelte die Idee, es in Europa zu versuchen, eine Eigendynamik. Serginhos NachbarInnen und sein soziales Umfeld gratulierten ihn zu seinem mutigen Entschluss und ermunterten ihn, nun auch Taten folgen zu lassen. Irgendwann glaubte er, nicht mehr zurück zu können, und buchte den Flug nach Lissabon.
Natürlich ist dort alles viel komplizierter, als er es sich vorgestellt hatte. Er kommt in einer schäbigen Pension unter und weiß kaum, wie er satt werden soll. Über Kontakte zu anderen MigrantInnen bekommt er seinen ersten Job als Hilfskellner. Als er den wieder verliert, geht es ihm erneut ziemlich dreckig, bis er als Hilfsarbeiter beim Bau unterkommt.
Sein Traum, in Lissabon Geld zu sparen und dann als „gemachter Mann“ nach Brasilien zurückkehren zu können, entpuppt sich als Seifenblase. Er muss froh sein, wenn er in Portugal halbwegs über die Runden kommt, um wenigstens den Unterhalt für seinen Sohn überweisen zu können. Auf der Suche nach etwas menschlicher Wärme lernt er eine brasilianische Prostituierte kennen, in die er sich verliebt. Aber auch dieser Traum zerplatzt. Die Frau bringt ihn dazu, die Bürgschaft für einen Kredit zu übernehmen und taucht dann ab. Neben seinen anderen Problemen muss er sich danach auch noch vor ihrem Zuhälter/Geldverleiher verstecken, dem er als Sicherheit seinen Pass überlassen hat.
Also insgesamt ein eher düsteres Panorama, das sich aber durch die spezielle Erzählweise Serginhos/Ruffatos durchaus unterhaltsam liest. Selbst die bittersten Erlebnisse enthalten soviel Situationskomik, dass man als LeserIn immer wieder geneigt ist zu schmunzeln.
Serginhos Darstellungen haben etwas von Charlie Chaplin. Das meiste, was er anfasst, geht schief. Doch wie bei dem gesellschaftskritischen US-Filmkomiker ist es auch bei Serginho weniger das eigene Unvermögen als die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die dem „Helden“ keine Chance lassen.
Als Vorbemerkung schreibt Luiz Ruffato, das Buch sei „die nur leicht bearbeitete Niederschrift“ von vier Gesprächen, die er im August 2005 mit Sérgio de Souza Sampaio in Lissabon geführt habe. Ob das so war, weiß man nicht. So dicht wie der Text daherkommt, ist zumindest die Behauptung, die Niederschrift sei nur „leicht bearbeitet“, Koketterie eines sprachmächtigen Autors. Es ist durchaus möglich, dass die gesamte Vorbemerkung ein literarisches Bild ist, ähnlich den Romanen, in denen die AutorInnen auf der ersten Seite schreiben, sie gäben im Folgenden ein altes vergilbtes Manuskript wieder, das ihnen irgendwo durch Zufall in die Hände gefallen sei.
Wenn jemand, wie Serginho in dem Buch, munter drauflos schwadroniert und dabei von einem Thema zum anderen springt, sagt man im Rheinland auch, „der redet ohne Punkt und Komma“. Und genauso hat Ruffato den Roman geschrieben. Kommas findet man im Text kaum, Punkte oder Absätze immer erst nach mehreren Seiten. Das klingt dann doch nach schwerer literarischer Kost, aber die originelle Sprache von Serginhos Redefluss überdeckt, dass der Autor seinen Roman letztlich so aufgebaut hat wie seine anderen Bücher auch, nämlich als geschickt kombinierte Folge vieler kleiner Episoden und Momentaufnahmen. Ein starkes Buch und eine große Leistung des Übersetzers Michael Kegler, der die besondere Sprache Serginhos und den ganz eigenen Humor wunderbar im Deutschen rüberbringt.