Trauerfeier-Joints, radikale Einsichten und sexfreudige Tanzwut

Zu Beginn ihrer Bandkarriere wurden sie einmal im Fernsehen ausgebuht, als „dreckige Lesben“ beleidigt, beworfen und angespuckt. Schließlich mussten sie vor laufender Kamera aus dem Studio gerettet werden. Das war im Jahr 2008. Anno 2019 kommen sie zum sechsten Mal auf Europatournee und treten am Kölner CSD-Wochenende auf der Hauptbühne auf. Die Rede ist von der argentinischen All-Girls-Band Kumbia Queers (siehe auch ila 305 und 388), mittlerweile routinierte, mit allen Wassern gewaschene grandiose Liveunterhalterinnen. Ihr Witz, ihre neckische Bissigkeit und Spielfreude sind ungebrochen. Nun beschenken uns die fünf Argentinierinnen mit einem neuen Album. Das vor kurzem erschienene La oscuridad bailable („Die tanzbare Dunkelheit“) bleibt grosso modo der Cumbia treu, integriert aber neue Sounds und sorgt für erheiternde Wiedererkennungseffekte.Ein idealer Opener ist das geradlinig kraftvolle Cumbia-Stück Ella no quiere hablar conmigo über die kommunikativen Irrwege nach einer gescheiterten Beziehung. Track 2 dann mit einer schönen Überraschung: Bhangra goes Cumbia! Hier wird gekonnt der markante Drei-Noten-Riff des Songs Mundian to Bach Ke von Panjabi MC aus den späten 90ern verwurstet, wunderbar auch der Text dazu: „Eigentlich wollte ich einen Protestsong schreiben“, aber nach dem Genuss gewisser Substanzen fällt der Bezug zur Realität schwer, sodass es dann doch wieder ein Partysong wird – den wir nicht missen wollen! Weiter geht’s mit dem sphärischen Cuándo te vas, gefolgt vom amüsanten No me digas señora: „Nenn mich nicht Señora/jedes Mal, wenn du das tust/weint mein Herz/es weint und weint/Siez‘ mich bitte nicht/meine Zeit ist jetzt.“ Mit Viral folgt ein Track, der sich erneut kongenial älteren Soundmaterials bedient, im Refrain heißt es Buenos Aires sobre todo; hier wird auf „California über alles“ von den Dead Kennedy angespielt und sich über die von Spardiktat und Repression geprägte Politik der Gouverneurin María Eugenia Vidal ausgekotzt. Düstere Tanzbarkeit at it’s best. Sängerin Juana Chang erklärt dazu im argentinischen Online-Kulturportal Vos: „Auf dem Album gibt es alles Mögliche; es ist vielleicht etwas düsterer als sonst, aber wir sind sehr glücklich damit, weil es uns gut repräsentiert. Aber es soll auch verstehen helfen: Wo Licht sein soll, muss es auch Schatten geben.“ Schlüssig von daher auch der Beerdigungssong Despedida, der quietschig fröhlich mit psychedelischen Synthies daherkommt, die Gesangslinie im Refrain verkündet schrill andin: Wenn ich von dieser Welt gehe, weint nicht – kommt friedlich zusammen, trinkt, tanzt und kifft! Das Texten muss ein Riesenspaß gewesen sein, angesichts ungewöhnlicher Reimverbindungen wie Porro und Crematorio (Joint und Krematorium) oder Jolgorio und Velorio (Gaudi und Totenwache). Das darauf folgende druckvolle Stück La Duda wird von einem einprägsamen, nach Swing klingenden Klavierlauf gerahmt und thematisiert notorische Entscheidungsunfähigkeit. Ellos dicen Mierda ist eine weitere Verneigung vor den musikalischen Wurzeln der Kumbia Queers. Hier covern sie ein wütendes Stück der legendären baskischen Punkrockband La Polla Records. Zu guter Letzt hat im Song Rara die argentinische Transikone, Sängerin und Schauspielerin Suzy Shock einen Gastauftritt.

Eine ähnliche Mischung aus partytauglichen Spaßstücken und gesellschaftskritischer Wut ist auch bei den beiden Brüdern Caramelo und Paco Mendoza von Raggabund zu finden (siehe auch ila 369 und 387), die mit „Alles auf Pump“ nach drei Jahren wieder ein Studioalbum veröffentlicht haben. Allerdings überwiegt die Wut, die Texte sind dieses Mal, vielleicht wegen eines dringlicheren Mitteilungsbedürfnisses, überwiegend auf Deutsch. Eingangstrack „Radikala“ ist direkt ein ungewohnt rockiges Manifest gegen Rechtsruck, Faschos, Neoliberale und Klimaleugner. Live gespielt wird das bestimmt DER Konzertknaller. Sogleich danach tönt es ironischer, im gechillten Reggae-Stück „Wunderbar“: „Oh ja, es ist alles wunderbar/und es wird immer wärmer Jahr für Jahr.“ Track 3 dann der Tanzflächenkracher „Oxígeno“, dessen Anfangsriff an Manu Chao in seinen besten Zeiten erinnert. Eine sehr geile Mestizo-Electro-Cumbia, zu der die argentinische Musikerin Kali Sandoval einige gerappte Zeilen beisteuert. „Alles auf Pump“ ist ein geschmeidig groovender Reggae, „Angst“ hingegen ein mit fetten Bläsern versehener langsamer Reggae mit der eindringlichen Warnung „Die Angst darf uns nicht regieren.“ Auf die Ballade „Grenzenlos“ folgt mit dem Ragga-Stück „Alarm“ eine weitere Tanznummer, inklusive Gastauftritt von Raggabund-Kollege De Luca: „Raggabund weiß genau wie’s geht/alle springen bis die Erde bebt/wir machen durch bis zum Untergang/denn nur Feuer ist am Brennen und wir schlagen Alarm.“ Nach so viel Alarm bringen „Plakatwand“ und das Instrumentalstück „Pump Lazer Dub“ sommerliche Entspannung. Schlussendlich der Song „Eigentlich“, der aus der wiederholten Feststellung besteht: „Eigentlich wollte ich schon immer gehen, doch es ist so wunderschön.“ Sehr sweet. Und ein perfekter Abschluss.

Weniger sonnig-gemütlich ist die Chilenin Tomasa del Real unterwegs (siehe auch „Das Alphatierchen schnurrt jetzt manchmal“ in ila 416). Die Pionierin des Neoperreo hat nun mit TDR ihr drittes Album veröffentlicht. Sie definiert das Genre, für das sie selbst den Begriff geprägt hat, als „tanzbar, latino, neu“. Die meisten der zehn neuen Stücke sind Reggaetón-Tracks im härteren Stil der 2000er-Jahre, allerdings mit der zeitgenössischen Autotune-Ästhetik versehen. Neoperreo, Bailoteo. Ella quiere culiar sowie Perrea Conmigo (zu dem Reggaetón-Urgestein DJ Blass ein räudiges tra tra, dale hasta abajo hinrotzt) verhandeln explizit sexuelle Fragen, wie Tomasa del Real auch im Info zum Album erklärt: „Ideen, die früher zensiert wurden, wie etwa die Tatsache, dass Frauen Sex genauso genießen können wie Männer.“ In einem Interview mit der Musikzeitschrift Rolling Stone redete sie letztes Jahr erfrischend Klartext: „Frühere Latin-Pop-Idole wie Chayanne und Ricky Martin sangen von diesen fantastischen Liebesgeschichten, die niemand, den ich kenne, selber so erlebt. Und dann taucht plötzlich diese Musik auf, die echt ist, von der Wirklichkeit der singenden Person erzählt, womit sich die Leute mehr identifizieren. Unsere Generation ist gelangweilt von den Fantasiestories, den Filmen über die ideale Liebe und den charmanten Prinzen.“ Also lieber gleich zur Sache gehen. Und das tut die Musikerin, die aktuell auch in den USA Auftritte hat, zur Genüge. Da dürfen die für den Reggaetón so typischen Duro-Ausrufe natürlich nicht fehlen, ebenso wenig die Beschreibungen, wer ihr alles so gefällt und auf welche Art und Weise sie es am liebsten tut … Ein bisschen Abwechslung in die letztlich doch recht einseitige Thematik – auch musikalisch – bringen der langsame Trap Tu Perdición und das treibende Baile-Funk-Trap-Stück Los dueños del Neoperreo, die beide von Gast-Rappern angereichert werden. Contigo ist ein softerer, fast schon romantischer Reggaetón. Quiere que me tape verhandelt Paardifferenzen im Hinblick auf Style: „Wenn ich rausgehe/will er, dass ich mich bedecke/er sagt, dass ich zu viel zeige/und dass das nur für ihn ist.“ Freizügig ist die Dame allemal. Das kann abschrecken oder verunsichern, was Tomasa de Reals Musik aber vor allem bewirkt: Es geht direkt in die Tanzbeine. Und fordert eindringlich zum heftigen Arschwackeln auf.