Der neue Roman der argentinischen Autorin Claudia Piñeiro, „Ein wenig Glück“, ist kein Krimi. Anders als in „Ganz die Deine“, „Die Donnerstagswitwen“ oder „Der Riss“, in denen Mordgeschichten das Vehikel für Kritik an der argentinischen Gesellschaft abgeben, geht es hier wie auch schon in dem Roman „Elena weiß Bescheid“ um Traumabewältigung.
„Die Schranke war unten. Sie bremste, vor ihnen standen schon zwei Autos. Die Signalglocke unterbrach die Nachmittagsstille. Ein rotes Licht blinkte über dem Schild ,Bahnübergang‘.“ Wie ein Leitmotiv zieht sich diese Szene durch das Buch. Es kommt kein Zug. Ein erstes Auto umkurvt die Schranke und fährt rüber, dann folgt ein zweites. Drei, fünf, acht Minuten, es kommt kein Zug.
María Elena, Marilé genannt, will mit ihrem sechsjährigen Sohn Federico und seinem Schulfreund Juan ins Kino. Sie hat die beiden im englischen St. Peter’s College in Temperley im Süden von Buenos Aires abgeholt. Sie sind spät dran, in fünf Minuten fängt der Film an. Sie gelangen zu jenem Bahnübergang, an dem alle, die den Übergang kennen, rüberfahren, weil der Zug immer eine Ewigkeit auf sich warten lässt. Also fährt Marilé los, wie sie es immer tut, sie schaut nach rechts und links, „aber in dieser Richtung konnte man nur etwa zweihundert Meter weit sehen, dahinter machten die Gleise eine Kurve. Doch das reichte, damit ein Auto die Schranke umkurven konnte. Wenn das Auto nicht mitten auf den Gleisen stehen blieb.“
Verzweifelt versucht Marilé wieder und wieder den Wagen zu starten. Vergeblich. Dann hört sie das Pfeifen des Zuges. Sie reißt die Tür auf, holt ihren Sohn raus, der hinter ihr sitzt, doch die Tür auf Juans Seite ist verriegelt. Er zieht den Knopf nicht hoch, reagiert panisch, schreit, heult und trampelt. Auch Marilés Versuch, Juan über die andere Tür aus dem Wagen rauszuziehen scheitert. Bevor sie ganz um das Auto herumgehen und sich der Tür nähern kann, kommt der Zug und reißt das Auto und Juan mit sich. Ein Auto, das unter einem Zug verschwindet, zu einem Klumpen Blech zermalmt, mit einem Kind darin.
Diese Szene dauert nur Sekunden, doch im Roman liest sie sich quälend lange Minuten, denn „die Wörter dehnen die Zeit“. Und beim Leser läuft im Kopf ein Film ab, wie bei vielen Szenen des Romans. Claudia Piñeiros spannende und plastische Schilderungen fesseln uns, wir legen das Buch nicht eher aus der Hand, bis wir das Happy End erreicht haben. Doch bis dahin passiert noch einiges.
Marilé flieht wegen der Anfeindungen in Temperley ins Ausland. Auch will sie ihrem Sohn nicht im Wege stehen: „Für immer weggehen, allen Kontakt zu Federico abbrechen, denn darüber würde er hinwegkommen – es war das geringere Übel.“ Ihr Sohn würde sein Leben leben können, sie würde alles verlieren „und weiterleben – eine schlimmere Strafe gab es nicht“.
Zwanzig Jahre später kehrt Mary, wie sie sich nun nennt, von Boston nach Argentinien zurück. Die Reise hat ihr neuer Lebensgefährte Robert kurz vor seinem Tod eingefädelt. Mary soll am St. Peter’s College in Temperley Unterricht und Arbeit des Lehrpersonals evaluieren. Doch eigentlich ist das nur ein Vorwand, damit Mary sich ihrer Vergangenheit und Schuld stellt, eine Therapie, die sie heilen soll von den Geistern der Vergangenheit, die sie immer wieder verfolgen. Und sie soll ihrem Sohn gegenübertreten, erklären, weshalb sie zwei Jahrzehnte zuvor Hals über Kopf die Flucht ergriffen und ihre Familie verlassen hat.
Der Autorin geht es um Unterhaltung, um die Leserinnen und Leser, die sich der Geschichte nicht entziehen können. Es sind die ewigen Themen der Weltliteratur, um die es im Roman geht: Leben und Tod, Schuld und Sühne, Liebe, Einsamkeit und Schmerz, Vergebung. Claudia Piñeiro entgleiten die Themen nicht, ihre Romane driften nie ins Seichte ab. Auch „Ein wenig Glück“ bietet wieder einen spannenden Plot, überzeugende Charaktere und eine klare Sprache. Diese Kombipackung sorgt für Hochspannung und höchsten Lesegenuss.