Willi, du wurdest 1922 in Trier geboren. Kannst du etwas darüber erzählen, wie du nach Montevideo kamst?
Ich komme aus einer jüdischen Familie, alteingesessene jüdische Kaufleute. Mein Vater und mein Großvater waren Pferdehändler. Trier liegt im Moseltal zwischen Eifel und Hunsrück, und die Bauern dort arbeiteten damals mit Pferden. Mein Eltern waren sehr angesehene Leute in Trier. Sie wohnten in der Nikolausstraße, wo das Haus des Großvaters stand. Als Hitler an die Regierung kam, war ich 11 Jahre alt und ging aufs Gymnasium. Nach dem, was Hitler bzw. „Der Stürmer“ über die Juden gesagt hatten, dachten viele jüdische Deutsche, daß nun für sie Schluß sei. Überraschenderweise schützte die SA zunächst das jüdische Eigentum: Vor den jüdischen Geschäften wurden z. T. SA-Leute postiert, weil man aufgrund der Demagogie und Propaganda Plünderungen befürchtete. Nach einiger Zeit hatten viele Juden den Eindruck, daß es unter den Nazis nicht so schlimm wäre, wie sie zunächst befürchtet hatten. Es kam auch die wirtschaftliche Belebung nach Beendigung der großen Wirtschaftskrise, und man glaubte, mit Hitler könne man doch irgendwie auskommen. Mein Vater war anderer Meinung. Er war im Ersten Weltkrieg gewesen, hatte ihn von Anfang bis Ende mitgemacht und wollte keinesfalls in einen zweiten Weltkrieg hineingezogen werden. Wie das im Leben so ist, gab es in Frankfurt am Main einen uruguayischen Generalkonsul, Herrn Samponario, der machte sein Geschäft mit der Erteilung von Visa. Er stellte ganz legal Visa aus, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man die Passage bei einer bestimmten italienischen Schiffahrtsgesellschaft buchte. Von der bekam er wohl seine Prozente. Mein Vater hörte von dieser Möglichkeit und entschloß sich, mit der Familie nach Uruguay auszuwandern. Uruguay war für meine Eltern absolut unbekannt, sie wußten nur, daß die Mannschaft dieses Landes 1930 die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß sie dachten, dort Indios mit Federn anzutreffen. Wir fuhren also in ein für uns völlig fremdes Land, besonders für meine Mutter war es sehr schwer, ihr bürgerliches Dasein, ihre Umwelt, ihre gut eingerichtete Wohnung, alles was ihr wichtig war, aufzugeben und aus Trier wegzugehen.
Wann habt ihr Deutschland verlassen?
Das war 1936, Ende Mai 1936 kamen wir hier in Montevideo an. 14 Tage danach trat ich eine Lehrstelle in der Karosseriewerkstatt eines Deutschen an. Ich hatte absolut keine handwerkliche Erfahrung. Aber es war ein Entschluß, ich wollte etwas Nützliches tun. Später fand ich es schon etwas schade, daß ich nicht studiert oder einen Schulabschluß gemacht hatte. Indessen war die Lehre eine ganz wichtige Erfahrung in meinem Leben. Insbesondere der Kontakt mit den uruguayischen Arbeitern war beeindruckend. Die Solidarität und die Wärme, die sie mir entgegenbrachten, einem Fremden, mit dem sie sich kaum verständigen konnten. Ich habe dort nicht nur die Sprache und einen Beruf erlernt. Die Uruguayer sind ein an Einwanderer gewohntes Volk. Sie waren mehrheitlich erst vor wenigen Generationen aus Spanien oder Italien eingewandert, das prägt sie natürlich.
Später bin ich von der Karosserie zum Motor übergewechselt. Ich lernte Autoschlosser und spezialisierte mich auf Dieselmotoren, die damals gerade hier aufkamen. Die Leute dachten, ich hätte in Deutschland gelernt. Die Uruguayer haben eine große Hochachtung vor der deutschen Technik. „Made in Germany“ gilt als der Inbegriff von Qualität. Und so war es für die Leute selbstverständlich, daß ich meine technischen Kenntnisse in Deutschland erworben haben mußte, obwohl ich alles von den älteren Kollegen hier gelernt hatte.
1938 oder 1939 lernte ich einige junge deutsche Emigranten kennen, die über Jugoslawien nach Uruguay gekommen waren, darunter Ernst Kroch, der heute regelmäßig für die ila schreibt. Sie waren auch Arbeiter und hatten enge Beziehungen zur Arbeiterbewegung. Durch sie kam ich in den Sog der Politik und dann 1941, nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, in das „Deutsche Antifaschistische Komitee“ in Montevideo. Das Komitee hatten deutsche Kommunisten gegründet, einer der Initiatoren war ein Hafenarbeiter aus Hamburg, Willi Eckermann. Das war ein Arbeiter, wie er im Buche steht, so wie Lenin sich einen gebildeten Arbeiter vorgestellt hatte. Ein Arbeiter mit politischer Bildung, mit Kultur, mit Organisationsfähigkeit. Das Komitee war aus dem hervorgegangen, was die deutschen Arbeiter hier vorher geschaffen hatten, einen deutschen Arbeiterclub und ein Komitee zur Unterstützung der Spanischen Republik. Die Spanische Republik zu unterstützen war in Uruguay eine regelrechte Massenbewegung. Viele Leute gingen nach Spanien, um gegen die Faschisten zu kämpfen, sogar aktive Militärs, die deswegen hier aus der Armee ausschieden. Auch Mitglieder des Solidaritätskomitees deutscher Arbeiter machten sich von hier auf, um sich den Internationalen Brigaden anzuschließen. Ich habe später einen davon bei einem Besuch in der DDR getroffen. Er hieß Bremer. In Montevideo war er Arbeiter bei Siemens gewesen, als die Telefonleitungen in Uruguay gelegt wurden. Von hier ging er nach Spanien, wurde nach der Niederlage der Republik in Frankreich interniert, fiel dort den Nazis in die Hände, kam ins Konzentrationslager, überlebte und wurde später in der DDR Ingenieur. Ich führte mit ihm ein Interview und schrieb darüber eine Story. Eine ähnliche Geschichte hatte Paul Weißmann. Diese beiden Namen stehen für andere deutsche Arbeiter hier, die in Spanien für die Verteidigung der Republik kämpften. Angehörige dieses Spanienkomitees deutscher Arbeiter bildeten später den Kern des deutschen antifaschistischen Komitees. Wie eine Reihe anderer Emigranten schlossen wir uns diesem Komitee an. Das Komitee integrierte sich in eine breite antifaschistische Dachorganisation, die „Acción Antinazi“, in der sozialistische, kommunistische, christliche, bürgerliche und gewerkschaftliche Gruppen vereint waren, um den Kampf der Alliierten gegen Nazideutschland und seine Verbündeten zu unterstützen. Da wurden z. B. in einer kleinen Schuhfabrik Stiefel für die Rote Armee hergestellt. Die Fabrikbesitzer stellten die Maschinen zur Verfügung, die Arbeiter ihre Arbeitskraft und Kenntnisse, und das Material wurde z. T. noch von den Fabrikbesitzern gespendet oder zu billigen Preisen erstanden. Ähnliches gab es in der Textilbranche, wo z. B. Verbandszeug hergestellt wurde. Es war wirklich eine breite Solidaritätsbewegung, und wir arbeiteten da als deutsche Antifaschisten mit.
Eckermann, der Leiter des deutschen antifaschistischen Komitees, hatte gewisse Schwierigkeiten mit der Leitung der Kommunistischen Partei Uruguays, obwohl er deutscher Kommunist war. Rückblickend war das ein Vorteil für das Komitee, weil es sich dadurch in gewisser Weise unabhängig machte von der Beeinflussung durch die manchmal sektiererisch auftretende KP Uruguays. Innerhalb des Komitees gab es dennoch manchmal Auseinandersetzungen mit den 100prozentigen KP-Mitgliedern, die glaubten, im Rahmen des Komitees unbedingt von A bis Z das durchführen zu müssen, was von oben diktiert wurde. Einen gewissen Einfluß auf unsere Arbeit übten die deutschen Kommunisten in Mexico aus. Dort erschien die Zeitschrift „Freies Deutschland“. Man muß dabei aber bedenken, daß kaum Flugverbindungen bestanden, Briefe Monate brauchten und Drucksachen mit großer Verspätung ankamen, d. h., die Einflußnahme war letztlich relativ gering, das Ganze bewegte sich ziemlich unabhängig.
Mit seiner Arbeit erreichte das Komitee vor allem die deutsch-jüdische Kolonie. Beträchtliche Teile dieser Kolonie unterstützten unsere Arbeit finanziell und besuchten die Veranstaltungen, die regelmäßig im Lokal des Komitees stattfanden. Es gab heftige Diskussionen, zum Beispiel darüber, wie es nach dem Krieg in Deutschland aussehen würde, wer wohl das Heft in die Hand bekäme, auch wie die Frage der Wiedergutmachung geregelt werden müßte. Es gab Leute, die sehr viel von ihrem Hab und Gut in Deutschland zurückgelassen hatten und sich wohl auch deshalb – neben anderen politischen Gründen – unserer Bewegung anschlossen. Bei den Versammlungen wurde heftig über so „wichtige“ Fragen gestritten, wie die Nationalflagge des kommenden Deutschland aussehen würde (lacht), schwarz-weiß-rot oder schwarz-rot-gold? Ein sehr kontroverses Thema war die Schuld für den Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus, ob alle Deutschen mitschuldig oder nur die Angehörigen bestimmter Klassen schuldig seien.
Hier ansässige nichtjüdische Deutsche waren kaum zu bewegen, an unseren Aktivitäten teilzunehmen. Einige im Komitee, v. a. Kurt Wittenberg und ich, drängten darauf, unsere Aktivitäten besonders dort zu konzentrieren, wo Deutsche wohnten, z. B. in Peñarol. Viele Deutsche arbeiteten dort als Facharbeiter in Reparaturwerkstätten der damals noch englischen Eisenbahnen. Unsere Versuche zur Agitation unter den Deutschen in Montevideo, die wir gegen große Vorbehalte im Komitee durchsetzen mußten, brachten allerdings nur sehr magere Ergebnisse, weil die Deutschen zum ganz überwältigenden Teil für Hitlerdeutschland waren.
Waren die Mitglieder der deutsch-jüdischen Kolonie alle nach 1933 aus Deutschland emigriert, oder lebten schon vorher deutschstämmige Juden in Uruguay?
Die deutsch-jüdische Kolonie bestand ausschließlich aus Leuten – wie etwa meinen Eltern –, die nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland verlassen hatten. Sie versammelten sich zunächst in einem kleinen Saal und riefen eine Synagogengemeinde ins Leben. Später bauten sie ein eigenes Bethaus.
Wovon haben deine Eltern hier gelebt?
Meine Eltern hatten ein kleines Kolonialwarengeschäft, wovon sie sich gerade so ernähren konnten. Sie haben nie richtig Fuß gefaßt. Für sie und für meine Schwester war Uruguay eine Zuflucht, um zu überleben, aber sie wurden hier nicht heimisch. Nach dem Krieg sind meine Eltern recht schnell nach Trier zurückgekehrt, in ihr Haus, das für sie ein Bezugspunkt war. Die BRD hat sich diesen Leuten gegenüber relativ korrekt verhalten, indem sie ihnen Renten zahlte. Hier sieht man das, die älteren deutschen Juden leben relativ gut, weil sie aus der Bundesrepublik Wiedergutmachung bekommen haben. Das war für die BRD ein Klacks. Meine Eltern wurden in Deutschland nicht mehr heimisch und siedelten später nach New York über, wo meine Schwester lebte.
Die meisten deutschen antifaschistischen Gruppen in Lateinamerika spalteten sich 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt in KPD-dominierte Gruppen, die sich auf den Bund Freies Deutschland in Mexico bezogen, und linkssozialistische Gruppen, die sich überwiegend an der Zeitschrift „Das Andere Deutschland“ in Buenos Aires orientierten. In Uruguay gab es nur eine Organisation, nämlich euer Komitee. Gab es hier keine Spaltung der deutschen Antifaschisten?
Innerhalb der KP Uruguays gab es nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes große Auseinandersetzungen und Parteiausschlüsse. Da gab es auch Deutsche, deutsche Mitglieder der KPU, die aus der Partei austraten oder ausgetreten wurden. Ich kann mich an einige erinnern, die so verbittert waren, daß sie auch später nicht mehr ansprechbar waren für das deutsche antifaschistische Komitee. Aber sonst ist weitgehend gelungen, diesen Disput aus dem Komitee raus- bzw. am Rande zu halten. Er hat die Arbeit des Komitees nicht entscheidend beeinträchtigt. Sicher gab es immer abfällige Bemerkungen gegenüber dem Anderen Deutschland, da wurden meiner Ansicht nach Fehler gemacht. Einige traten aus dem Komitee aus und versuchten eine eigene Gruppe aufzumachen, aber Montevideo war letztlich doch zu klein, um mehreren Gruppen eine Lebensfähigkeit zu garantieren, und das deutsche antifaschistische Komitee verstand es, eine relative Breite zu bewahren. Das war sicherlich maßgeblich das Verdienst von Willi Eckermann.
Nach dem Ende des Krieges und der Niederlage des Hitlerfaschismus beendete das Komitee seine Tätigkeit. Heute betrachte ich es als einen Fehler, daß wir damals nicht zusammenblieben, die Nachkriegsentwicklung analysierten und überlegten, wie es weitergehen könnte.
Wir jungen Mitglieder, wie Ernst Kroch, einige andere und ich, näherten uns in dieser Zeit der KP Uruguays an. Die KP hatte durch ihre Solidarität mit Spanien und ihre antifaschistische Massenarbeit während der Hitlerzeit einen großen Aufschwung bekommen. Bei den ersten Nachkriegswahlen, ich glaube 1946, machte die Partei einen Sprung nach vorne und bekam erstmals einen Senator und fünf Abgeordnete. Bei den Wahlen vorher hatte sie nur einen Abgeordnetensitz errungen.
Wir versuchten zunächst alle, nach Deutschland zurückzugehen, in die sowjetisch besetzte Zone. Ich war zusammen mit meinem Freund Kurt Wittenberg auf dem sowjetischen Konsulat. Die Russen ließen mich auf einer großen Karte zeigen, wo Trier liegt. Da meinte der verantwortliche Mann, Trier und Ostdeutschland seien wohl nur schwer zusammenzubringen, dennoch solle ich einen Antrag stellen. Der Antrag wurde natürlich nie positiv entschieden – wie übrigens bei allen von uns. Der einzige, der zurückging, war ein Genosse, der aus Berlin stammte und einfach zurückfuhr. Aber der hatte in Berlin eine gewisse Basis, Verwandte, Bekannte, Freunde. Wir anderen waren Nicht-Berliner und hatten dort keine Anlaufpunkte. Der Versuch zurückzukehren ging also schief, und wir integrierten uns immer mehr in die uruguayische Arbeiterbewegung. Ich wurde aktiv in der Gewerkschaft der Transportarbeiter, da ich inzwischen als Mechaniker in einer großen Transportfirma arbeitete. Ich wurde Mitglied der Gewerkschaftsleitung und trat 1946 in die KPU ein. 1950 wurde ich hauptamtlicher Mitarbeiter im Apparat der KP. In den fünfziger Jahren kam es zu einer großen Krise in der KP. Die Auseinandersetzungen führten 1955 zum Sturz des Parteichefs Gómez und brachten Rodney Arismendi in die Leitung der Partei. Arismendi setzte meiner Meinung nach eine richtige Linie in der Partei durch, trotz aller Mängel, die man bei ihm noch feststellen konnte. Ich bin bis heute der Meinung, daß die KP in den sechziger Jahren eine richtige Politik machte, ohne die solche wichtigen Errungenschaften wie die Schaffung der Einheits-Gewerkschaftszentrale PIT-CNT und der linken Einheitsfront Frente Amplio im Jahre 1971 nicht möglich gewesen wären.
Hast du nach dem Führungswechsel in der KP weiter hauptamtlich für die Partei gearbeitet?
Ja. Im Zuge ihrer Reorganisation beschloß die Partei u. a., eine Tageszeitung herauszugeben. Man kam auf mich zu und sagte mir, ich solle die technische Verantwortung für den Verlag der Zeitung übernehmen. Ich wollte das nicht machen, weil ich davon überhaupt keine Ahnung hatte. Aber wie das in den Kommunistischen Parteien war, wurde ich durch einen Beschluß der Parteileitung dazu verdonnert. Ich bereue es nicht, die Arbeit übernommen zu haben, auch wenn ich es heute nicht mehr tun würde. Die Zeitung El Popular erschien ab Februar 1957. Sie entwickelte sich von einem kleinen, schlechtgemachten 8-seitigen Blatt zu einer richtigen, ernstzunehmenden Tageszeitung. Natürlich mit vielen Schwierigkeiten und schlechtbezahlten Arbeitern, die ihr Geld zudem noch unpünktlich bzw. unregelmäßig bekamen. Die Zeitung erschien bis 1973, als sie von der Militärdiktatur verboten wurde.
Ich war sowohl technischer Verantwortlicher und auch als Journalist bei El Popular. Ich hatte immer eine Neigung zum Schreiben und habe mich bei der Zeitung zum Journalisten qualifiziert.
Einer deiner Kollegen bei El Popular war Mauricio Rosencof, ein Mitbegründer der Tupamaros. Was dachtest du darüber, daß ein Teil deiner Genossen, wie z.B. Mauricio, der KP den Rücken kehrten und eine revolutionäre Organisation aufbauten?
Mauricio war bei uns in der Zeitung verantwortlich für die Gewerkschaftsseite. Als es eine große Bewegung auf den Reisplantagen an der brasilianischen Grenze gab, fuhr er dorthin, um darüber zu berichten und eine journalistische Kampagne zu machen. Er hat mit den Leuten gelebt, er hat sich dort integriert. Was er beschrieb, waren keine oberflächlichen Eindrücke, sondern reale Erfahrungen, das muß man ihm immer bescheinigen. Nach seiner Rückkehr geriet er in Widerspruch zur Leitung der Zeitung und zur Parteiführung, das war gleichbedeutend. Er schildert in deinem Buch „Lebenswege“ seine Reise in die Sowjetunion und nach Polen, seine negativen Erfahrungen dort, z. B. mit dem Antisemitismus. Darüber wollte er auch bei El Popular schreiben. Er wollte schreiben, wie er es empfunden hatte, und nicht, wie andere Leute es ihm vorschrieben. Soweit stimme ich seiner Kritik an der KP zu.
Nicht seiner Meinung bin ich mit seiner Einschätzung der damaligen Situation in Uruguay. Er sagt z. B., der KP und der traditionellen Linken sei es in den Sechzigern nur um mehr Abgeordnetensitze gegangen und nicht um grundlegende politische Veränderungen. Ich glaube, die Frente Amplio ins Leben gerufen zu haben, einen Einheitsgewerkschaftsbund geschaffen zu haben, sind große Leistungen der Linken. Dies zu ignorieren ist eine Fehleinschätzung von Mauricio. Auch die KP hatte damals einen militärischen Apparat. Daß dieser Apparat von der Diktatur zerschlagen wurde, ehe er überhaupt zum Einsatz kommen konnte, ist eine andere Sache.
Die KP hat mit den Tupamaros trotz politischer Differenzen zusammengearbeitet. Eine Sache ist es, was in den sozialistischen Ländern geschah, eine andere, wie die kommunistische Bewegung in Uruguay agierte – ganz anders nämlich als z. B. in Argentinien, wo die Kommunisten die revolutionäre Linke bis aufs Messer bekämpften und dabei sogar ein dubioses Verhältnis zur Militärdiktatur entwickelten.
Die KP hat sicher Fehler gemacht. Viele Kommunisten glaubten, die massive Repression gegen die Tupas ab 1971/72 beträfe sie nicht. Und zwei, drei Jahre später waren sie selbst dran, wie in dem Text von Niemöller: „Als sie die Kommunisten holten, habe ich nicht protestiert, denn ich war ja kein Kommunist…“ Man kann sicher lange über den bewaffneten Kampf diskutieren, aber ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß der bewaffnete Kampf, wie die Tupamaros ihn führten, in Uruguay nicht erfolgreich sein konnte.
Neben deiner journalistischen Tätigkeit und deinen Aktivitäten in der KP gehörtest du zu den MitbegründerInnen eines deutschen Kulturinstitutes. Kannst du darüber etwas erzählen?
Da muß ich ein bißchen ausholen. Nachdem Uruguay Hitlerdeutschland den Krieg erklärt hatte, wurden die Beziehungen abgebrochen und deutsches Eigentum teilweise enteignet. Mit dem Aufstieg der Bundesrepublik und dem Wirtschaftswunder normalisierten sich die Beziehungen schnell wieder. Die Bundesrepublik bekam alles enteignete deutsche Eigentum zurück. Die hitlertreuen Deutschen hier, die sich zurückgezogen hatten, kamen aus ihren Löchern. Alles nahm wieder seinen normalen Gang. Wir Antifaschisten sahen tatenlos zu. Nach der Eröffnung einer Handelsvertretung der DDR und einigen zufälligen Kontakten zu deren Mitarbeitern sahen wir, eine Reihe von Leuten aus dem deutschen antifaschistischen Komitee, es als unsere Aufgabe, die Existenz der DDR hier bekannt zu machen. So riefen wir Ende 1962 eine Freundschaftsgesellschaft ins Leben, das „Instituto Cultural Uruguay-República Democrática Alemana“. Es gelang uns in relativ kurzer Zeit, einer ganzen Reihe von uruguayischen Wissenschaftlern, Künstlern, Gewerkschaftern Reisen in die DDR zu ermöglichen, worüber sie anschließend in unserer Organisation berichteten. Wir begannen in bescheidenem Umfang mit Deutschunterricht und versuchten, den kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern in Gang zu bringen. Politisches Ziel der Arbeit war die Anerkennung der DDR, d.h. die Aufnahme offzieller Beziehungen Uruguays mit der DDR.
Zugute kam uns dabei, daß die Hallstein-Doktrin (die besagte, daß ein Land, das die DDR diplomatisch anerkennt, keinerlei Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe von der BRD bekommen konnte – G.E.) durch die bundesdeutschen Diplomaten hier recht ungeschickt und aggressiv angewandt wurde. Kein Auftreten von Repräsentanten der DDR, sei es durch die Handelsvertretung, sei es auf Veranstaltungen unseres Instituto, wurde von ihnen geduldet, ohne beim Außenministerium eine Protestnote abzugeben. Die Anlässe konnten noch so gering sein – wie eine kleine Briefmarken-Ausstellung, der Auftritt eines Künstlers aus der DDR oder daß bei einer Veranstaltung eine DDR-Fahne auf dem Tisch lag. Die Uruguayer empfanden dies überwiegend als demütigend. Niemand mit ein bißchen Würde läßt sich gerne dauernd zurechtweisen. Am Heiligen Abend 1971 rief mich der Generalsekretär des Außenministeriums in der Redaktion an und sagte, er wolle mir in meiner Eigenschaft als Generalsekretär des Instituts mitteilen, daß Uruguay in zwei Stunden die DDR offiziell anerkennen würde. Damit tat Uruguay als zweites südamerikanisches Land nach dem Allende-Chile diesen Schritt.
Nun setzten wir die Arbeit unter veränderten Vorzeichen fort. Wir konnten mit Unterstützung der DDR eine Etage im Stadtzentrum von Montevideo erstehen und dort unsere Casa Bertolt Brecht eröffnen. Eine ernstzunehmende Konkurrenz für das Goethe-Institut waren wir nie, aber stets ein Dorn im Auge.
Inwiefern wurde die Casa Bertolt Brecht nach der Anerkennung von der DDR unterstützt?
Sie wurde offiziell unterstützt, aber die Mittel waren gering. Die DDR hatte immer Devisenprobleme. Es war ein harter Kampf, eine einigermaßen tragbare materielle Unterstützung zu bekommen. Wir konnten uns durch die relative Verankerung unserer Arbeit in der uruguayischen Linken eine gewisse Basis schaffen, unsere Deutschkurse hatten recht guten Zulauf und trugen wesentlich zur Finanzierung der Arbeit bei. Trotzdem konnten wir die Aktivtäten des Instituto längst nicht so gestalten, wie wir wollten oder es nötig gewesen wäre.
Wie erging es dir, als die Militärs 1973 an die Macht kamen?
Als die Militärs ein Jahr an der Macht waren, schlossen sie das Institut. Einige Leitungsmitglieder, u. a. ich, wurden ein paar Monate von der Polizei festgehalten. Ich wurde danach von einem Militärgericht in sogenannte bewachte Freiheit entlassen, d. h., ich mußte mich wöchentlich bei der Polizei melden.
Zwei Monate später folgte die Rache der Militärs: die Ausweisung. Ich hatte zwar die uruguayische Staatsbürgerschaft, aber nach uruguayischer Gesetzgebung kann man als nicht im Lande Geborener aus zwei Gründen ausgewiesen werden: als Zuhälter oder weil man die Sicherheit des Staates gefährdet. Wegen letzterem wiesen sie mich aus. Ein weiterer Vorwurf war meine journalistische Arbeit – seit 1964 war ich Korrespondent für ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, die Nachrichtenagentur der DDR – G.E.) in Montevideo. Der Club der Auslandsjournalisten in Montevideo protestierte scharf gegen meine Verhaftung und später gegen die Ausweisung. Doch die Militärs kümmerten sich nicht darum, und ich mußte das Land verlassen.
Wo hast du Aufnahme gefunden?
In der DDR. Im Mai 1975 kam ich mit meiner Familie nach Berlin. Ab da arbeitete ich bis zu meiner Rückkehr nach Uruguay als Journalist in der ADN-Zentrale. In der DDR waren nur etwa 20 Uruguayer, wenige im Vergleich zu den Tausenden von Chilenen, die nach dem Putsch gegen Allende in die DDR gekommen waren. Einige, vor allem Tupamaros, waren zunächst als Flüchtlinge im Allende-Chile und kamen nach dem Putsch zusammen mit den exilierten Chilenen in die DDR. Andere kamen über Mexico. Die mexicanische Botschaft in Montevideo war für viele Verfolgte ein Zufluchtsort. Der mexicanische Botschafter in Montevideo übte aktive Solidarität, zeitweilig hat er an die 100 Leute in seiner Wohnung und den Botschaftsräumen aufgenommen, bis sie nach Mexico ausreisen und von dort in verschiedene Aufnahmeländer, u. a. in die DDR, weiterfahren konnten.
In der DDR gab es eine große Solidaritätsbewegung mit Chile, während über Uruguay kaum etwas bekannt war. Deshalb begannen wir, über die Lage in Uruguay zu informieren. Das war anfangs nicht einfach, denn es funktionierte wie alles in der DDR. Ich will dir ein Beispiel geben. Kurz nachdem meine Frau und ich 1975 nach Berlin gekommen waren, gab es dort den Weltfrauenkongreß. Wir hatten die Idee, auf diesem Forum die Situation der uruguayischen Frauen unter der Diktatur zu thematisieren. Ich sprach dafür einen hervorragenden alten Journalisten an, Max Kahane, dessen Frau Grafikerin war. Ihn kannte ich schon aus Montevideo, er war in Brasilien gewesen, ein alter Kommunist, Spanienkämpfer, Journalist bei den Nürnberger Prozessen, kurz ein Mann von Format. Seine Frau sollte ein kleines Plakat entwerfen. Für die Rückseite schrieben wir einen Text über die Situation der uruguayischen Frauen. Frau Kahane gestaltete das ganze mit einem kleinen Team von Grafikern und Fotografen aus der Redaktion der Wochenzeitung „Horizont“. Das lief wie am Schnürchen. Eines Tages zitierte man mich zum ZK. Der Genosse empfing mich nicht im Haus, sondern davor und sagte mir „Das Plakat läuft nicht. Es geht nicht, dafür gibt es keine Druckerlaubnis“. Das war, als hätte man mir eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Ich solle nicht fragen warum und weshalb, es ginge nicht, und er appelliere an mein Verständnis. So etwas geschah in der DDR auf Schritt und Tritt. Alles mußte von oben abgesegnet werden.
Und das wurde es dann auch. Honecker und der uruguayische KP-Chef Arismendi, der im Moskauer Exil war, trafen sich und vereinbarten ein Maßnahmenpaket für die Solidaritätsarbeit. Plötzlich war alles möglich. Unter meiner Regie als Redakteur kam eine Monatszeitschrift „Desde Uruguay“ heraus, auf deutsch und zeitweilig auf spanisch. Mit einer Auflage von 1000 Exemplaren wurde sie an interessierte Personen und Institutionen verteilt. Das Material bezogen wir über Fernschreiber aus Moskau, Mexico und Schweden, wo es große uruguayische Exilgemeinden gab.
Auch in der Gewerkschaft lief einiges. Trotz aller Kritik am FDGB weiß ich, daß die Genossen immer Dollars locker machten – und das war in der DDR nicht einfach –, um die uruguayischen Gewerkschaften zu unterstützen. Wir haben viele Broschüren und Plakate für Uruguay in der DDR gedruckt. Hier kann man heute noch manchmal in Gewerkschaftshäusern Plakate sehen, die in der DDR gedruckt wurden.
Das wichtigste war für uns die Ausstrahlung einer täglichen 10-minütigen spanischsprachigen Radiosendung nach Uruguay über Radio Berlin International. Eine tägliche Sendung nach Chile gab es dort schon länger. Als ich wegen einer möglichen Radiosendung ins Zentralkomitee gerufen wurde, dachten wir noch an eine wöchentliche Ausstrahlung. Plötzlich gab man uns täglich zehn Minuten. Darauf waren wir überhaupt nicht eingestellt. Ich fiel fast vom Stuhl. Es war nicht einfach, von Berlin aus seriöse, fundierte Nachrichten nach Uruguay zu senden. Meine Frau übernahm die Leitung der Sendung.
Ich selbst machte jeden Freitag eine Sendung über konkrete Fälle von Verhaftungen oder Verschwindenlassen. Ich sprach immer fünf Minuten, das waren eineinhalb Manuskriptseiten, die montags gesendet wurden. Nach meiner Rückkehr nach Uruguay wurde ich öfter angesprochen, ob ich nicht der sei, den sie während der Diktatur montags im Radio gehört hätten.
Wir brachten viele Interviews mit uruguayischen Politikern im Exil, sowohl mit Leuten von der KP als auch mit Repräsentanten anderer Parteien. Die Ausstrahlung der Radiosendung war eine sehr positive Solidaritätsleistung der DDR. Die Sache war besonders wichtig, solange die Diktatur noch wirklich hart war und jegliche Information unterdrückte. Den Sender aus Berlin konnten sie nicht zum Schweigen bringen. Die Sendungen wurden in Uruguay auf Kassetten aufgenommen und unter den Oppositionellen verbreitet. Sie kamen z. T. sogar in die Kerker rein. Mir kam 1984 die Ehre zu, die letzte dieser Sendungen zu machen.
Bei aller Kritik an der DDR werde ich die Solidarität, die wir dort während der uruguayischen Militärdiktatur erfahren haben, nicht vergessen.
Warst du vor deiner Emigration in die DDR schon mal wieder in Deutschland?
Ja, zum ersten Mal 1959, 23 Jahre nach meiner ersten Emigration. Ich fuhr nach Trier, wo meine Eltern wieder zeitweilig lebten. Mein Vater hatte damals einen Prozeß zur Rückgabe des elterlichen Hauses angestrengt, das war eine langwierige Sache. Das Haus war durch Kriegseinwirkungen praktisch zerstört. Er bekam schließlich Recht und erhielt das Haus zurück. 1959 fuhr ich auch zum ersten Mal nach Ost-Berlin. Ich hatte einige Kontakte zum Neuen Deutschland und besuchte ein paar Uruguayer in Berlin. Später bin ich dann öfters in die DDR gereist.
Du kamst 1975 als überzeugter Kommunist in die DDR. Wie hast du die politischen Verhältnisse dort erlebt?
Das ist eine komplizierte Frage. Mein erster Kontakt mit Kollegen, Journalisten, war ernüchternd. Die hatten eine sehr kritische Meinung zu den Verhältnissen in der DDR und zur Situation in der Sowjetunion. Bei den Kommunisten in Uruguay war alles, was die Sowjetunion machte, sagte, druckte, okay. Die Haltung der DDR-Journalisten, besonders derjenigen, die die Sowjetunion kannten, war dagegen sehr kritisch bis abwertend.
In den zehn Jahren, in denen ich in der DDR lebte, von 1975 bis 1985, spürte ich in meinem Umfeld bei ADN eine zunehmende Abstumpfung. Es wurde immer weniger Initiative entwickelt, weil man das Gefühl hatte, es hätte alles keinen Sinn. Ich hatte einen Sonderstatus, ich hatte sozusagen Narrenfreiheit. Ich war kein DDR-Bürger, war kein SED-Mitglied, war aber Kommunist, in den sie Vertrauen hatten. Ich konnte mir Dinge leisten, mit sogenannten Nachrichtenangeboten, an die ein normaler ADN-Redakteur nicht mal denken konnte, da wäre er schon zehnmal auf die Nase gefallen. Aber auch für mich gab es Grenzen. Ich erinnere mich etwa an den Konflikt um die Malwinen. Eine Meldung über eine von den Generalsekretären der kommunistischen Parteien Argentiniens, Uruguays und – glaube ich – Chiles unterzeichnete Resolution, die ich gemacht hatte, blieb bei ADN auf der ersten Etage, das war die Chefetage, stecken. Man schaute auf den Ticker mit den Nachrichten, die in den Dienst gingen, und meine Meldung kam nicht. Am nächsten Tag auch nicht. Da ging ich nachfragen. Man sagte mir schlicht, das sei nicht auf der Linie gewesen, die die DDR im Malwinenkonflikt einnähme. Rücksichten kommerzieller Natur gegenüber Großbritannien spielten eine zu große Rolle.
Vieles wurde durch die Widersprüche innerhalb des Apparats kaputtgemacht. Mein Ansprechpartner war die Abteilung „Internationale Verbindungen“ (IV) des ZK. Die Lateinamerika-Abteilung dort bestand aus gutinformierten Leuten, die ganz konkrete Vorstellungen zur Entwicklung in Lateinamerika hatten. Doch das Etikett „Internationale Verbindungen“ war für die ADN-Chefredkation oder den stellvertretenden Generaldirektor von vornherein schlecht, unsere Nachrichtenthemen wurden ständig beanstandet. Der ganze Apparat knirschte und arbeitete teilweise gegeneinander. Natürlich konnte das nicht funktionieren, der ganze Betrieb war praktisch im Eimer.
Selbst für mich, der ich aus einer KP kam, wo die innere Demokratie auch keinen hohen Stellenwert hatte, sah es so aus, als hätten die SED-Mitglieder keine Courage, ihre Meinung zu sagen. Im kleinen Kreis ja, aber innerhalb der Organisation ging es ihnen um die Karriere. Kollegen, die mir gegenüber über bestimmte Zustände klagten, fragte ich oft, warum sie das nicht innerhalb der Parteiorganisation vorbrächten. Es gab selten Leute, die offen einen eigenen Gedanken äußerten.
Bei ADN – ich nehme an, in anderen Betrieben war das ähnlich – fand einmal pro Woche eine Besprechung statt. Da setzten sich die Redaktionen zusammen, und es sollte aus den Stadtteilen und Bezirken berichtet werden, was die Leute zu akuten Fragen dachten. Das konnten Versorgungsfragen sein, Wahlen, bestimmte politische Entscheidungen, alles mögliche. Nicht alles, was da gesagt wurde, war kritisch, aber es kam schon eine Menge Unzufriedenheit aus den Stadtteilen auf den Tisch. Daraus wurde ein Resumée gemacht, das weitergeleitet wurde an den Parteisekretär der ADN. Das war ein ganz stupider Mensch, eine große Null mit zwei Beinen und zwei Armen. Dieser Parteisekretär machte eine Zusammenfassung der Berichte. Und da er sich oben nicht unbeliebt machen wollte, nahm er die kritischen Punkte weitgehend raus. Es war wirklich so, je weiter solche Berichte nach oben kamen, desto mehr wurde die Realität geschönt.
Selbstkritisch muß ich anmerken, daß ich mich zu wenig um die innere Entwicklung der DDR kümmerte. Ich war zu sehr konzentriert auf die Solidaritätsarbeit und meine journalistische Tätigkeit, die ich als Teil der Solidarität begriff. Erst als ich wieder in Montevideo war, las ich verschiedene kritische Analysen über die Entwicklung in den sozialistischen Ländern. Dazu hatte man in der DDR keinen Zugang, aber ich habe ihn auch nicht gesucht, als Uruguayer hätte ich ja nach West-Berlin fahren können. Doch das tat ich nicht.
Wann bist du nach Uruguay zurückgekehrt?
Ich war der letzte der UruguayerInnen in der DDR, der zurückkonnte. Die anderen GenossInnen kehrten 1984 zurück, als die Militärs zwar noch an der Macht, aber die Diktatur schon faktisch zu Ende war. Mir wurde die Einreise nicht gestattet, solange die Militärs an der Macht waren. Sechs Tage nach der Übernahme der Regierung durch Sanguinetti verließ ich schließlich Berlin und kam am 7. März ohne Paß und Visum hier an. Da ich keine aktuellen Reisedokumente hatte, zeigte ich den Leuten meinen alten abgelaufenen Paß, der von den damaligen Militärbehörden für ungültig erklärt worden war. Der Mensch bei der Einreisebehörde rief seinen Vorgesetzten an, gab mir dann den alten Paß zurück und sagte nur: „Bitte entschuldigen Sie die Störung“, und ich konnte einreisen. Das war Uruguay in den Märztagen 1985.
Wie war es für dich, als du aus der DDR zurückkamst? Du warst bei deiner Rückkehr 63 Jahre alt, ein Alter, in dem man normalerweise in Rente geht. Standest du hier wieder mehr oder weniger vor dem Nichts?
Ich stand vor einer sehr komplizierten Situation. Bei ADN sagte man mir 1985, ich sei verrückt, zurückgehen zu wollen, ich sei doch in der DDR integriert. Das stimmte, ich war integriert. Kulturell war es relativ leicht, sprachlich hatte ich einige Schwierigkeiten. Die deutsche Sprache, die man in der DDR sprach, war nicht mein Deutsch aus Montevideo, aber das habe ich mit einiger Mühe in den Griff bekommen. Doch für mich stand immer fest, daß ich nicht in die DDR gekommen war, um mich da zu etablieren. Ich bin in die DDR „gekommen worden“, da ich ausgewiesen wurde. Überall in der DDR, wo ich über Uruguay sprach und an Solidaritätsmeetings teilnahm, wurde ich gefragt, ob ich mich als Uruguayer oder als DDR-Bürger fühlte. Immer war meine Antwort, wenn man aus beiden einen Menschen machen könnte, wäre das eine gute Mischung. Ich liebe die Uruguayer, ihre Herzlichkeit und Wärme, auch ihren positiven Bezug zu ihrer Geschichte des Befreiungskampfes gegen Spanien. Für sie ist das noch eine greifbare Sache. Was haben die Deutschen als greifbare Bezugspunkte in der Geschichte, die Zerschlagung der 48er-Revolution, Bismarck, die Weimarer Republik oder den Hitlerfaschismus? Auf der anderen Seite haben die Deutschen, wie ich sie in der DDR erlebt habe, doch eine Menge guter Eigenschaften, ihre Pünktlichkeit, ihre technischen Fähigkeiten, ihr systematisches Herangehen an Dinge, ihre Zuverlässigkeit. Das vermisse ich hier manchmal.
Aber ich wollte in jedem Fall nach Montevideo zurückzukehren, auch weil meine Frau Uruguayerin ist. Ich fand in meinem Alter natürlich keine Arbeit mehr und kümmerte mich darum, meine Rente durchzubekommen. Dabei stellte ich fest, daß mir die zehn Jahre im Exil bei der Rentenberechnung hier nicht anerkannt wurden. Meine uruguayische Pension ist also minimal. Mit Ach und Krach habe ich erreicht, daß ich heute aus der BRD eine bescheidene Rente für die zehn Jahre bei ADN bekomme, 270 Mark. Eigentlich müßte ich mehr bekommen, aber ich wurde doppelt runtergestuft. Erstens, weil ADN als staatsnaher Betrieb der DDR gilt und zweitens, weil ich Ausländer bin. Die Nazis hatten mir die deutsche Staatsbürgerschaft abgenommen, die BRD hatte sie mir nach dem Krieg wie allen deutschen Juden zunächst wiedergegeben. Aus Unwissenheit habe ich auch die uruguayische Staatsbürgerschaft angenommen, und als ich meinen deutschen Paß verlängern wollte, sagte man mir, das ginge nicht mehr. Meine Söhne und Enkel sind deutsche Staatsbürger, ich, der ich in Deutschland geboren bin, nicht. Ich habe einmal mit dem damaligen bundesdeutschen Botschafter Marré darüber gesprochen. Er meinte, ich hätte mir das durch die Annahme der uruguayischen Staatsbürgerschaft selbst verwehrt. Interessant war allerdings, daß er hinzufügte, ich hätte ja auch mal einen Artikel gegen den ersten Botschafter der BRD in Montevideo geschrieben, weil er unter den Nazis Diplomat gewesen war. Offiziell spielt sowas natürlich keine Rolle, aber offensichtlich nimmt mir die BRD das bis heute übel. Die Sache mit der Staatsbürgerschaft macht mich schon etwas traurig, auch wenn ich hier gut ohne die BRD-Staatsbürgerschaft leben kann. Aber es bleibt das bittere Gefühl, rausgeflogen zu sein.
Da ich also keine Arbeit mehr fand, habe ich mich in die Parteiarbeit gekniet, ohne allerdings wieder Funktionär zu sein. Die Partei steckte in einer tiefen Krise. Es ist ein Kapitel für sich, wie sich der Niedergang des realen Sozialismus in der KP Uruguays niedergeschlagen hat. Eine Katastrophe. Die KP Uruguays hätte die notwendige Diskussion mit Würde und Ruhe durchführen können. Sie hatte ja ihre Verdienste in der uruguayischen Politik, im Kampf gegen die Diktatur und für die Demokratisierung, im Bemühen, eine Einheit der Linken zu erreichen usw.
Aber es gab keine wirkliche Diskussion über den Zusammenbruch des realen Sozialismus. Nach dem Tod Arismendis kam es in der Partei zu heftigen Kämpfen, mehr Schlammschlacht als ideologische Auseinandersetzung. In deren Folge kam es zu einer Spaltung. Diese Partei, einst die stärkste Kraft in der Frente Amplio und auch in den Gewerkschaften mit beträchtlichem Einfluß, ist heute nur noch eine Rumpfpartei. Ihre jetzige Leitung lehnt jede Erneuerung ab. Ihr Ziel ist weiter, die rote Fahne mit Hammer und Sichel hochzuhalten, ohne zu analysieren, was in Osteuropa geschehen ist. Dabei geben sie teilweise Platitüden von sich, wie etwa, daß Gorbatschow ein Agent des CIA gewesen sei. Also von marxistischem Denken und krtischer Analyse keine Spur.
Bist du aus der KP ausgetreten?
Meine Mitgliedschaft ruht. Ich habe versucht, in der parteiinternen Debatte meine Meinung darzulegen, und mich auch journalistisch gegen den Versuch gewandt, die Folgen des Stalinismus zu verteidigen, hatte aber wenig Erfolg dabei. So habe ich mich aus der Partei zurückgezogen und konzentriere mich jetzt auf die Arbeit in der Casa Bertolt Brecht. Dort hatte die Wende in der DDR wie ein Blitz eingeschlagen. Als die Wende Fakt geworden war, besuchte uns ein Mensch von der Liga für Völkerfreundschaft und teilte uns lapidar mit, wir müßten jetzt selber sehen, wie wir weitermachen. Mit Unterstützung könnten wir nicht mehr rechnen. Wir hörten uns an, was er sagte, stellten einige Fragen, auf die er keine Antwort hatte, und beschlossen weiterzumachen. Vorstellungen dazu hatten wir zunächst keine, aber wir wollten nicht einfach aufgeben.
Wie hat sich eure Arbeit entwickelt, und wie sehen eure Ziele heute aus?
Wir verstehen uns als fortschrittliche Menschen, die kulturelle Beziehungen zu dem nicht-offziellen Deutschland pflegen wollen. Wir haben eine gewisse ökonomische Basis, sind Eigentümer unserer Räumlichkeiten, sonst wäre es finanziell überhaupt nicht machbar. Rechtlich waren wir immer ein uruguayischer Verein und keine Einrichtung der DDR. Die Casa Bertolt Brecht ist wegen ihres kulturellen Wirkens in Uruguay anerkannt und stellt etwas dar.
Unsere Idee ist, mit kulturellen, politischen und kirchlichen Gruppen in der Bundesrepublik, die an Lateinamerika interessiert sind, zusammenzuarbeiten. Die ersten neuen Kontakte, die wir nach Deutschland herstellen konnten, waren zu Leuten aus der linken Szene der BRD, die sich bei euch für die Tupamaros engagieren und hierher kamen, um Spanisch zu lernen und Uruguay kennenzulernen. Wir haben mit einigen von ihnen Veranstaltungen und Ausstellungen gemacht, z. B. über Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in der BRD oder über andere politische Themen. Dabei haben wir uns manchmal vielleicht etwas zu sehr ins Fahrwasser linksradikaler Strömungen begeben, was wir nicht wollen. Wir wollen niemandem die Türe verschließen, uns aber auch nicht von einer Richtung vereinnahmen lassen.
Finanziell schlagen wir uns hauptsächlich durch Deutschunterricht und in jüngerer Zeit auch Spanischunterricht für interessierte Deutsche durch. Wegen der schwierigen wirtschaftliche Lage hier müssen die Leute sparen und überlegen sich dreimal, ob sie einen Deutschkurs belegen. Wir haben immer wieder Initiativen gestartet, zusätzlich zu unserem Unterricht Gelder einzunehmen. Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel einen Büchermarkt veranstaltet, wo wir alle deutschen Bücher, die wir mehrfach hatten – wir hatten früher manchmal umfangreichere Buchsendungen aus der DDR bekommen – preisgünstig zum Verkauf anboten, und hatten darauf eine sehr gute Resonanz.
Wir arbeiten hier mit vielen politischen und kulturellen Gruppen zusammen, z. B. mit dem Gewerkschaftsbund P.I.T.-CNT. Wir würden gerne mehr zu neuen Fragestellungen wie der Ökologieproblematik machen. Für die Leute und Gruppen hier wäre es hochinteressant, mehr über entsprechende Initiativen in Deutschland zu erfahren. Wir planen einen Veranstaltungszyklus zu Bert Brecht und dem lateinamerikanischen Theater, laden Wissenschaftler und Künstler zu Vorträgen und Lesungen ein. Und wir suchen Partner in Europa, die etwas gemeinsam mit uns machen bzw. Vorhaben von uns unterstützen wollen und Interesse am Fortbestand einer unabhängigen Institution haben, die in Lateinamerika über Deutschland bzw. Europa informiert, so wie ihr drüben über Lateinamerika berichtet.