Am 1. Mai war auf den Straßen San Salvadors der Stolz darüber, endlich einen Sieg errungen und eine Wende eingeleitet zu haben, mit beiden Händen greifbar, ebenso die Erwartungen, vor allem an die FMLN-Leitfigur Mauricio Funes. Skeptische Stimmen und Unkenrufe, die auch schon wieder seit Wochen ertönen und manchmal anmuten, als sehe man das Pferd bereits im Schlachthaus, bevor es noch aus dem Stall gekommen ist, haben bei einem solchen Massenaufmarsch allenfalls am Rande Platz, wo man alte FreundInnen und Bekannte trifft.

Auch altbekannte Traditionen durften in der stundenlangen Demonstration nicht fehlen. Streckenweise wird der Marsch als „Gänsemarsch“ organisiert: eine Gewerkschaft ordentlich hinter der anderen, mit gewaltigen Transparenten, Plakaten an Stangen, T-Shirts in den jeweiligen Farben. Dadurch machen die Gewerkschaften einen mächtigen Eindruck, auch weil in El Salvador jeder Betrieb und jedes Amt eigene Gewerkschaften hat, deren Verbände und Dachverbände häufig schwach sind und kaum mehr als auf dem Papier existieren. Tatsächlich ist durch den Krieg und die 20 Jahre neoliberale Strukturanpassung und „Staatsreform“ der Organisationsgrad immer mehr gesunken. Die Sektoren, die vorübergehend gewachsen sind, wie die Maquila, oder ständig weiter wachsen, wie der sogenannte informelle Sektor (heute lebt praktisch jede zweite Person in El Salvador, die im arbeitsfähigen Alter ist, auf diese Art von der Hand in den Mund) sind praktisch gewerkschaftsfrei. 

Auch in Zeiten von Internet und Handy, die in El Salvador womöglich noch hochgradiger fetischisiert sind als in Europa und den USA, verzichten die Gewerkschaften selten auf ein eigenes Flugblatt, in dem an Chicago 1886 und den Kampf um den Acht-Stunden-Tag erinnert wird. Dazu kommen mindestens ein Megaphon pro Gewerkschaft, häufig auch noch Lautsprecherwagen. Das sorgt für Kakophonie, vor allem wenn die Demo das historische Zentrum erreicht, wo sich auch an diesem Tag wattverstärkte MarktschreierInnen überbieten. Nebenbei könnte man auch ohne Insignien am Zustand des Lautsprecherwagens erahnen, ob da eine Gewerkschaft marschiert, die schon bessere Tage gesehen hat, oder eine NGO, die erfolgreich Mittel der „internationalen Gemeinschaft“ beantragt hat.

Tradition hat auch die Beteiligung der StudentInnen, ArbeiterInnen und DozentInnen der Nationaluniversität UES, der einzigen öffentlichen im Land, in ihrer ganzen Vielfalt oder Zersplitterung – je nachdem, wie man es sehen will. Der Bloque Universitario zum Beispiel mit seinen 17 Organisationen ist nur einer von einem Dutzend Demoblocks der UES. Sie sind jedenfalls nicht zu übersehen, im Gegensatz zu den StudentInnen und Angestellten der zahlreichen Privatuniversitäten – die man schon deswegen übersieht, weil sie schlicht nicht organisiert sind und deshalb allenfalls als Einzelpersonen in anderen Blöcken an der Mai-Demo teilnehmen. Die UES-DemonstrantInnen pflegen sich am Haupteingang ihres Campus zu formieren und ein paar Straßen weiter zum Hauptzug zu stoßen. Bis dahin und auch danach begleiten Graffiti, eingeschlagene Reklamevitrinen, das eine oder andere zerdepperte Auto und Böllerschüsse, vorzugsweise in Unterführungen, ihren Weg. Die überwiegend jungen Leute, die auf diese Weise verhindern, dass der internationale Kampftag der Arbeiterklasse mit einer Latschdemo begangen wird, gehören einigen der unzähligen studentischen Gruppen der UES an, bilden Cliquen von Straßenjugendlichen (in den rechten Medien natürlich immer als Angehörige von maras, Jugendbanden, bezeichnet) und vermummen sich häufig. 

Diese Randale am Rande hat auch schon Tradition – in San Salvador genauso wie in Kreuzberg oder Friedrichshain, Santiago de Chile oder Seattle. Wo sie nicht ein radikalisierendes Element ist, wie einst in der Anti-AKW-Bewegung oder in den Anfängen der Antiglobalisierungsbewegung, ist sie zum Ritual geworden, ebenso wie das anschließende Lamento über den schändlichen „Angriff auf das Privateigentum“ – als ob Immobilienkrise und Börsencrash nicht unendlich viel mehr Privateigentum an Produktions- und Lebensmitteln zerstörten.

Spätestens an dieser Stelle kommen neue Elemente (seit sich die FMLN für die Wahlstrategie mit dem zunächst unabhängigen Sozialdemokraten Mauricio Funes entschieden hat, auch nicht mehr ganz neue) in das 1.-Mai-Bild vom Zustand der sozialen und linken Bewegung El Salvadors. Wie schon bei seiner Wahlsiegesrede hat Mauricio Funes auch bei seiner über weite Strecken rhetorisch brillanten 1.-Mai-Rede ein deutliches Bekenntnis zum Privateigentum abgeliefert – wobei er klar das Privateigentum an Produktionsmitteln meint und nicht jenes an Subsistenzmitteln, das wir meinen, wenn wir uns z.B. für Landzugang für Parzellenbauern einsetzen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Lautsprecherwagen während der Demo die StudentInnen ein ums andere Mal aufforderten, Kapuzen, Tücher und andere Textilien zum Vermummen abzulegen, und dass der Hauptdemozug von der traditionellen Route, die schnurstracks am Nationalpalast vorbei führt, umgeleitet wurde, weil dort der neue Arena-Bürgermeister von San Salvador anlässlich seiner Amtseinführung einen Cocktail offerierte. (Zu den eigenartigen Traditionen El Salvadors zählt, dass die neu gewählten Bürgermeister am 1. Mai in ihr Amt eingeführt werden – vermutlich weil die ArbeiterInnen und Angestellten der Gemeindeverwaltung bei so was eh’ nichts verloren haben und daher getrost auf der Straße für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren können, die, wechselt die Parteifarbe einer Gemeinde, ebenfalls traditionell ins Wackeln kommen.)

Auch wenn die FMLN offiziell nicht die Demoleitung innehatte und immer am Ende der Mai-Demo marschiert, war ihre Handschrift nicht zu übersehen – und die entspricht der Politik der nationalen Einheit, die sich Funes auf die Fahnen geschrieben hat. Auch nicht mehr ganz neu, weil seit ein paar Jahren Bestandteil der Mai-Demos, war der kleine Block von Entre Amigos, einer Organisation von Lesben und Schwulen. Deren sichtbare Führungsfiguren erhalten immer wieder Morddrohungen. Am Tag zuvor hatte die Organisation eine Niederlage einstecken müssen, als das Parlament der auslaufenden Legislaturperiode mit 75 von 84 Stimmen (also auch der Mehrzahl der FMLN-Stimmen) das Verbot, homosexuelle Partnerschaften „Ehe“ zu nennen, neben dem Verbot für solche Paare, Kinder zu adoptieren, in die Verfassung schrieb.

Ebenfalls seit ein paar Jahren mit von der Partie sind die stets mobilen und somit fast allgegenwärtigen selbsternannten Pastoren der Iglesia Luterana Popular, der Lutherischen Volkskirche (die im Gegensatz zur Lutherischen Kirche des Bischofs Medardo Gómez keine Partnerschaft mit der Bayrischen Landeskirche hat). Neuerdings konkurrieren sie mit dem Star der linksradikalen evangelikalen Prediger, William Chamagua, dem Haupteigentümer des bei der FMLN-Militanz überaus beliebten Radio Cadena Mi Gente. In seinen Sendungen wirft dieser Apostel Paulus und Karl Marx locker in einen Topf und – wenn er den Prediger ablegt und den Eigentümer betont – weist er darauf hin, dass er ein Pastor ist, der zur Regierung Gottes gehört. Und in der Regierung Gottes gebe es keine Demokratie. So sagte er es vor einem Jahr in einer Auseinandersetzung mit David Rivas, dem damaligen Direktor des Radios, der heute Sprecher und Kommunikationsverantwortlicher von Mauricio Funes ist. Die Volkslutherischen jedenfalls hatten an diesem 1.Mai Ordnerdienste übernommen, mit einheitlichen T-Shirts und entschlossenen Gesichtern bildeten sie an neuralgischen Stellen Ketten, vor allem zum Schutze der Prominenz bei der Tribüne auf dem Kundgebungsplatz vor der Kathedrale.

Weniger sichtbar, eben weil sie zur Prominenz gehören, waren die Amigos de Mauricio, jene Truppe, die Mauricio Funes um sich geschart hat und von der böse Zungen behaupten, er würde ihr eher Gehör schenken als der Politischen Kommission der FMLN. Unter den Amigos befinden sich einige Gestalten, deren Vergangenheit und Status für Skepsis gegenüber der künftigen Regierungslinie von Funes sorgen: Luis Angel Lagos zum Beispiel war Mitbegründer der paramilitärischen Organisation ORDEN; der als künftiger „Verteidigungs“minister gehandelte Ex-Oberst Mungía Payés war der letzte Kommandeur des Bataillons Atlacatl. Des Weiteren der Unternehmer Enrique Rais, der vor knapp zehn Jahren in den Korruptionsfall der Banco de Fomento Agropecuario verwickelt war und damals für eine halbe Million Colones Kaution (ca. 60 000 Euro) auf freien Fuß gesetzt wurde; heute ist er Miteigentümer und Leitungsfigur von MIDES, der Firma, die die zentrale Mülldeponie von Groß-San Salvador betreibt, an der auch 10 FMLN-regierte Gemeinden beteiligt sind und deren Präsident Ex-General Orlando Zepeda im Bericht der Wahrheitskommission von 1993 als Kriegsverbrecher genannt wird. 

Enrique Rais soll Mauricio Funes eine beträchtliche Spende für dessen Wahlkampf gemacht haben – vielleicht im Hinblick auf eine künftige nationale Abfallpolitik, bei der die expandierende Firma MIDES sicher mitspielen möchte. Vielleicht auch nur, weil selbst bestimmte Unternehmerkreise von den 20 Jahren ARENA-Herrschaft voller Willkür, Korruption und Straflosigkeit genug hatten. Ähnlich mag es sich mit dem Großkredit verhalten, den Funes von der Unternehmerfamilie Nicolás Sálume erhalten hat – Nicolás Sálume Junior ist jedenfalls Präsident der noch staatlichen Elektrizitätsgesellschaft CEL, die das neue Wasserkraftwerk El Chaparral bauen lässt, das wegen der befürchteten Umweltschäden und Landvertreibungen umstritten ist.

Die ob solcher Zusammenhänge skeptischen ZuhörerInnen auf dem Kundgebungsplatz waren sicher in der Minderheit, verglichen mit all jenen AktivistInnen und SympathisantInnen, die ebenfalls gespannt auf Mauricio Funes’ Rede warteten. Politisch korrekt begrüßte er als erstes die Arbeiter und Arbeiterinnen, dann die Führer der sozialen Bewegung, seinen Vize Salvador Sánchez Cerén und schließlich die Genossin First Lady. Da gemunkelt worden war, man habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er am 1. Mai in San Salvador sein müsse und nicht in Chile (offiziell hat er diesen Termin wegen Problemen mit den Flugverbindungen verschoben), erinnerte er zuerst daran, dass er vor einem Jahr versprochen habe, gegebenenfalls als gewählter Präsident wieder bei der Maikundgebung zu sein – und es so auch in den kommenden Regierungsjahren handhaben werde. „Ich stehe hier als Arbeiter“, fuhr er fort, „und als Präsident werde ich euch in euren Kämpfen begleiten.“ Anders als klassische FMLN-FührerInnen, die selbstverständlich davon ausgehen, dass die Partei die Avantgarde der Arbeiterklasse bzw. des Volkes ist, und die vor diesem Hintergrund die Führungsrolle des Volkes betonen (El pueblo manda – „das Volk befiehlt“), unterstrich Funes zwar, dass „heute der Tag jener ist, die El Salvador bauen“. Doch im Anschluss wies er diesen Baumeistern dann klar ihren Platz zu: „Ihr werdet einen partizipativen Platz in meiner Regierung haben.“ 

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat also völlig Recht, wenn sie Mauricio Funes als Sozialdemokraten eingemeindet – tatsächlich hat er daraus auch nie einen Hehl gemacht. Angesichts bestimmter Befürchtungen, die mit seiner Geheimnistuerei um sein künftiges Kabinett zu tun haben, betonte er sodann, „ich weiche keinen Millimeter vor der Rechten zurück“, und mit den Führern der sozialen Bewegung habe man Mechanismen der Verständigung vereinbart. Leider erwähnte er die fehlende Einheit der sozialen Bewegung nur kurz, um sich dann wieder dem herbeigeströmten Volk zuzuwenden: „Dies ist ein Wechsel, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Es wird ein geordneter Wechsel sein. Um die Krise zu meistern, brauche ich eure Beteiligung und euer Verständnis.“ Man könne aber sicher sein, dass es „nicht ihr sein werdet, die die Zeche bezahlen“. Und dann die schon während des Wahlkampfes gesetzten Prioritäten: Beschäftigung, Unterstützung der Bauern und Bäuerinnen, Gesundheit, Bildung – Verbesserung des Lebensstandards.

Da es offensichtlich darum ging, am Tag der Arbeiterklasse die Treue zur Arbeiterklasse, zum Volk, zu den Wahlversprechen, zur neuen Hoffnung und zum cambio zu betonen, erwähnten Funes und sein Vorredner, der gewählte Vizepräsident Sánchez Cerén, die zentrale Strategie der kommenden Regierung und der Partei nur am Rande: die Herstellung der nationalen Einheit. Ob diese Politik gelingen wird, die mit dem erbärmlichen Zustand des Landes und der internationalen Wirtschaftskrise begründet wird und gleichzeitig an die alte Politik lateinamerikanischer Kommunistischer Parteien anknüpft, das Bündnis mit den „nationalen Bourgeoisien“ zu suchen, wird sich vielleicht nicht in den ersten 100 Tagen der Funes-Regierung, aber ziemlich bald herausstellen.

Schließlich fiel der 1. Mai auch mit den ersten 100 Tagen der Obama-Regierung in den USA zusammen. Obwohl schätzungsweise 2,5 Millionen SalvadorianerInnen in den USA leben und zeitgleich große Demonstrationen in Washington, Los Angeles und anderen Städten stattfanden mit den Forderungen, die Razzien an den Arbeitsplätzen und die Deportationen zu stoppen, endlich eine gerechte und humane Einwanderungsreform zu machen und die Verfolgung von Papierlosen mit lokalen und bundesstaatlichen Gesetzen und Verordnungen einzustellen, nahm dieses Thema am 1. Mai in San Salvador keinen breiten Raum ein. Obama mit seinem change und yes, we can und seinem Wahlsieg, der die lange Bush-Herrschaft beendete, war das Vorbild für die Funes-Wahlkampagne. Kurz vor dem 1. Mai hat Obama neuerlich betont, dass die Grenzsicherheit sein vorrangiges Ziel ist, um so zunächst das öffentliche Vertrauen in eine Einwanderungsreform zu gewinnen. Über die anhaltenden Razzien in den Betrieben, um Papierlose zu verhaften und anschließend abzuschieben, hat er bei dieser Gelegenheit wieder kein Wort verloren. Ähnlich versucht Funes das Vertrauen der Privatwirtschaft zu gewinnen, um wenigstens die bescheidenen Reformen und Verbesserungen, die sein Regierungsprogramm vorsieht, durchführen zu können.

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