In seiner Ansprache zur Eröffnung des parlamentarischen Jahres am 1. März 2024 stellte Milei seinen sogenannten Mai-Pakt vor, den er mit den Gouverneuren der Provinzen am 25. Mai in Córdoba unterschreiben möchte. Voraussetzung für diesen Pakt ist jedoch, dass das argentinische Parlament bis dahin die von Milei eingeleiteten Gesetzesänderungen (eigentlich eine Verfassungsreform durch die Hintertür, und zwar ohne vorherige Verfassunggebende Versammlung) angenommen hat. Nun fehlen noch etwa vier Wochen bis zum genannten Termin im Mai, und die federführende Abgeordnetenkammer hat sich noch nicht an die Arbeit gemacht, um das von ursprünglich 600 auf nun 279 Artikel abgespeckte „Basisgesetz“ zu beschließen. Strittig sind immer noch die Vollmachten, die das Parlament an die Exekutive abtreten soll, die Anpassung der Rentenzahlungen sowie der Länderfinanzausgleich zwischen Zentralregierung und Provinzregierungen. Mitte März lehnte der argentinische Senat die im Dezember 2023 herausgebrachte Notverordnung 70/2023 ab (siehe ila 473). Nur 25 von 72 Senator*innen stimmten für die Regierung, drei enthielten sich, 42 stimmten gegen die Notverordnung. Obwohl Javier Milei auf die Unterstützung eines Teils der Opposition und der Provinzgouverneure angewiesen ist, um seine Notverordnung umzusetzen, hat er das Parlament als „Rattennest“ beschimpft. Mittlerweile fungieren Innenminister Francos, Präsidentenberater Caputo sowie Kabinettschef Posse als Gesprächspartner für die Parlamentarier*innen, um die verbalen Ausfälle von Javier Milei abzupuffern. Die Regierung möchte mit der Notverordnung dem Internationalen Währungsfonds die Sicherheit vermitteln, dass die Regierung über den gesellschaftlichen Konsens verfüge, um die weitere Zahlung der Auslandsschulden zu garantieren.
Außenpolitik
Die Regierung setzt auf die totale Unterordnung der argentinischen Außenpolitik unter die Interessen der Hegemonialmacht USA. Damit verkennt sie den relativen Bedeutungs- und Machtverlust der kontinentalen Hegemonialmacht. Argentinische Diplomat*innen bemühen sich, die Biden-Administration bei Laune zu halten, während der amtierende Präsident die Wiederwahl des populistischen Kollegen Trump favorisiert. In den ersten 100 Tagen haben nicht nur US-Außenminister Blinken, sondern auch CIA-Chef Burns sowie die Oberbefehlshaberin des US-Southern Commands Richardson die argentinische Hauptstadt besucht. Unterzeichnet wurde ein Vertrag, der vorsieht, dass sich das Ingenieurkorps der US-Army nun auch um die Schiffbarkeit der südamerikanischen Haupthandelsachse auf der Wasserstraße Paraná-Paraguay kümmern soll.
Die USA versuchen, China von Lateinamerika fernzuhalten. China war in der Kirchner-Dekade zu einem der wichtigsten Handelspartner und zum größten ausländischen Investor geworden. Passend zur neuen Ausrichtung der Außenpolitik ist der Kauf von 34 chinesischen Abfangjägern abgesagt worden. Stattdessen soll Argentinien 24 ausgemusterte F-16 der dänischen Luftwaffe erwerben. Diese Flugzeuge sind so veraltet, dass sogar die Ukraine sie nicht kaufen wollte. In einem Fernsehinterview erklärte Milei: „Wir sind Verbündete der USA, sie haben uns sogar ein C-130 Flugzeug geschenkt.“ Dieser militärische Frachter war jedoch vorher schon mit einem Leasingvertrag für die argentinische Luftwaffe unterwegs.
Verteidigung, Sicherheit und Kriminalität
Sicherheitsministerin Bullrich und Verteidigungsminister Petri vertreten fast uneingeschränkt die Vorstellungen des US-Südkommandos. Beide wollen die Rolle der Streitkräfte verändern und sie auch im Landesinneren einsetzen. Dadurch soll der grundlegende Unterschied zwischen Landesverteidigung und Innerer Sicherheit aufgehoben werden. Um diese Veränderung durchzusetzen, wird nun der Drogenhandel (etwa in Rosario) als „Narcoterrorismus“ bezeichnet – ein polizeiliches Problem wird somit zu einer Frage der Landesverteidigung. Die Offiziere der argentinischen Streitkräfte finden diese Perspektive allerdings nicht besonders verlockend. Die Erfahrungen, die die Streitkräfte in Peru, Kolumbien oder Mexiko mit dem Drogenhandel gemacht haben, schrecken ab. Darüber hinaus sind die Streitkräfte von den Etatkürzungen des Staates betroffen. Die schrittweise Verbesserung der Offiziersgehälter, die unter der Regierung Fernández gestartet war, wurde eingestellt. So verdient ein Brigade-General heute dasselbe wie ein Polizeikommissar. Ferner wurde der Sonderfonds „FONDEF“ eingefroren, der eine Modernisierung der argentinischen Waffensysteme vorgesehen hatte. Vor diesem Hintergrund versucht Minister Petri, mit symbolischen Gesten die Streitkräfte bei Laune zu halten. Mitarbeiter*innen seines Ministeriums sollen inhaftierte Offiziere aus der Zeit der Militärdiktatur besucht haben, Petri selbst traf sich mit Familienangehörigen der wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilten Männer.
Ministerin Bullrich versucht die Einsatzbestimmungen der Sicherheitskräfte so zu lockern, dass Gewalt gegen Andersdenkende oder Demonstrierende gerechtfertigt werden kann. Da bereits Klagen gegen diese Aspekte der Notverordnung 70/2023 eingereicht worden sind, wartet man auf eine entsprechende Entscheidung des Obersten Gerichtes. Vizepräsidentin Victoria Villarruel zeigt hier eine abweichende Meinung: In einem ihrer wenigen Interviews sprach sie sich gegen den Einsatz der Streitkräfte im Inneren aus. Mit Verweis auf die 1970er-Jahre stellte sie fest, dass heute Offiziere wegen Menschenrechtsverletzungen in Haft seien. Sie fordert Gesetzesveränderungen, bevor es zu einem Politikwechsel komme. Villarruel liebäugelte vor der Amtseinführung von Javier Milei mit einer führenden Rolle im Sicherheits- oder Verteidigungsministerium, musste aber das Feld räumen, als Milei einen Pakt mit Bullrich-Petri-Macri schloss. Die Rechtsanwältin achtet darauf, sich keine Verstöße im Amt zu leisten, um bei einem eventuellen Amtsenthebungsverfahren gegen Milei nicht belangt zu werden. Im Hinblick auf die 1970er-Jahre fordert sie auch nicht die Freilassung der inhaftierten Menschenrechtsverbrecher, sondern die gerichtliche Verfolgung derjenigen, die damals am bewaffneten Kampf beteiligt waren. Am 24. März, an dem in Argentinien jährlich mit großen Demos an die Verbrechen der Militärdiktatur erinnert wird, veröffentlichte das Präsidialamt ein Video, in dem ausschließlich über die Gewalttaten der politisch-militärischen Organisationen berichtet wurde, die während der Amtszeit von Isabel Perón (1974-1976) verübt wurden. Knapp eine halbe Million Demonstrierende in Buenos Aires und etwa noch mal so viel im Landesinneren zeigten am selben Tag, dass es eine breite Mehrheit für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit gibt.
Laborversuche am lebenden Objekt
Der Rückgang der monatlichen Inflation von 25 auf 11 Prozent (im März 2024) wird von der Regierung als Erfolg gefeiert. Solche Scheinsiege werden auch im Hinblick auf das Staatsbudget und die Außenhandelsbilanz gefeiert. Das Staatsbudget war im März fast ausgeglichen, weil der argentinische Staat seit Monaten die Stromlieferanten nicht bezahlt. Gleichzeitig schulden argentinische Importeure ihren ausländischen Lieferanten mehr als neun Milliarden Dollar, weil kein Devisentransfer genehmigt wird. Die staatlichen Unis warnen, dass sie ab Ende Mai nicht mehr den Betrieb aufrechterhalten können, denn sie bekommen vom Staat dieselbe Summe wie 2023, was angesichts der Jahresinflation von 285 Prozent eine enorme Beschneidung ihres Budgets ist. Bauaufträge sind eingestellt, und allein in der Karwoche sind etwa 15 000 Staatsangestellte entlassen worden. Seit der argentinischen Militärdiktatur ist der Leitsatz „Achicar el Estado, es agrandar la Nación“ (den Staat zu verkleinern, bedeutet die Nation zu vergrößern) von fast jeder Regierung befolgt worden. Auch fortschrittliche Regierungen haben ihre Angestellten nicht dauerhaft an den Staat gebunden. Deswegen sind die Arbeitsverträge im öffentlichen Dienst seit Jahrzehnten auf ein Jahr befristet (sie werden manchmal bis zu 15-mal verlängert). In Argentinien gibt es weniger Staatsangestellte als durchschnittlich in westeuropäischen Ländern. Doch die amtierende Regierung lässt Verträge auslaufen und besetzt die Stellen nicht mehr neu, wodurch ganze Abteilungen (etwa die Büros der Rentenbehörde ANSES) verschwinden.
Die aktuelle Mindestrente von etwa 200 Euro soll erst im Juli erhöht werden – ohne Ausgleich für die Inflationsmonate davor. Krebskranke Menschen, die auf teure Medikamente angewiesen sind (die bisher vom Staat bezahlt wurden), sterben, weil die notwendigen Mittel nicht mehr fließen.
Während der heißen Sommermonate ging selbst der Verkauf von Softdrinks und Bier zurück. Normalerweise wird in dieser Jahreszeit die Hälfte des Jahresumsatzes erzielt. Mit dem allgemeinen Rückgang der Nachfrage wird für die kommenden Monate eine Entlassungswelle in der verarbeitenden Industrie erwartet. Gemäß den Vorgaben der österreichischen Wirtschaftstheorie[fn]Ultramarktradikale Theorie, die das Handeln des Individuums in den Mittelpunkt stellt und sich gegen Staatsinterventionen ausspricht.[/fn], der Maxime des Präsidenten und bisher nirgendwo auf der Welt angewandt, sind alle Preise der Versorgungsunternehmen dereguliert worden (dadurch sind mittlerweile Tariferhöhungen bei Strom, Gas und Wasser um 200 oder gar 300 Prozent normal). Allerdings nutzt die Regierung im Hinblick auf Tarifverträge, die sich nicht an die Vorgaben des Wirtschaftsministers halten, sehr wohl ihre Interventionsmacht und genehmigt sie einfach nicht.
Hoffnungsschimmer
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sind organisierte Arbeiter*innen, mobilisiert vom Gewerkschaftsdachverband CGT, und die Menschenrechtsbewegung zusammen auf die Straße gegangen, zunächst am 24. Januar und zuletzt am 24. März, dem Jahrestag des Putsches von 1976. Am 1. Mai soll es erneut eine Massendemonstration geben und am 9. Mai einen Generalstreik, wenn die bisher abgeschlossenen Tarifverträge nicht genehmigt werden.
Am 24. März überraschte der Vorsitzende der rechten Partei UCR, Senator Martin Losteau, die Öffentlichkeit, als er zusammen mit anderen Mitgliedern seiner Partei an der Kundgebung auf der Plaza de Mayo teilnahm. Er selbst hatte im Senat gegen die Notverordnung 70/2023 gestimmt, weitere 20 Abgeordnete der UCR nehmen ebenfalls eine oppositionelle Haltung gegen die Regierung von Milei ein. Eine weitere Überraschung war die Videobotschaft des ehemaligen Bürgermeisters der Stadt Buenos Aires, Mitbegründer der rechtskonservativen PRO, Horacio Rodríguez Larreta. Sein eigener Vater war während der Militärdiktatur verhaftet worden. Rodríguez Larreta äußerte sich kritisch zur Pseudo-Allianz zwischen der PRO-Partei von Ex-Präsident Macri und Mileis Partei LLA. Die größte oppositionelle Gruppe, die Peronisten, ist jedoch zerstritten und knabbert immer noch am Wahldebakel vom November 2023. Die ideologische Führungsrolle von Cristina Fernández de Kirchner wird zwar immer noch anerkannt, allerdings mehren sich die Stimmen gegen ihren Sohn Máximo und dessen Organisation „La Cámpora“, die in der Provinz Buenos Aires agiert.
Die alles entscheidende Frage lautet im Moment: Wie lange kann sich noch die Hoffnung auf bessere Zeiten halten, wenn währenddessen der Alltag immer schlimmer wird?