Nach der Zerschlagung der Strukturen und Instrumente der Korruptionsbekämpfung seit 2019 und der Vertreibung oder Inhaftierung der namhaftesten Demokrat*innen in Justiz, Medien und Menschenrechtsverteidigung waren im Vorfeld der diesjährigen Präsidentschaftswahlen die aussichtsreichsten Kandidat*innen ausgeschlossen worden, die nicht vom „Pakt der Korrupten“ kontrolliert wurden. Die prominenteste Betroffene war Thelma Cabrera, eine Mam-Maya, die seit Langem die Indigenenorganisation CODECA führt und die weißen Eliten des Landes bei der letzten Wahl mit einem unerwarteten zweistelligen Stimmenergebnis erschreckt hatte. Letztlich standen dieses Jahr 22 Kandidat*innen zur Wahl. Die Prognosen kreisten um die angenommenen Favorit*innen Sandra Torres von der UNE, Edmond Mulet von Cabal und Zury Ríos von Valor/Unionista.
Allseits überraschend gelang es aber am 24. Juni Bernardo Arévalo vom linken Movimiento Semilla, den zweiten Platz (rund 12 Prozent) hinter Sandra Torres (15,5 Prozent) zu erringen. Das heißt, bei einer zweiten Runde am 20. August werden die Wähler*innen zwischen der nach rechts abgedrifteten Torres und Bernardo Arévalo entscheiden können. Die Tochter des früheren Militärdiktators Ríos Montt, Zury Rios, schaffte es nur auf den siebten Platz und ist aus dem Rennen.
Bemerkenswert ist die hohe Zahl von Votos Nulo, also ungültig abgegebenen Wahlzetteln. Die ausgeschlossene Kandidatin Thelma Cabrera hatte dazu aufgerufen. Mit 17,5 Prozent (gegenüber 4,1 Prozent in 2019) ist dies ein sehr starkes Signal – für die verhinderte Maya-Kandidatin und für die Ablehnung des korrupten Staates. Zusammen gesehen mit dem guten Ergebnis des Movimiento Semilla werden hier reelle Chancen dafür sichtbar, dass am 20. August das Präsident*innenamt dem Pakt der Korrupten entwunden werden könnte.
Das Movimiento Semilla repräsentiert einen relativ neuen Anlauf, ein Links-Mitte-Projekt jenseits alter Ideologien und Parteienlogik aufzubauen. Die Initiative wurde 2014 von dem prominenten linken Soziologen Edelberto Torres und dem ebenso bekannten Ökonomen Juan Alberto Fuentes Knight gestartet. Beide haben Exil- und auch familiäre Repressionserfahrungen. So wurde Alberto Fuentes Mohr, der Vater von Fuentes Knight und damaliger demokratischer Hoffnungsträger, 1979 ermordet.
Semilla ist seit 2015 einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als die Organisation eine wichtige Referenz der Großdemonstrationen des sogenannten Guatemaltekischen Frühlings war, in dessen Folge der korrupte Präsident Otto Pérez Molina und seine Stellvertreterin Roxana Baldetti abtreten mussten. Die Studierendenbewegung zog damals die neu gegründete Gruppe als Berater*innen und Sprecher*innen in das Geschehen. 2018 konstituierte sich Semilla als Partei und nominierte 2019 die ehemalige Generalstaatsanwältin Thelma Aldana, die inzwischen das Land verlassen musste, als Präsidentschaftskandidatin. Analysten ordnen den Kern der Partei als „intellektuelle Elite der nicht-parteilichen Linken“ ein, oftmals aus der gehobenen Mittelklasse. Viele bringen Erfahrung aus öffentlichen Ämtern mit, zumeist aus der Amtszeit des sozialdemokratischen Präsidenten Álvaro Colom, sowie internationale Verbindungen. Bernardo Arévalo ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas, Juan José Arévalo. Mit den Namen Arévalo und Jacobo Arbenz, seines Nachfolgers, der 1954 durch einen CIA-Putsch gestürzt wurde, ist die einzige demokratisch-reformistische Regierungsphase (1945-54) in der Geschichte Guatemalas verbunden. Nach dem Putsch gegen Arbenz musste auch Juan José Arévalo ins Exil gehen, weshalb Bernardo 1958 in Uruguay geboren wurde. Der Soziologe war Botschafter in Spanien und stellvertretender Außenminister in der Zeit der Friedensverhandlungen unter Ramiro de León Carpio.
Die politische Karriere von Sandra Torres begann als Präsidentengattin an der Seite des Sozialdemokraten Álvaro Colom. Als Direktorin verschiedener Sozialfonds baute sie sich ein eigenes Profil auf und ließ sich später scheiden, um selbst für die Präsidentschaft kandidieren zu können, was sie bereits zwei Mal erfolglos tat. Sie hat ihre sozialdemokratischen Ursprünge weit hinter sich gelassen und wiederholt für die amtierende korrupte, repressive Regierung Mehrheiten beschafft.
Kaum jemand wagte bis zum Wahltag, Hoffnung und Zuversicht auf einen Wechsel im Interesse der ausgebeuteten Mehrheit und der geächteten Demokrat*innen in Guatemala zu äußern. Jetzt ist eine solche Option plötzlich da. Alles wird darauf ankommen, dass es dem Movimiento Semilla gelingt, die Hand zu einem gleichberechtigten und respektvollen Bündnis mit der indigenen Bewegung hinter Thelma Cabrera auszustrecken, und dass alle demokratischen und linken Kräfte mitziehen.