Wer weiß, was der efecto Mujica ist? Das ist einerseits eine der häufigsten Überschriften der letzten fünf Jahre in den uruguayischen Medien gewesen. Außerdem steht der Terminus dafür, verschiedene Veränderungen zu erklären, die angeblich dank der einzigartigen Persönlichkeit des uruguayischen Präsidenten José „Pepe“ Mujica möglich waren: wirtschaftlicher Aufschwung, Sozialprogramme, eine allgemein positivere Haltung im sonst eher depressiv-melancholischen Land am Río de la Plata. Pünktlich zu seinem Amtsende (am 1. März hat Tabaré Vázquez – wie sein Vorgänger Mujica vom Mitte-Linksbündnis Frente Amplio – zum zweiten Mal das Präsidentenamt übernommen) läuft hierzulande ein Film an, der diesen Politiker porträtiert. Ein „unübertreffliches Mediencharisma“ besitzt der scheidende Präsident, darin sind sich viele einig. Das spiegelt sich auch in dem Dokumentarfilm „Pepe Mujica. Der Präsident“ von Heidi Specogna und Rainer Hoffmann wider.
Ein befreundeter uruguayischer Journalist meinte: „Reite bei deiner Besprechung bitte nicht auf seinem Image vom ‚ärmsten Präsidenten der Welt‘ herum!“ Das ist schwer zu befolgen, zeichnet doch der Film selbst, zumindest am Anfang, eben genau dieses Bild mit Wonne nach. Er beginnt mit einem Brief von Pepe Mujicas Frau und Gefährtin, der Senatorin Lucía Topolansky, an die FilmemacherInnen, in dem sie sich an den „schönen Film“ erinnert, der Mitte der 90er-Jahre über sie gedreht wurde. 1997 kam der in der Tat anrührende Film „Tupamaros“ vom selben FilmemacherInnenduo in die Kinos, in dem u.a. Pepe und Lucía als ehemalige Stadtguerilleros und Diktaturgefangene porträtiert werden. Einige Aufnahmen aus dem älteren Film werden auch im aktuellen eingeflochten. Pepe und Lucía damals auf ihrer chacra, ihrem Stück Land, und in ihrem bescheidenen Häuschen; wie sie auf dem Moped zum Markt fahren, Blumen binden und verkaufen. Oder etwa die schöne Szene aus dem alten Film, in der Lucía erzählt, wie Pepe und sie sich im Untergrund kennengelernt haben und wie damals Beziehungen unter den Gueriller@s abliefen. Schließlich auch die amüsante Szene im Shoppingcenter von Punta Carretas (früher ein Knast!), in der auch Eleuterio Fernández Huidobro auftaucht, der damals noch ganz angenehm ‘rüberkommt und von ihrer Flucht aus dem Gefängnis plaudert – was für ein Kontrast zum heutigen Verteidigungsminister Huidobro, der lieber gegen NRO polemisiert als zur Aufklärung der von Militärs begangenen Menschenrechtsverbrechen beizutragen (siehe Beitrag auf S. 48f). Pepe Mujica wirkt da schon kohärenter mit sich selbst und seiner eigenen Geschichte, zumindest auf den ersten Blick.
Die FilmemacherInnen reisten nun nach Uruguay, um die Fortsetzung des Films von 1997 zu drehen. Pepe und Lucía leben immer noch in ihrem bescheidenen Häuschen; Pepe gibt nach wie vor den bodenständigen Typen vom Lande, der Anekdoten erzählt und für jede Situation ein passendes Zitat parat hat, etwa aus der Bibel: „Der glücklichste Mensch hat kein Hemd“ – Mujicas Statement gegen Hektik und Konsum. „Im zweiten Blick hat sich alles und doch nichts verändert“, schreiben die FilmemacherInnen selbst. Zu sehen ist auch, wie alt und mitunter müde Mujica geworden ist. Da wird nichts beschönigt, vielleicht ein bisschen zu viel inszeniert: Pepe als kurioser Kauz, der immer wieder grummelnd aus dem Bild geht oder unwirsch fragt: „Habt ihr immer noch nicht angefangen zu filmen? Jetzt bringt den Film doch mal zu Ende!“ In dieser Szene bezieht er sich dann auf die Sachzwänge in der Politik, mit den Menschen, nicht mit den Gesetzen, die beißen nicht. Aristoteles hat dazu gesagt: ‚Als die Menschen Gesetze machten, waren die Götter zugegen. Als es darum ging, sie anzuwenden, waren sie nicht mehr da.‘“ Ja, ein führender Politiker, erst recht der Regierungschef, muss viele Widersprüche aushalten und mit sich ausfechten. „Es gibt keinen Kurs, in dem man lernt, Präsident zu sein“, seufzt Mujica. An dieser Stelle im Film könnten eigentlich die konkreten Probleme auch mal benannt werden. Doch dies geschieht leider nicht. Dabei hat es durchaus Kritik und Protest von links während seiner Amtszeit gegeben, es war nicht immer alles eitel efecto Mujica: Proteste gegen die skandalöse Vergangenheitspolitik der Frente Amplio-Regierung, der ungebrochen extraktivistische Kurs mit Eukalyptus- und Sojaplantagen, die Kriminalisierung von Landbesetzungen, die Pläne im Departement Rocha, einen neuen Tiefseehafen zu bauen (übrigens in Zusammenarbeit mit Bolivien: Ende Februar reiste der bolivianische Präsident Evo Morales eigens an, um das Projekt zu besiegeln, Mujicas letzte wichtige Amtshandlung) oder auch das umstrittene Bergbauprojekt Aratirí, ebenfalls in Rocha. Doch leider kein Wort davon im Film.
Stattdessen andere Stationen in Mujicas Präsidentschaftszeit, etwa sein Besuch in Deutschland. Gezeigt wird ein Präsident, der im ICE sitzt und besorgt um sein Land ist. Er fragt seine Mitarbeiter, welche Uhrzeit gerade in Uruguay ist. „Versucht mal den Arbeitsminister zu erreichen!“ Er wäre lieber zu Hause geblieben, aber sein Außenminister habe ihn über ein Jahr lang damit genervt, diese Reise anzutreten. Bei seiner Rede in Berlin wirkt er wie ein Besucher vom anderen Stern. Mujica lässt einen diffusen moralischen Appell vom Stapel, gerichtet an die „Wirtschaft, um Verantwortung zu übernehmen“. In der nächsten Einstellung ist er zu sehen, wie er Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz eine Gauchofigur schenkt. Das wird dann nur noch von dem Dialog mit Angela Merkel getoppt: „Ich saß noch nie in einem so großen Auto.“ – „Ah, ja?“ – „Zu Hause habe ich einen Volkswagen, einen Käfer.“ – „Fahren Sie damit jeden Tag oder nur am Wochenende?“ – „Am Wochenende.“ – „Ah ja. Alles Gute!“
Zurück nach Uruguay. Gezeigt wird ein historischer Tag, der 10. Dezember 2013. Um genau 21:25 Uhr ist das Ergebnis klar: 16 SenatorInnen stimmen für, 13 gegen das Gesetz zur Legalisierung der Produktion, des Vertriebs und Verkaufs von Marihuana. Eine politische Entscheidung, mit der Uruguay weltweit Schlagzeilen machte. Der Film zeigt die Debatten im Parlament, die Kundgebungen auf der Straße und fängt den Jubel auf den Zuschauerrängen und vor dem Parlamentspalast ein, als das Abstimmungsergebnis bekannt wird. Linke KritikerInnen meinen, dass die als „bahnbrechend“ gehandelten Gesetze, über die viel geredet wird, eigentlich nur Nebenschauplätze betreffen, dass also eher bei „weichen Themen“ Fortschritte unter der Frente Amplio erreicht worden sind: gleichgeschlechtliche Ehe, Marihuanalegalisierung, Entkriminalisierung der Abtreibung.
Neben diesem einen konkreten politischen Projekt konzentriert sich der Film stark auf die Persönlichkeit seines Protagonisten, Mujicas bescheidener Lebensstil, seine ziemlich authentische Sorge um die soziale Gerechtigkeit, seine außergewöhnliche Gabe, die Menschen mit Anekdoten und Zitaten zu ergreifen, zu bezaubern und einzulullen. So manch einer meint, dass Mujica mal das, am nächsten Tag das Gegenteil davon vertrete. Auf jeden Fall ist er ein gewiefter Pragmatiker und geschickter Rhetoriker, so zum Beispiel auch in seiner Radiosendung im Sender M 24, Habla el Presidente („Der Präsident spricht“). Dort führt er aus, was hinter der Marihuanalegalisierung steckt: „Unser Land ist voller alter, gesunder Menschen. Wir müssen unsere Neuronen verjüngen, den Anschluss nicht verpassen.“ Und dieses Gesetz soll ein Schritt auf die Jugend zu sein. „Das passiert doch eh’ schon vor unseren Augen. Wir müssen die Realität der jungen Leute verstehen.“
Der Präsident spricht gerne zum Volk. Das kann er gut, etwa bei der Einweihung einer neuen Siedlung mit Sozialwohnungen: „Es ist an der Zeit, endlich mal zu geben, zu teilen. Die Kritiker sagen vielleicht: ‚Es ist besser, den Leuten das Fischen beizubringen, als ihnen Fisch zu geben.‘ Aber wenn wir ihnen vorher die Boote und die Angeln weggenommen haben, bringt das doch auch nichts!“ Mujica solidarisiert sich mit alleinerziehenden Müttern: „Wir Männer sind Entfesselungskünstler, machen uns aus dem Staub und lassen die Frauen mit den Kindern alleine zurück. Das sind Kinder, keine Katzen!“, das ist schon ergreifend und amüsant zugleich. Später reflektiert er über die Nachhaltigkeit dieser sozialpolitischen Maßnahmen. Mit einer Wohnung allein sei es natürlich nicht getan, um die Armen dauerhaft aus ihrem Elend zu befreien. „Das ist nicht die Revolution, das ist nicht der Sozialismus. Aber es schafft ein Minimum an Würde.“
An dieser Stelle kann man nicht anders, als Mujica beizupflichten; ähnlich ist es bei der Szene, wo er über die Unterschiede zwischen früher und heute sinniert: „Die Jugend von heute hat nichts mehr, wofür sie brennt, keine bessere Welt. Sie wollen schnell mit der Uni fertig werden, einen guten Job bekommen und Geld verdienen. Sie glauben an nix und haben ein Misstrauen der Politik gegenüber. Mir gegenüber allerdings nicht so sehr. Aber ich sehe auch, dass es eine oberflächliche Liebe ist. In ein paar Jahren, wenn sie dann fürchterliche kleine Bourgeois geworden sind, werden sie nicht das geringste Problem damit haben, einen Job in einer multinationalen Firma zu haben. Ich sage aber auch nicht, dass früher alles besser war.“ Da ist er wieder, der Märchenonkel, der so einnehmend zuspitzen kann.
Den FilmemacherInnen ist es gelungen, bewegende Momente einzufangen, so die erwähnte hart umkämpfte Abstimmung zur Marihuanalegalisierung, immerhin waren im wertkonservativen Uruguay etwa 60 Prozent der UruguayerInnen zum Zeitpunkt der Abstimmung gegen die Legalisierung, oder auch die Szene von Mujicas Amtsantritt 2010, wie Pepe und Lucía sich umarmen. Mujica wird dieses Jahr 80 Jahre alt, die neun Jahre jüngere Lucía wirkt wesentlich vitaler als er. Die First Lady und Senatorin hält ihm den Rücken frei und sagt über sich selbst, dass sie die „Heizerin“ sei, „die die Kohle nachschaufelt“.
Der Film kommentiert nichts mit Worten, alle können ihre eigenen Schlüsse ziehen. Leider geht dadurch einiges auch unter, bestimmte Ambivalenzen, die nicht explizit benannt, höchstens erahnt werden können. Hat Pepe Mujica, der ehemalige radikale politische Kämpfer, seine ursprünglichen Absichten verraten? Oder hilft er mit seinem Wirken im Amt, diesen Zielen doch ein kleines Stück näher zu kommen? Er selbst scheint sich der Ambivalenz bewusst zu sein, schließlich rechtfertigt er immer wieder die Prozesshaftigkeit des Wandels, die Langsamkeit der Veränderungen.
Hin und wieder kommen auch atmosphärische Aufnahmen auf die Leinwand: Leute vor ihren neuen Häusern, Candombe tanzend; ein Fischer, der an der Uferpromenade einen Tango singt; ein junger Rasta, der Gitarre spielt; Tangopaare auf der Plaza de Entrevero; Kinder, die durch halbfertige Rohbauten laufen. Blitzlichter, die unspektakulär, aber auch so typisch uruguayisch sind. Trotz des insgesamt etwas zu wohlwollenden Blicks auf den Präsidenten gibt der Film einen berührenden Einblick in das Uruguay von heute und sei somit allen empfohlen, Uruguayfans allemal.