Um sich von einem Mythos zu verabschieden, muss man vorher einen aufgebaut haben. In diesem Sinne geht die Ent-Täuschung auch mit dem Abbau der eigenen Täuschung einher. Das können oft am besten – aber auch am verbittertsten – diejenigen, die sich zuvor dafür engagiert haben, dem Mythos auf die Beine zu helfen. Projektionsflächen, Helden und Hoffnungsträger gab und gibt es in Cuba reichlich, wobei die Helden immer älter und die Erwartungen immer kleiner wurden. Wesentlich dazu beigetragen haben weltweite Prozesse, die gerade kleinen und vor allem abhängigen Wirtschaftseinheiten den Boden unter den Füßen wegzogen.
Die gesellschaftliche Utopie scheiterte nicht zuletzt an den harten Realitäten des Kalten Krieges, der keinen dritten Weg zuließ, schreibt auch Bahrmann, der in der DDR durch seinen Bestseller „Piraten der Karibik“ und später bei Weltkreis mit dem Schwarzbuch „Killerkommando: CIA. Contras in Nicaragua“ bekannt wurde. Darüber hinaus gab es auch in Cuba genügend weitere Anlässe und Entwicklungen, die bei aller Solidarität kritisch zu begleiten, zu bewerten und zu hinterfragen sind.
Nicht erst seit dem Zusammenbruch des RGW und jetzt dem Ende der Unterstützung durch Venezuela stellt sich bei immer noch existierender Wirtschaftsblockade die drängende Frage, wie es wohl weiter gehen soll und was von dem, was Cuba von den anderen unterentwickelt gehaltenen Ländern unterscheidet, noch „rübergerettet werden kann“.
So reisen auch viele älter gewordene Solidaritätsbewegte „noch einmal“ nach Cuba, meist um schmerzlich zu erleben, wie sehr sich der Spruch bewahrheitet, dass „Wirtschaft zwar nicht alles ist, aber ohne (funktionierende) Wirtschaft eben alles nichts ist“. Und so erlebt man (vielleicht) das touristisch geführte und funktionierende Cuba auf der einen Seite und die zunehmende Not und den Zerfall auch hoch gehaltener Ideale auf der anderen Seite.
Bahrmanns Buch beginnt, wie gesagt, mit einer Enttäuschung. Der Autor bekommt nicht das von ihm schon seit langem gebuchte Hotelzimmer. Cuba ist überbucht, seitdem Obama die freundlichere Seite der USA und Aussicht auf Veränderungen gebracht hat. Da helfen auch keine intimen Kenntnisse im Umgang mit der cubanischen Verwaltung des Mangels und auch kein Wink mit Devisen. Diese persönliche Enttäuschung ist aber nur ein Anflug von dem, was Hannes Bahrmann am Ende seiner Reise an „kritischer Bilanz“ und Entkleidung des „Mythos“ Cuba niedergeschrieben hat.
„Mein Ziel“ – so schreibt er – „war es, zusammenzutragen, was sich wie ereignet hat und warum es so gekommen ist. Ich betrachte die Dinge von außen und bemühe mich, keine Schuld zuzuweisen. Jede der beteiligten Seiten hatte Gründe für ihr Handeln, manchmal gute – manchmal weniger gute. Am Ende steht die Frage: Hat sich das große Gesellschaftsexperiment gelohnt?“
Herausgekommen ist – gut und flott geschrieben – quasi ein Schwarzbuch Cuba, das mit dem Intro beginnt, Cuba sei vor der Revolution ein zwar ungerechtes, aber reiches Land gewesen. Hinzugefügt werden müsste: es war auch eine Militärdiktatur und das Bordell der USA. Gegen Ende des Buchs wird Robin Hood bemüht, den zwar die Armen liebten, solange es etwas gab, was den Reichen weggenommen wurde, der aber keinen Plan hatte, was denn produktiv zu tun sei. Dabei beginnt das erste Ausbluten des Reichtums in Cuba mit dem Sturz Batistas, der nicht unerhebliche Millionen mit ins Exil genommen hat.
Bis zum Sieg der Revolution war Ernesto „Che“ Guevara für vieles gut. Aber danach war er als Industrieminister mit seiner Illusion eines „neuen Menschen“ für eine der größten Wirtschaftskatastrophen verantwortlich, die Cuba auch ohne Blockade der USA in die Arme des RGW getrieben hätte.
Die Handelsblockade tat und tut ihr Übriges. Sie verunmöglicht es einem Agrarland, vor der Haustür Handel zu treiben, und zwingt es, gewaltige Umwege zu machen. Dazu kam Anfang der 1960er-Jahre eine Invasion von in den USA trainierten Contras in der Schweinebucht. Bis zur „Perestroika“ sicherte dann die UdSSR das Überleben, die Cuba in ihr sozialistisches Wirtschaftsbündnis eingliederte – und für ihre Zwecke nutzte.
Die andere mythische Lichtgestalt ist natürlich Fidel Castro. Bahrmann sieht ihn nicht nur als Volkstribun, sondern als Staatschef mit Frauengeschichten, privatem Luxus und Privilegien, was man im Detail wie im Vergleich zu den Kapriolen anderer Staatschefs hinterfragen kann.
Schließlich gab es immer Funktionäre mit Privilegien, zum Beispiel eine größere Wohnung oder einen Dienstwagen. Dabei war die cubanische Gesellschaft im Vergleich zu ähnlichen Ländern oder Wirtschaftseinheiten bei allen Widersprüchen in den letzten Jahrzehnten eher egalitär – und ist es noch. Hat aber früher eine größere Wohnung nur mehr Wohnkomfort bedeutet, bietet sie heute die Möglichkeit, ein Zimmer oder auch eine ganze Wohnung zu vermieten, und damit die Perspektive erheblicher Deviseneinnahmen.
Es gab durchaus gewaltsame Unterdrückungsmaßnahmen, die gern mit der vorherigen Situation (Batista), mit Verhältnissen in den Staaten ringsum oder mit dem aggressiven Machtverhalten der USA aufgerechnet und erklärt werden, aber „in einer besseren Welt“ nicht wirklich gerechtfertigt werden können. Ein prominentes und viel diskutiertes Opfer war der bis dahin hoch gelobte General Ochoa, der unter dem Vorwand des Drogenhandels hingerichtet wurde. Darüber hinaus fehlt es nicht an Namen, die Opfer staatlicher Repression wurden und werden, was Bahrmann wohl dazu bewegt hat, vor seinem Abschlusskapitel noch einmal die Kriterien für eine Diktatur aufzulisten und die Batista-Diktatur mit der, wie er sie nennt: Castro-Diktatur zu vergleichen .
Die Zeit „nach Che und den Castros“ nähert sich mit Riesenschritten. Während Bahrmann fragt, ob sich die letzten 60 Jahre gelohnt haben, ist die spannendere Frage, wie die cubanische Gesellschaft mit der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit mit all ihren Schattenseiten umgeht, und das vor dem Hintergrund des eigenen Anspruchs, einer Utopie oder eben eines Mythos. Hat das Gesellschaftssystem in Cuba dabei in der Realität wirklich nichts (mehr) zu verlieren? Zu nennen wären etwa das – sicher unter der Wirtschaftskrise leidende – Gesundheitswesen mit einer Grundstruktur, die familiennah auf Prävention ausgerichtet ist und besser sein könnte, wenn genügend Medikamente da wären; oder die gegenüber anderen lateinamerikanischen Staaten deutlich bessere Schulbildung – allerdings zunehmend ohne die Lehrer, die inzwischen in Miami sind; oder auch die vergleichsweise immer noch hohe Sicherheit vor Kriminalität und Staatsgewalt, wenn man nicht als Dissident gegen die Nomenklatura auftritt.
Nicht umsonst sind auch cubanische GesundheitsarbeiterInnen und LehrerInnen im Ausland gefragt und waren etwa bei der Alphabetisierungskampagne und dem Aufbau der Gesundheitsposten in Nicaragua oder zuletzt nach dem Erdbeben in Haiti und bei der Ebola-Epidemie in Westafrika zur Stelle. Bahrmann bewertet dies alles – gelinde gesagt – „pessimistisch“ und weist zu Recht darauf hin, dass auch cubanische Soldaten ein gefragter Exportartikel waren.
Enttäuscht von den eigenen Anstrengungen und Hoffnungen in der DDR und mit intimer Kenntnis von deren Herrschafts- und Lenkungsmechanismen bekennt Bahrmann: „… ich war im Sozialismus nicht auf Urlaub, sondern habe zuvor 37 Jahre meines Lebens in der DDR gelebt und erkenne Details und Strukturen wieder“. Folglich konzentriert sich sein Blick auf Fehler und Fehlentwicklungen in der cubanischen Revolution und bei deren ProtagonistInnen. Vielleicht mehr noch als bei uns in der BRD verband sich in der DDR die Hoffnung auf Cuba und Nicaragua mit der Möglichkeit von Veränderung auch im eigenen Land. So muss es noch mehr schmerzen, mit anzusehen, dass nach dem Niedergang der DDR trotz allen Wissens um die Ursachen das Gleiche noch einmal in Cuba passiert, ohne dass Lehren aus der Geschichte gezogen wurden – oder werden konnten?
Auch wenn bewusst kein „Ausblick“ und keine Prognose gewagt werden, gibt Bahrmann einen ernüchternden Einblick in das jetzige Cuba, in dem die Partei und der damit verbundene Militärapparat die einzigen funktionierenden ökonomischen Institutionen sind.
Dabei fehlt bei Bahrmann jede „Zärtlichkeit“ eines solidarischen Blickes oder vielleicht auch nur ein verstehendes Wohlwollen in der Perspektive. Für ein abgerundetes Sachbuch fehlt meines Erachtens auch der Vergleich mit den anhaltenden Krisen marktwirtschaftlicher Wirtschaftssysteme und mit den umgebenden lateinamerikanischen Ländern. Und es fehlt auch eine eigene Idee. Die gab es in der DDR nach der Wende und bevor u.a. die Treuhand auch die noch funktionierenden oder instandsetzbaren Teile der DDR-Wirtschaft überrollte reichlich. Auch wenn angesichts des Mythos „blühender Landschaften“ nichts davon umgesetzt werden konnte, tauchten damals eine Menge konstruktiver Ideen für eine Zeit nach dem Abgang der DDR auf.
Wahrscheinlich ist die Frage nach Cubas Zukunft noch schwerer zu beantworten, wenn es um die Utopie einer „gerechteren Gesellschaft“ in eher agrarorientierten Wirtschaftsformen geht. Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, welche hinderlich, wenn es den „neuen Menschen“ nicht gibt? Wie gut kann und muss dann das Staatswesen sein, damit möglichst viel Ertrag geschaffen und gerecht verteilt wird, und das ohne eine Mauer und ohne die USA auf den Contra-Plan zu rufen? Wie motiviere ich die, die mehr wollen und vielleicht auch können, zu bleiben, statt zu gehen?
Aber diesen Fragen stellt sich das Buch nicht. Es verabschiedet sich – schonungslos – vom Mythos, und das gründlich, mit den Augen und dem Wissen eines in der DDR sozialisierten Journalisten, der einen Blick dafür hat, was falsch lief. Die Enttäuschung scheint dabei so niederschlagend, dass ihm selbst cubanische Engagements in Angola, Nicaragua und Grenada fragwürdig erscheinen. Beim Lesen des Buches kam mir der Gedanke, ob ich jetzt folgern müsse, dass die USA gegenüber Cuba, Nicaragua oder Grenada zu Recht oder verständlich ihre Machtpolitik umgesetzt hätten.
Hätte ich das Buch in die Hand und Anstoß genommen, wenn es von einem Auserwählten der Konrad-Adenauer-Stiftung geschrieben und in einem entsprechenden Verlag veröffentlicht worden wäre? Wahrscheinlich nicht, ich hätte es wohl durchgeblättert und zur Seite gelegt. Von einem Autor allerdings, der zu DDR-Zeiten ein Schwarzbuch zu CIA und Contras mit deutlich anderer Ausrichtung geschrieben hat (das in den „Angaben zum Autor“ nicht mehr erwähnt wird, sondern nur noch seine Publikationen nach der Wende), hätte ich eine solche Lesart nicht erwartet. Also habe ich das Buch zweimal gelesen. Es gibt eine Idee vom Jetzt – und keine schöne Aussicht auf eine bessere Zukunft. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen.
Die Hoffnung des Rezensenten ist dennoch, dass es Kräfte in den staatlichen Institutionen und den Nachbarschaftskomitees gibt, die soziale Standards verteidigen können.
Was das Verhältnis zu den USA angeht, ist mit der Initiative von Präsident Obama einiges in Bewegung gekommen. Sein Besuch in Havanna soll nach dem Willen seiner Berater in seiner Bedeutung der Visite seines Vorgängers Nixon in China gleichkommen, die das Ende der Eiszeit zwischen den beiden Staaten einläutete.
Am Ende des Buches schildert Bahrmann folgende Episode: Die Gebäude, die Obama in der Altstadt passierte, waren neu gestrichen worden, die Straßen neu gepflastert. Die letzten Bauarbeiten waren nur wenige Stunden vor seiner Ankunft beendet worden. Als Obama kam, riefen ihm Bewohner einer Seitenstraße zu: „Komm auch hier lang – aber bring besser den Asphalt gleich mit!“
Das könnte der nächste US-Präsident tatsächlich machen, aber er wird es nicht umsonst tun.