Alfonso, du bist in Berlin geboren, deine Eltern sind aus Chile. Wie kamst du darauf, Berimbau zu spielen?
Ich sah den Meister des Berimbau-Spiels im Fernsehen, Naná Vasconcelos, leider mittlerweile verstorben. Vasconcelos tat viel für die Bekanntheit des Instruments, das normalerweise bei der Kampfkunst Capoeira gespielt wird. Dort hat es eine spezifischeFunktion. Die Capoeira wurde ja von versklavten Menschen während der Kolonialzeit praktiziert, um sich zu bewegen und fit zu bleiben, aber auch zur Selbstverteidigung. Die Wissenschaft kann leider kein genaues Datum angeben, ab wann der Berimbau in der Capoeira eingesetzt wurde.[fn]Ethnologen und andere Wissenschaftler beschreiben das Instrument bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts.[/fn] Als einer der ersten benutzte Naná Vasconcelos das Musikinstrument in einem anderen Kontext. Vasconcelos stammte aus Recife, spielte in den 70er-Jahren in den USA mit Pat Metheny zusammen und mit anderen internationalen Jazz-Größen der damaligen Zeit.
Aber zurück zu meiner persönlichen Berimbau-Geschichte: Mit etwa 18 Jahren kaufte ich mir meinen ersten Berimbau in einem Percussion-Laden in Westberlin. Den habe ich heute noch. Nicht die Kalebasse, die ist schon lange hinüber, aber den Bogen. Da klebt sogar noch das Preisschildchen drauf: 60 D-Mark! Mit dem Ding begann ich herumzuexperimentieren, ohne irgendeine Ahnung zu haben. Das war Ende der 80er, ich spielte damals überwiegend in Salsa-Bands. Eines Tages lernte ich einen Brasilianer aus São Paulo kennen. Er war Musiker und Trommelpriester der afrobrasilianischen Candomblé-Religion. Er zeigte mir, wie man es richtig spielt; so lernte ich die ersten Toques, also die Spielweise und Motive des Instruments.
Wie wird das Berimbau-Spielen üblicherweise gelehrt?
Egal ob Samba, Capoeira oder die Rhythmen der Salsa – die Kulturtechniken Afrolateinamerikas werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Bestimmte Techniken lernst du mittlerweile auch an Schulen, aber üblicherweise kommst du über die Capoeira an das Instrument.
Der Musikbogen Berimbau stammt ursprünglich aus Afrika, aus Angola. Bei den afrikanisch geprägten Rhythmen in Lateinamerika gibt es häufig eine Dreiteilung mit einer tiefen, einer mittleren und einer hohen Stimme. Zwei dieser Stimmen halten einen gemeinsamen Rhythmus, während die dritte relativ frei darüber variiert und mit dem Tanz oder der Bewegung dazu verbunden ist. Beim Berimbau heißt die tiefe Stimme Gunga, die mittlere Meia und die hohe Viola. Letztere ist diejenige, die sich relativ frei bewegt.
Die unterschiedlichen Rhythmen haben spezielle Namen, zum Beispiel der zu Beginn einer Capoeira-Runde gespielte, langsamere Angola oder der schnellere São Bento Grande. Das sind die Rhythmen, die man als erstes lernt. Ein anderer, der Benguela, geht auf den Namen einer Stadt im Westen Angolas zurück. Bei manchen Rhythmen spielen alle Berimbaus genau das Gleiche, bei anderen variieren sie.
Die Berimbau-Spieler waren auch Aufpasser. Wenn zum Beispiel die berittene Polizei kam, wurde ein Rhythmus gespielt namens Cavaleria, als Warnung sozusagen. Dann switchten die Capoeiristas um: vom Kampfritual hin zum harmlosen Tanz, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei zu provozieren. Dieser Rhythmus ist recht schnell, mit dem Stein wird ein spezifischer Ton produziert, kein offener Ton, eher ein Sch-Schsch-Sch-Sch.
Der Musikethnologe Christian David Sauer erläutert den Bedeutungswandel des Cavaleria-Rhythmus: Heutzutage kündige er herannahende Tourist*innengruppen an, wodurch die Spieler „zu einer dramatischen, martialisch-akrobatischen Spielweise angeheizt“ würden, um den Tourist*innen etwas Kleingeld zu entlocken.
Ja, das passt, schließlich ist dieser Rhythmus ein Ausruf: Hej, wir sind jetzt nicht mehr unter uns!
Ich selbst habe in Deutschland eine Zeit lang Capoeira praktiziert. Du gehst zu einer Gruppe und wirst dort eingegliedert. Irgendwann bekommst du den Berimbau in die Hand gedrückt und spielst mit den anderen mit. Hier in Deutschland gibt es im Rahmen einer Capoeira-Runde eine Stunde, in der nur die Instrumente erklärt und gespielt werden. Nach und nach eignest du dir immer mehr Wissen und Praxis an. Oder du triffst dich mit einer Person, die das Instrument sehr gut spielt, um weiter zu lernen.
Wie ist die Lebensdauer eines Berimbau? Eine Geige etwa kann, wenn gut gepflegt, über Jahrhunderte hinweg weitervererbt werden.
Der Bogen ist ewig haltbar. Er ist etwa 1,50 Meter lang und aus massivem, gleichzeitig biegsamem Holz vom Biriba-Baum. Zur Pflege muss er ab und zu eingeölt werden. Wichtig ist, dass er immer wieder gespannt und gespielt wird. Die Saiten sind Drähte aus dem Radlager von Autoreifen. Die am Stock befestigten Kalebassen gehen mit der Zeit kaputt und müssen ausgetauscht werden. Wenn du sie gut pflegst, können sie aber bis zu 40 Jahre lang halten.
Ich selber habe etwa fünf oder sechs komplette Bögen und zwei Kalebassen, die ich noch bestimmten Stöcken zuordnen muss, die Größe der Kalebasse muss zur Dicke des Stocks passen. Manchmal hast du ein Instrument oder eine Kalebasse in der Hand und denkst: Wow, was für ein Klang! Die nutzt du nur für ganz bestimmte Gelegenheiten. Andere hingegen sind reine Gebrauchsgegenstände. Wenn ich heute einen Berimbau kaufen wollte, würde ich zu meinen Capoeira-Kumpels gehen, die bringen ständig neue Instrumente aus Brasilien mit. Oder eben vor Ort in Brasilien, beim Instrumentenbauer deines Vertrauens.
Meinen Stab, mit dem die Saite angeschlagen wird, gebe ich nur ungern her. Auch der Stein, den ich von meinem ersten Berimbau-Lehrer bekam, hat eine besondere Bedeutung für mich. Du entwickelst zu jedem Instrument, das du spielst, eine Beziehung. Beim Berimbau ist das vielleicht stärker ausgeprägt, weil es so ein fragiles Instrument ist, oder auch aufgrund seiner spirituellen Bedeutung.
Der Berimbau ist im Jazz und durch weltoffene Musiker wie Paul Simon popularisiert worden, hat sogar Eingang in den Heavy Metal gefunden, über die Band Sepultura. In der westlichen (Musik-)Welt hat er gemeinhin jedoch einen Exotenstatus. Wie ist der Stellenwert des Berimbau im Percussion-Unterricht an der Hochschule?
An normalen Hochschulen spielt er fast gar keine Rolle. Percussionisten kennen und schätzen aber das Instrument. Viele spielen es, aber es gibt sehr viel mehr, die es nicht können. Es ist überhaupt nicht einfach, das Ding zu spielen. Mir persönlich ist es leicht gefallen, weil mir die Art zu spielen liegt. Aber jedes Mal, wenn ich versuche, es Studierenden hier an der Hochschule beizubringen, dauert das! Die linke Hand tut dir nach zwei Minuten weh, weil du mit dem abgespreizten kleinen Finger, dem Ring- und Mittelfinger den Bogen hältst und gleichzeitig zwischen Daumen und Zeigefinger den Stein hast.
Das muss vielleicht genauer erklärt werden: Zum Berimbau gehören nicht nur Bogen und Kalebasse, sondern auch der Vadero (Stein oder Münze), der Stab, Baqueta, und das Rasselkörbchen, Caxixi.
Der Stein korrespondiert mit dem Draht: Wird er gegen den Draht gedrückt, ist der Ton geschlossen, ansonsten hast du einen offenen Ton. Je nachdem, wo du den Stein ansetzt, ist es ein Ganzton, der sich verschiebt. Bei dem Cavaleria>-Rhythmus wird der Stein zum Beispiel nur leicht gegen den Draht bewegt, so dass ein Zischen entsteht. Das passiert alles mit der linken Seite, mit der du gleichzeitig die Auf- und Zu-Bewegungen des Bogens vornimmst, womit du einen Wah-Wah-Effekt – wie bei der elektrischen Gitarre – erzielst. Mit der rechten Hand hast du den Stab, und zwischen kleinem Finger und Ringfinger klemmt die Caxixi, das Rasselkörbchen. Entweder willst du es still haben, dann bewegst du wie beim chinesischen Essstäbchen nur die Finger, die den Stab halten. Wenn du willst, dass es mitraschelt, bewegst du die ganze Hand. Insgesamt sind es etwa acht oder neun Bewegungsmuster, die du ständig koordinieren musst.
Die komplexe Halte-, Spiel- und Anschlagtechnik erfordert Koordination, Geschick und Kraft – besonders die Finger der linken Hand müssen bestimmt zunächst trainiert werden, um den Bogen halten zu können. Wie lange braucht man, um das Instrument einigermaßen spielen zu können?
Das Erlernen eines Instruments geht dein Leben lang. Wenn ich bei einer Capoeira-Runde höre, was für Töne ein Berimbau-Spieler, der kein Musiker ist, aus dem Bogen herausholt, denke ich mir: Ich muss mich mehr damit beschäftigen! Wir Percussionisten, die viele verschiedene Instrumente spielen, sind stets mit diesem Problem konfrontiert: Du beherrschst ein Instrument. Aber andere, die es mehr, vielleicht ausschließlich spielen, sind so viel besser als du. Wenn du Capoeira spielst, vielleicht drei Mal die Woche an einer Roda teilnimmst, weil es dich gepackt hat, und das Instrument zu Hause übst, kannst du den Berimbau vielleicht schon nach einem halben Jahr gut spielen, also die funktionellen Rhythmen der Capoeira beherrschen. Wenn du es als Percussionist anwenden willst, wirst du relativ schnell die komplexen Bewegungen hinbekommen. Du könntest aber wahrscheinlich nicht in einer Capoeira-Gruppe mitmachen, weil du die Rhythmen noch nicht kennst.
Obwohl das alles sehr anspruchsvoll ist, blickt die (westliche) Musikwelt häufig auf Percussion-Instrumente herab.
Der Berimbau ist einerseits ein nationales Symbol, andererseits rümpfen bestimmte Kreise in Brasilien die Nase darüber. Sie nehmen es als „dreckiges“ Instrument wahr, das von Herumtreibern gespielt wird. Und hierzulande nerven die ewigen Klischees. Wenn du etwas Brasilianisches spielst, heißt es direkt: ‚Oh, der Samba, oh, Rio de Janeiro‘. Nein. Das ist Samba-Reggae aus Bahia. Und das hier ist Maracatu aus Pernambuco.
Zusammen mit Peter Fessler spiele ich in der Formation Duophonic, in der ich auch den Berimbau nutze. Wir haben eine schöne Cover-Version des Songs „Berimbau“ von Baden Powell und Vinícius de Moraes. Der Song ist verwoben mit einem Grundrhythmus der Capoeira, dem São Bento Grande.[fn]https://www.youtube.com/watch?v=qcHTXrW3J8&ab_channel=MarceloFortuna[/fn]Wenn wir das Stück spielen, beginne ich mit einem langen Intro auf dem Berimbau. Nach jedem Konzert kommen Leute auf mich zu und fragen: „Diesen Bogen habe ich ja noch NIE gesehen, was ist das denn?!“ Er erregt auf jeden Fall sehr viel Aufmerksamkeit.
Aber für viele bleibt er fremd, selbst in meiner Band Heavytones, in der ich das Instrument teilweise einsetze. Einer meiner Kollegen meinte einmal: „Das ist doch gar kein richtiges Musikinstrument.“ Leider triffst du immer wieder auf eurozentristische Vorbehalte! In einem Repertoire der Band Heavytones nutzte ich das Berimbau, um mit einem Solo von einem Song zum nächsten überzuleiten. Unser Trompeter kündigte das scherzhaft an: „Unser Percussionist spielt gleich auf seiner Angel.“ Und was stand wenige Tage später in der Zeitung? „Der Percussionist spielte ein außerordentliches Solo – auf einer handelsüblichen Angel.“Das Gespräch mit Alfonso Garrido führte Britt Weyde am 16. November 2021 per Zoom.