Unsicherer Rechtsrahmen

Es ist keine große Überraschung, dass sich Präsident Temer und sein Außenminister José Terra so sehr bemühen, die Verhandlungen über die Freihandelsverträge wieder aufzunehmen. Dieser Prozess war in bestimmten Punkten bereits von Präsidentin Dilma Rousseff gestartet worden, die den Abschluss einiger Abkommen mit Nachbarländern (Chile, Peru, Kolumbien) sowie mit Mexiko vorangetrieben hatte. In den bereits abgeschlossenen Abkommen gibt es Kapitel über Investitionen (die sogenannten Abkommen für Kooperation und Erleichterung von Investitionen – ACFI – mit Angola, Mozambique, Mexiko und Malawi, allerdings ohne die berühmten Klauseln zur Konfliktlösung zwischen Staat und Investor) sowie den Einbezug von Themen wie geistiges Eigentum und Regierungsaufträge (wie bei den Abkommen mit den südamerikanischen Ländern). Was unter der Regierung Temer neu zu sein scheint, ist die Bereitschaft, über Themen wie Dienstleistungen, Regierungsaufträge, geistiges Eigentum und Investitionen zu verhandeln, und zwar in den Begrifflichkeiten, die typisch für die „neue Generation“ von Abkommen ist, die aktuell diskutiert werden. Diese Begrifflichkeiten werden selbst in Situationen offensichtlicher Asymmetrie zwischen den beteiligten Ländern angewandt, was die möglichen Auswirkungen auf die jeweilige Bevölkerung verstärkt und gigantische, fast schon immerwährende Beschränkungen für die Entwicklung eigenständiger sozial- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen der Unterzeichnerländer mit sich bringt.

Mit Hilfe dieser Abkommen setzen sich die Machtinteressen der großen transnationalen Unternehmen und des einen reichsten Prozent der Welt durch und gefährden damit nicht nur bestimmte Rechte, die in den nationalen Gesetzgebungen erstritten worden sind, sondern auch die Demokratie selbst. Schließlich werden mit Hilfe dieser neuen institutionellen Struktur die Macht des Reichtums und des Vermögens vorherrschend sein. Wenn die Regierung Temer in dieser Richtung weitermacht, könnte sie eine Reihe von Rechten für das nationale und vor allem das transnationale Großkapital etablieren.

Dass sich die Regierung Temer so beeilt, in kürzester Zeit in einem komplexen Verhandlungsprozess Resultate zu erzielen, könnte die Ergebnisse auf einer wackeligen Grundlage stehen lassen. Ein Warnsignal war etwa, dass der Minister für Entwicklung, Industrie und Außenhandel, Marcos Pereira, am 20. Juni (als er noch Interimsminister war) ankündigte, dass Brasilien versuchen werde, sich formal den multilateralen Verhandlungen über das Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen, TiSA (Trade in Services Agreement) anzuschließen, die innerhalb der Welthandelsorganisation WTO stattfinden und die von den USA und der EU unter absoluter Geheimhaltung vorangetrieben werden (die Ergebnisse der Verhandlungen sind nur dank Wikileaks bekannt geworden). Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass die US-amerikanische Regierung noch vor November dieses Jahres dieses Abkommen abschließen möchte, das so sensible Bereiche wie Gesundheitswesen, Bildungswesen, Energie, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen und Transport umfasst. Diesem Spiel zu einem Zeitpunkt beizutreten, kurz bevor die Verhandlungen abgeschlossen sind, bedeutet, die vorgegebenen Bestimmungen des TiSA anzunehmen. Dies ist ein enormes Risiko für die errungenen Rechte der brasilianischen Bevölkerung im Hinblick auf Dienstleistungen sowie für die Entwicklungsmöglichkeiten des Landes. 

Im Hinblick auf einige der Verhandlungen, die schon zuvor gestartet waren, wie etwa zwischen dem Mercosur und der EU, bedeuten die Vorschläge der neuen brasilianischen Regierung, dass es eine Neuausrichtung für alles seit 1995 Ausgehandelte gibt. Der kritischste Punkt bei diesem neuen Format besteht darin, dass ein sicherer Rechtsrahmen für die internationalen Investoren geschaffen werden soll, doch der konfuse und umstrittene politische Prozess, der Temer an die Regierung gebracht hat, sorgt für einen höchst unsicheren Rechtsrahmen für die Verhandlungen mit Brasilien und sogar mit dem Mercosur (innerhalb dessen die Schritte der Regierung Temer außerdem bestehende Widersprüche zugespitzt haben). Die brasilianischen Unterhändler sehen ihre Legitimität und Vertrauenswürdigkeit auf der internationalen Bühne in Mitleidenschaft gezogen.

Ähnliches passiert in anderen Bereichen. So verweigert Brasilien Ende letzten Jahres beim Ministertreffen der WTO in Nairobi seine Zusammenarbeit bei einem Vorschlag Indiens für politische Maßnahmen zur Lagerung von Lebensmitteln innerhalb der G20 (einer Gruppe von Schwellenländern, die sich seit dem Ministertreffen der WTO im Jahr 2003 in Cancún zusammengetan hatten, um vor allem beim Thema Landwirtschaft mehr Verhandlungsmacht zu haben). So setzte Brasilien die strategische Allianz mit Indien aufs Spiel, auf deren Grundlage die Gruppe der G20 innerhalb der WTO erst entstanden war, ein wesentliches Instrument für Brasilien in diesem Rahmen. Kurz, Brasilien ist gerade dabei, schnellst­möglich die außenpolitische Ausrichtung der letzten zehn Jahre rückgängig zu machen, die der ehemaliger Außenminister Celso Amorim „aktiv und aufrecht“ nannte.

Die strittigen Punkte weisen auf eine explizite Verbindung zwischen einerseits dem Wirtschaftsprojekt, das die Regierung Temer starten möchte, mit der starken Tendenz, die Interessen der großen Unternehmensgruppen zu begünstigen, und den internationalen Beziehungen andererseits.

Hierbei wäre es vielleicht interessant zu fragen, ob eine Regierung, die auf unsicheren juristischen Füßen steht und eine konfliktreiche parlamentarische Grundlage hat, mit einem kurzen Mandat und internationalen Legitimitätsproblemen, eine derart weitreichende Agenda von konservativen Maßnahmen vorantreiben kann oder ob nicht ihre eigenen Widersprüche, sowohl die inneren als auch die mit ihren internationalen Verbündeten, die Regierung so weit schwächen werden, dass ihre Unfähigkeit, diese Agenda voranzutreiben und solch strategische Zerstörungen anzurichten, offensichtlich wird. Die Regierung Temer agiert mit der Eile derjenigen, die vieles in kürzester Zeit ändern möchten, und damit zeigt sie vielleicht nur einmal mehr, dass sie nach wie vor lediglich eine Übergangsregierung ist.