In den westdeutschen Bundesländern steht der VW-Käfer wie kein anderer PKW für die Automobilisierung der Gesellschaft. Als Auto, das sich nicht nur Begüterte sondern auch Angehörige der unteren Mittelschichten und schließlich auch die Arbeiterklasse leisten konnten, wurde er zudem zum Symbol des „Wirtschaftswunders“der fünfziger und sechziger Jahre.
Aber nicht nur für die alte BRD hat der rundliche Kleinwagen eine große emotionale Bedeutung. Auch in Mexiko steht der Vocho (abgeleitet von Volkswagen) für eine Epoche wirtschaftlichen Aufschwungs in den sechziger und siebziger Jahren und des Zugangs der wachsenden Mittelschichten zu einem eigenen Fahrzeug.
Ebenso wie der Käfer hierzulande als das „deutsche Auto“ schlechthin gesehen wird, gilt er auch in Mexiko als originär nationales Gefährt, schließlich wurden die Vochos, die auf Mexikos Straßen unterwegs waren (und in geringem Umfang immer noch sind) dort auch gebaut, überwiegend im VW-Werk in Puebla unweit der Megametropole Mexiko-Stadt.
In seinem 2019 erschienenen Buch „El Vocho es mexicano“ untersucht Simon Hirzel, wie der von Ferdinand Porsche in den dreißiger Jahren im Auftrag der Nazis entwickelte „Volkswagen“ Jahrzehnte später in Mexiko zu einem nationalen Symbol werden konnte. Der Autor hat in Bonn und Berlin Ethnologie studiert, seine Masterarbeit liegt dem vorliegenden Buch zugrunde. Neben seinem Studium war und ist Simon auch in der Lateinamerika-Soliarbeit aktiv, zunächst in Berlin bei den Lateinamerika-Nachrichten, seit seinem Umzug nach Bonn in der Redaktion der ila.
Zunächst referiert Simon einige grundlegende Arbeiten zur psychologischen und ethnologischen Diskussion über die Bedeutung des Automobils für Menschen „in Gesellschaften, in denen es als individuelles Haupttransportmittel benutzt wird“. Gerade im Zusammenhang mit der notwendigen massiven Reduktion der Treibhausgase ist dieses Kapitel äußerst aufschlussreich. Die von Simon zitierten Arbeiten zeigen, dass das Auto für viele seiner Benutzer*innen weit mehr ist als ein Verkehrsmittel, mit dem man sich von A nach B bewegen kann. Es gilt als privater Raum und wird als Voraussetzung individueller Freiheit gesehen, nämlich dorthin zu fahren, wohin man möchte. Autofahren, vor allem schnelles Fahren, wird zudem von vielen, vor allem von Männern, als positives körperliches Gefühl wahrgenommen. Mit dem ersten Auto, das jemand bewegt hat, sind außerdem häufig positive Jugenderinnerungen an frühe Reisen, verrückte Ausflüge und Ähnliches verbunden. Zudem gibt es offenbar, vor allem unter den in Deutschland in den vierziger und fünfziger Jahren und in Mexiko ein Jahrzehnt später Geborenen, viele Leute, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen in einem PKW, namentlich dem VW-Käfer, gemacht haben. Nicht wenige Autobesitzer*innen geben ihrem Auto Namen, erheben es also in den Status von guten Bekannten.
Angesichts des emotionalen Verhältnisses zahlreicher Nutzer*innen zum Auto wird die absolute Notwendigkeit der Reduzierung des Individualverkehrs auf erhebliche Widerstände stoßen – und das nicht nur in den Industriestaaten. Das bedeutet auch, dass Konzepte wie das der imperialen Lebensweise zu kurz greifen, wenn die nur geographisch im Norden verortet wird.
Aber zurück zum Thema des Buches. Wie kam der VW-Käfer überhaupt nach Mexiko? Simon zeigt, dass Volkswagen und einige deutsch-mexikanische Geschäftsleute bereits in den fünfziger Jahren begannen, auf dem bis dahin vor allem von den US-Autokonzernen beherrschten mexikanischen Automobilmarkt Fuß zu fassen. Angesichts wachsender Mittelschichten sah man für die VW-Modelle, maßgeblich den Käfer, in Mexiko einen neuen Markt für preisgünstige Kleinwagen, den die US-Autobauer mit ihren großen und teuren Modellen nicht bedienen konnten. So begann VW bereits in den fünfziger Jahren ein Netz von Vertragshändlern und -werkstätten aufzubauen, um die aus Deutschland importierten Autos zu vermarkten.
Wie alle größeren lateinamerikanischen Staaten setzte auch Mexiko in den sechziger Jahren auf eine nachholende Industrialisierung. Dabei war internationales Kapital durchaus willkommen. Aber es sollte seine Produkte nicht nur nach Mexiko liefern, sondern sie auch dort herstellen. So verlegte VW zunächst die Endmontage der in Wolfsburg gefertigten Fahrzeugteile nach Mexiko, ehe mit dem Werk in Puebla Autos komplett in Mexiko gebaut wurden, wobei die Entwicklung der Modelle weiter in Deutschland erfolgte.
Der erwähnte ökonomische Aufschwung in den sechziger und siebziger Jahren bescherte dann auch Mexiko einen Autoboom, wobei der Kreis derer, die sich einem PKW leisten konnten, wesentlich kleiner war als im Nachkriegsdeutschland. Er dürfte kaum mehr als 20 Prozent der mexikanischen Familien umfasst haben, der ganz überwiegende Teil der Arbeiter*innen gehörte nicht dazu.
Aber anders als in Deutschland wurde der Vocho nicht nur individuell genutzt, sondern vor allem auch als Taxi. Von den sechziger Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrtausends waren die meisten Taxis in Mexiko-Stadt und anderen Großstädten des Landes VW-Käfer. Da Taxifahren in Lateinamerika weniger exklusiv ist als in Europa, hat wohl die Mehrheit der mexikanischen Großstädter*innen zumindest gelegentlich in einem Vocho gesessen. Erst als 2003 im Zuge der Maßnahmen zur Bekämpfung des Smogs in Mexikos Metropole keine neuen Vochos mehr als Taxis zugelassen wurden und ihr Einsatz 2013 in der Hauptstadt ganz verboten wurde, verschwanden die grünen Käfer aus dem Stadtbild, das sie über Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt hatten. Wenn man bedenkt, welche enorme Bedeutung die klobigen schwarzen Taxis Londons für das Selbstbild und das Image Englands haben, kann man sich vorstellen, wie der Käfer/Vocho Mexikos Selbstwahrnehmung mit geprägt hat.
Das Verbot der Neuzulassungen von Vochos als Taxis bedeutete auch das Ende seiner Produktion in Mexiko. In Deutschland war die Fertigung des Käfers bereits 1978 eingestellt worden. Bis 1985 bot VW das Modell hierzulande zwar noch an, aber die zwischen 1978 und 1985 (und in verschiedenen Sonderaktionen sogar noch bis 1996) in der BRD verkauften Käfer wurden allesamt in Mexiko gebaut. Dort wurde die Produktion des Vocho Ende Juli 2003 eingestellt.
Von all dem erzählt Simon Hirzel im ersten Teil seines Buches, in dem er auch auf die Entstehungsgeschichte des Käfers in Nazideutschland eingeht. Im zweiten Teil können die Leser*innen viel Interessantes über die Leute erfahren, die bis heute am Mythos des Vocho weiterstricken: Künstler*innen, Sammler und Motorfreaks, die die Vochos aufmotzen, tunen und damit Rennen fahren. Aus diesen Gruppen hat er ganz unterschiedliche Leute besucht und mit ihnen Interviews geführt. Dass ich nur bei den Künstler*innen die gegenderte Schreibweise verwende, ist nicht zufällig. Das Sammeln und Restaurieren von Autos sowie die Tuning- und Rennfahrerszene scheinen weiterhin eine Männerdomäne zu sein, zumindest kommen im Buch nur männliche Repräsentanten zu Wort. Dagegen sind zwei der drei Interviewten, die sich künstlerisch mit dem Vocho auseinandersetzen, Frauen.
Für die bildenden Künstler*innen, die sich in ihren Arbeiten mit dem Vocho beschäftigt haben, stand das Auto für sehr unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge. Für das Künstler*innenpaar Quirarte & Ornelas war er Teil der eigenen Biographie. Als erstes Auto verbanden sich damit Erinnerungen an die Studienzeit, den Beginn ihrer Beziehung und ihre ersten künstlerischen Erfolge. Die Malerin Betsabeé sah im Vocho dagegen ein Symbol für die ökologische Destruktivität des Individualverkehrs.
Den meisten Sammlern geht es um die Bewahrung von Erinnerungen an die eigene Jugend und des durch die Käfer-Taxis geprägten Stadtbilds der mexikanischen Metropole. Neben einigen versierten Bastlern und Mechanikern, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben und ihre Kunden in der Vocho-Szene suchen und finden, sind die meisten der Sammler eher vermögende Leute. Gut erhaltene Vochos werden heute hoch gehandelt. Für Modelle in schlechtem Zustand sind wiederum hohe Summen erforderlich, um sie wieder in den Originalzustand zu versetzen. Dass alles oder möglich viel „original“ sein muss, ist den Sammlern enorm wichtig. Da es vor allem den Taxifahrern ziemlich egal war, ob ein Ersatzteil original war, weil eine Reparatur möglichst wenig kosten durfte, suchen die Sammler auf Ersatzteilbörsen, im Internet und sogar in Deutschland immer nach VW-Originalteilen, um ihre Gefährte wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Entsprechend werden die aufwendig restaurierten Sammlerfahrzeuge fast nie im normalen Straßenverkehr genutzt, sondern nur für Ausfahrten mit Gleichgesinnten, etwa bei den regelmäßigen Zusammenkünften der verschiedenen Vocho-Vereine oder den von deren Dachverband organisierten nationalen Treffen.
Wenig mit dem von den Sammlern angestrebten Ursprungszustand haben die hochfrisierten Vochos der Tuningszene zu tun. Ihren Eigentümern geht es vor allem darum, möglichst viele PS in der Karosserie eines Käfer unterzubringen. Sie wollen mit ihren Wagen Rennen fahren und das Größte ist es, wenn sie mit ihren 400 bis 500 PS starken Gefährten die ebenfalls hochfrisierten US-Limousinen bei den in Mexiko und den USA beliebten Viertel-Meilen-Rennen besiegen. Dann besiegt der vermeintlich schwache David, sprich der mexikanische Kleinwagen, einmal mehr den überlegenen Goliath, nämlich den US-Straßenkreuzer.
Simon hat sich bei seinen Recherchen (gegen die von Soziolog*innen, Ethnolog*innen und Anthropolog*innen so gerne benutzte Formulierung „Feldforschung“ und ihre Beobachtungen „im Feld“ wehrt sich mein Antimilitarismus-Gen) viel in den Szenen der Künstler*innen, Sammler, Schrauber und Rennfahrer bewegt und sich mit deren Motivation und emotionaler Beziehung beschäftigt. Dabei begegnet er allen seinen Gesprächspartner*innen im Buch sehr respektvoll und nimmt sie ernst, auch wenn man sich als Leser*in über manche von deren Aussagen durchaus wundern oder amüsieren kann.
Am Beispiel des Vocho als einem nationalen Symbol zeichnet Simon so ein lebendiges Sittenbild der mexikanischen Gesellschaft. Natürlich ist eine wissenschaftliche Arbeit keine Unterhaltungslektüre, aber da Simon es in den meisten Passagen des Buches vermeidet, eine allzu wissenschaftlich-akademische Sprache zu benutzen, ist es gut lesbar. Sehr hilfreich ist, dass viele Darstellungen und Aussagen durch über 100 Fotos illustriert sind. Für mich war „El vocho es mexicano“ eine sehr anregende Lektüre, bei der ich viel Neues gelernt habe.