Unterwegs mit Freaks und Frömmlern

Brasilien ist ein riesiges Land. Mit 8,5 Millionen Quadratkilometern ist es fast doppelt so groß wie die 28 Länder der Europäischen Union zusammengenommen. Der Münchener Schriftsteller Zé do Rock hat Brasilien per Anhalter durchquert und darüber ein Buch geschrieben. Bücher über Reisen hat er schon mehrere geschrieben, denn Zé do Rock ist so etwas wie ein Reiseschriftsteller, obwohl er ganz anders schreibt als die meisten anderen, die so bezeichnet werden, oder auch nicht, denn er hat alles, was einen guten Reiseschriftsteller auszeichnet: Er ist ein genauer Beobachter, er lässt sich auf Land und Leute ein, er hat eine soziale Sensibilität, ohne dabei in Sozialromantik zu verfallen, und er kann das, was er dabei mitbekommt, sehr gut in Worte fassen. Doch wie er das tut, das ist dann doch schon besonders. Ihm geht es nicht – oder zumindest äußerst selten – darum, grandiose Naturschauspiele, außergewöhnliche Rituale oder ferne Städte darzustellen, sondern er schreibt über skurrile Begegnungen, spezielle Typen und Momente voller Situationskomik. Dass er dies dann noch entsprechend zuspitzen und verdichten kann, zeichnet ihn als Autor aus.

Die zweite Besonderheit ist seine Sprache, die unsere LeserInnen vor kurzem noch in seinen Beiträgen „Vileicht lernen die leut“ in der ila zur brasilianischen Literatur (Nr. 365) und „Der Urururur-Groszvater, der gleichzeitig Ururururururururur-Groszvater war“ in unserem Schwerpunkt zu „Familienzuständen“ (Nr. 366) begegnet ist. Zé do Rock ist fasziniert von Sprachen. Allerdings findet er in den meisten Sprachen vieles unlogisch oder zu kompliziert. Das gilt besonders für das Deutsche, für das der Autor eine Reihe von satirischen Reform- und Alternativvorschlägen gemacht hat, und diese in seinen Büchern dann auch verwendet.

Nun schreibt er also über eine Reise durch Brasilien. Das ist insofern besonders, als Zé do Rock brasilianische Wurzeln hat. Er wurde in Porto Alegre geboren, hat dort seine frühe Kindheit verbracht und ist in São Paulo aufgewachsen: „Ich bin auf der wikipedia als berühmter deutshbrasilo aufgelistet, bin aber nur ein 2:8-deutshbrasilo, maximal 3:7, in der abstammung 3/8 deutsh, in 4. oder 5. Generation, in Brasil geboren, hab nur a brasiliano pass, bin eer wenig deutsh sozialisiert worden, konnte trotzdem deutshe kinderlider singen, kannte Max und Moritz.“ Bei einem anderen deutsch-brasilianischen Schriftsteller, der auch lange in München zu Hause war, nämlich Thomas Mann, ist Zé do Rock zufolge die Gewichtung eine ganz andere: „zwar war die mama brasila, aber gemishte deutsh-brasila, und der papo war deutsho. Er ist in Deutschland aufgewaxen, sprach nur deutsh und wurde ungern darauf angesprochen, das er auch brasiliano wurzeln hatte. Sozusagen ein 9:1 deutshbrasilo.“

Begonnen hat Zé do Rock seine Tour in der venezolanischen Stadt Santa Elena an der Nordgrenze Brasiliens, die ihn dann durch 16 Bundesstaaten bis in die brasilianisch-uruguayische Grenzstadt Chui/Chuy im äußerste Süden des Riesenlandes führte. Dabei hat er Leute interviewt, die ihm unterwegs begegnet sind oder die ihn in als Tramper mitgenommen haben. In vielen Passagen schreibt er explizit gegen die Klischees an, die in Deutschland (in Österreich und der Schweiz dürfte es ähnlich sein) über Brasilien in Umlauf sind, seien es die erotischen Frauen, die Fußballverrücktheit, die Favelas, die Kriminalität. Diesen versucht er entgegenzusetzen, dass Brasilien in vielem gar nicht so anders ist.

Hüben wie drüben gibt es eine breite – in Teilen gleichermaßen ignorante – Mittelschicht, viel zu viele Autos, leben die meisten Leute in Städten. Natürlich gibt es auch Unterschiede. So hat Brasilien bei allen Widersprüchen ihr gegenüber eine Regierung, die die Armut bekämpft und sie nich ausgeweitet hat. Religion ist sehr viel wichtiger als hierzulande, aber nicht, wie man im größten katholischen Land der Welt erwarten könnte, der Katholizismus, sondern ein fundamentalistisch-evangelikaler Protestantismus. Viele, die den Tramper Zé mitnahmen, versuchten ihn gleich zu missionieren, wie er schreibt; evangelische Kirchen – oft in Garagen, ehemaligen Kinos oder Fabrikhallen – sind allgegenwärtig. Auffallend auch, dass viele seiner nichtevangelikalen GesprächspartnerInnen Affinitäten zu asiatischen Religionen erkennen lassen, was damit zu tun haben mag, dass er sich häufig in Ex-Hippiekreisen bewegt hat.

Dies alles beschreibt er äußerst humorvoll, aber mit relativ wenig Wertung, höchstens mit dem lapidaren Hinweis, dass dies oder jenes nichts für ihn wäre. Manchmal ist er sich auch für einen Kalauer nicht zu schade oder er provoziert absichtlich mit der ein oder anderen Formulierung politisch allzu korrekte LeserInnen. Er mag es ganz offensichtlich nicht, wenn man ihm Vorschriften macht, besonders wenn sie von SprachmoralistInnen oder militanten NichtraucherInnen kommen.

Dagegen liebt er das Spiel – mit Konventionen, mit Erwartungen und vor allem mit der Sprache. Das „linguistische Element“, das alle seine Bücher haben, besteht diesmal darin, das er ein „portugalian deutsh“, also ein Deutsch mit einzelnen (leicht verständlichen) portugiesischen Einsprengseln benutzt. Zusätzlich passt er in verschiedenen Passagen das Idiom dem jeweiligen Thema an. So verwendet er, als er einen von der Gregorianik und der Musik des europäischen Mittelalters inspirierten Musiker trifft, plötzlich auch mittelhochdeutsche Wörter. Oder er nähert sich in seiner Sprache dem niederdeutschen Platt an, als er den Besuch eines von pommerischen Einwanderern geprägten Ortes beschreibt.

Wer also Brasilien mag oder etwas über das Land erfahren will, gerne beim Lesen auch einmal lacht und Sprachspielereien nicht abgeneigt ist, soll sich „per anhalter durch die brasilianische galaxis“ besorgen, zum Selberlesen oder auch zum Verschenken.

Zé do Rock: per anhalter durch die brasilianische galaxis, A 1 Verlag, München 2013, 176 Seiten, 11,90 Euro