Uruguay muss sein Potential nutzen – nicht zerstören

Ernst, du bist seit rund 80 Jahren in linken Zusammenhängen aktiv. Dabei setzt du dich vor allem für die Verbesserung der Lebensbedingungen der sozial Schwächeren ein und hast Widerstand gegen die Diktaturen in Deutschland und Uruguay geleistet. Seit einigen Jahren engagierst du dich verstärkt zu ökologischen Themen. Du gehörtest zu denjenigen, die in der linken Wochenzeitung Brecha vor einigen Jahren eine kritische Debatte zur Atomenergie initiiert haben. Wie kam es zu dieser Hinwendung zu einem ökologischen Engagement?

Das war ich nicht alleine, das ist ein Engagement der Casa Bertolt Brecht in Montevideo. Das Brecht-Haus war früher das Kulturinstitut der DDR, wurde aber von einem uruguayischen Verein getragen, in dem ich auch aktiv war. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus haben wir uns neu orientiert und Partner gesucht. Wir begannen auch, uns verstärkt mit Umweltfragen auseinanderzusetzen. Dabei kamen wir in Kontakt mit der Heinrich-Böll-Stiftung. Der haben wir verschiedene Vorschläge für Kooperationsprojekte im Umweltbereich unterbreitet, die sich auf die Realität Uruguays bezogen, wie etwa Verkehr oder Wasserversorgung. Bei deren Umsetzung lernten wir die uruguayische Umweltorganisation Redes (vgl. Interview mit Selva Ortiz in dieser ila) kennen, mit der wir dann häufig zusammengearbeitet haben. Atomkraft hatten wir zunächst nicht im Blick, weil es in Uruguay keine AKWs gibt und ein Gesetz den Bau von Atomkraftwerken und sogar den Import von Atomstrom ausschließt.

Erst als unter der Regierung von Tabaré Vázquez, also der ersten Linksregierung, die Möglichkeit eines AKW in Uruguay geprüft werden sollte, haben wir uns dieses Themas angenommen und es in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Ich habe dazu auf unseren Reisen in Deutschland Material gesammelt und auf dieser Basis in der Wochenzeitschrift Brecha kritische Artikel zur Atomenergie veröffentlicht. Wir haben uns als Casa Bertolt Brecht auch an mehreren Anti-Atom-Veranstaltungen in Montevideo beteiligt. Und schließlich kam der Moment, als 38 Abgeordnete des Europaparlaments im Mai zu einer europäisch-lateinamerikanischen Parlamentarierkonferenz nach Uruguay kamen. Gaby Küppers schlug vor, diese Gelegenheit zu nutzen und eine internationale Konferenz zur Atomenergie zu organisieren. Wir haben das sofort aufgegriffen und unter den Titel „Nach Fukushima verabschiedet sich Europa von der Atomenergie. Was tut Lateinamerika?“ gestellt. Diese Konferenz haben wir zusammen mit Redes organisiert und dafür das Parlamentsgebäude bekommen. 

Als SprecherInnen nahmen die beiden Europaabgeordneten Catherine Grèze von den französischen Grünen und Jürgen Klute von der Linken aus Deutschland, der uruguayische Senator und frühere Energieminister Daniel Martínez, der argentinische Atomspezialist Juan Carlos Villalonga und Gaby Küppers teil. Diese Veranstaltung war sowohl, was den Besuch, als auch die Resonanz in den Medien anging, ein voller Erfolg. Der kam aber nicht aus heiterem Himmel, sondern ist das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt Beschäftigung der Casa Bertolt Brecht mit ökologischen Themen.

Das Verhältnis der Linken zur Ökologie ist nicht unkompliziert. Einerseits hat die Neue Linke in Europa schon relativ früh die Bedeutung der Ökologie erkannt und seit den siebziger Jahren die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung mitorganisiert. Andererseits haben viele traditionelle Linke und Gewerkschafter eine sehr produktivistische Ideologie. Kampf um Verteilungsgerechtigkeit heißt für sie, dass möglichst viel produziert werden muss, um viel verteilen zu können. Dafür sind sie teilweise sogar bereit, sich für Destruktivtechnologien wie Atomenergie und Gentechnik aussprechen. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Ich würde die Frontstellung nicht unbedingt so sehen. In Uruguay haben die Gewerkschaften der beiden großen staatlichen Energiekonzerne, nämlich der Erdölraffinerie und der Elektrizitätswerke, an der Vorbereitung der gerade erwähnten Konferenz mitgearbeitet und dafür mobilisiert. Diese Gewerkschaften hatten bereits vor Fukushima große Zweifel an einem möglichen AKW geäußert und dann mit ihrer Unterstützung der Konferenz eindeutig Stellung bezogen.

Aber du hast durchaus recht, immerhin war es die Regierung der Frente Amplio, also der Linken, die das Thema Atomenergie in Uruguay überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es ist immer schwierig abzuschätzen, welche Interessen da im Einzelnen dahinter stecken. Ich vermute, dass das eine Konzession an die Blancos (zweitstärkste Partei in Uruguay, Mitte-Rechts orientiert) war, die sehr dezidiert pro-Kernkraft sind. 

In Uruguay gab es zwar keine akute Energiekrise, aber es stellte sich die Frage, wie die Energieversorgung bei steigendem Bedarf gedeckt werden sollte. Uruguay hat bisher den größten Teil seiner Elektrizität über vier Wasserkraftwerke erzeugt. Allerdings bewirkt der Klimawandel, dass es häufiger Dürrejahre gibt, in denen die Stromerzeugung durch Wasserkraft einbricht. Dann hat das staatliche Elektrizitätsunternehmen den Strombedarf durch überalterte und wenig effiziente ölbetriebene Kraftwerke gedeckt, was extrem teuer ist. Man suchte also nach Alternativen, und da gab es zwei Bereiche, die bisher nicht genutzt wurden, nämlich Atomenergie und die erneuerbaren Energien Wind und Sonne.

Der Umstand, dass sich die Linke, wie du gesagt hast, in der Vergangenheit zu wenig um ökologische Fragen gekümmert hat, hat natürlich auch zur Folge, dass ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien sehr beschränkt sind. So schien einigen Leuten in der FA-Regierung Kernenergie plötzlich als interessante Möglichkeit. Gleichzeitig will ich aber sagen, dass der Energieminister der Regierung von Tabaré Vázquez, der Sozialist Daniel Martínez, der vorher Führer der Gewerkschaft der Elektrizitätswerke gewesen war, ein großes Programm zur Förderung erneuerbarer Energien aufgelegt hat. Bis zum Jahr 2010 sollte der Anteil der Stromförderung aus Wind, Sonne und Turbinen in kleinen Flüssen und Bächen auf 15 Prozent erhöht werden, und das wurde auch größtenteils erreicht. 

Außerdem hat Martínez die Energiegewinnung aus Biomasse gefördert, was auf einen Vorschlag der Gewerkschaft der Erdölraffinerie zurückging. Die Provinz Artigas im Norden des Landes war ein traditionelles Zuckerrohranbaugebiet. Unter den neoliberalen Regierungen bis 2005 war man der Meinung, der Anbau in Uruguay sei international nicht konkurrenzfähig, und es sei besser, Zucker zu importieren, als ihn im eigenen Land zu produzieren. Die Folge dieser Politik war der Niedergang einer ganzen Provinz, die vollständig verelendet ist. Unter der Regierung von Tabaré Vázquez begann man den Zuckerrohranbau wieder zu fördern, indem man den Produzenten und Kooperativen feste Preise garantierte. Die Erdölraffinerie Ancap baute in Artigas ein Destillierwerk, wo aus einem Teil des geernteten Zuckerrohrs – der Rest wird zu Zucker für den lokalen Markt und zu Tierfutter verarbeitet – Ethanol produziert wird. Das wird dem Benzin beigemischt und verringert die Erdölimporte. Ich weiß, dass die Treibstoffgewinnung aus Pflanzen umstritten ist. Aber in Uruguay hat dieses Projekt eindeutig positive Auswirkungen. In Artigas werden durch den Zuckerrohranbau keine Nahrungsmittel verdrängt, die wurden dort ohnehin nicht angebaut. Vielmehr wurde eine verarmte Provinz wiederbelebt. Die Energie für den Betrieb der Destillieranlage wird ausschließlich aus der Verfeuerung der Zuckerrohr-Bagasse gewonnen. Die reicht dafür nicht nur vollkommen aus, sondern produziert zusätzlich noch rund vier Megawatt Strom, die ins nationale Netz eingespeist werden. Außerdem wurde in Artigas ein Forschungsinstitut für die Gewinnung von Energie aus Biomasse eröffnet.

Die Frente-Amplio-Regierung will Uruguay erklärtermaßen zu einem „produktiven Land“ machen – nach Jahrzehnten der Deindustrialisierung infolge der neoliberalen Politik von den siebziger bis in die neunziger Jahre. Dazu setzt sie aber zunehmend auf so problematische Projekte wie Zellulosefabriken – wozu auch die Schaffung gigantischer Eukalyptusplantagen gehört – oder den geplanten Eisenerztagebau in Aratirí, über den du jüngst im Freundschaftsdienst der Casa Bertolt Brecht einen sehr kritischen Beitrag veröffentlicht hast. Warum macht sie das?

Der großflächige Anbau von Eukalyptus und auch Soja ist in der Tat sehr problematisch. Er erzeugt einen neuen Großgrundbesitz – mit jeweils Zehntausenden, sogar Hunderttausenden von Hektar in einzelnen Händen – und zerstört die Böden. Durch Eukalyptus werden die Wasserreserven verbraucht, der monokulturelle Sojaanbau laugt die Erde aus. Das neue Zellulosewerk, dass die FA-Regierung nun aus eigenem Antrieb bauen will – das erste war ja noch eine Erblast der konservativen Vorgängerregierung – ist tatsächlich eine Fortsetzung dieser extraktiven, umweltzerstörerischen Politik.

Die Widersprüche zwischen der Förderung erneuerbarer Energien auf der einen Seite und die Vorhaben im Bereich Zelluloseproduktion, Eisenerzförderung oder auch Atomenergie liegen auf der Hand. Das sind Widersprüche, die in der Frente Amplio selbst vorhanden sind. Die Orientierung auf die umstrittenen großtechnologischen Projekte geht wohl vor allem auf die Fraktion um den Vizepräsidenten Danilo Astori zurück, der die Investitionen großer ausländischer Unternehmen fördert, und die setzen bekanntlich nicht unbedingt auf umweltfreundliche dezentrale Technologien. Astori begegnet Kritik mit dem Verweis auf die gute wirtschaftliche Lage des Landes. Daran dürfe man nicht rütteln. Aber das ist natürlich sehr kurzsichtig gedacht, denn die hohen Wachstumsraten Uruguays sind zu einem guten Teil auf die hohen Agrarpreise auf dem Weltmarkt zurückzuführen, zum andern kann es nicht im Interesse des Landes sein, seine ökonomischen Ressourcen – und das sind unter anderem die Böden und seine Wasserreserven – zu zerstören.

Die Möglichkeit des Baus eines AKWs scheint dagegen im Moment vom Tisch zu sein, weniger wegen unseres Widerstands – der wird vielleicht auch eine kleine Rolle gespielt haben –, sondern vor allem wegen der Kosten, die nach Fukushima wegen der höheren Sicherheitsansprüche noch deutlich gestiegen sind. Das kann sich Uruguay auf absehbare Zeit nicht leisten.

Ernesto, wir danken dir für dieses Gespräch und wünschen dir für deine weitere Genesung alles Gute.