Das Regensburger Bürgertheater holt diesen Sommer ein Stück in Vergessenheit geratene Stadt- und Weltgeschichte zurück ans Licht und erzählt von der Gründung der Veranstaltungshalle „Velodrom“ Ende des 19. Jahrhunderts durch Simon Oberdorfer.[fn]www.theater-regensburg.de/spielplan/details/hoffnung-havanna-die-geschichte-des-simon-oberdorfer/[/fn]
Der Fahrradkünstler machte aus der Halle einen wichtigen Veranstaltungsort für Varietés und Großveranstaltungen, richtete das erste Kino in Regensburg ein – und musste knapp 40 Jahre nach der Velodrom-Gründung vor den Nazis fliehen, weil diese ihn als Juden verfolgten. Um Deutschland 1939 zu verlassen, erwarb er ein Ticket für den HAPAG-Luxusliner „St. Louis“.
Auch wenn die Irrfahrt der „St. Louis“ traurige Berühmtheit erlangte, dürften die Hintergründe relativ unbekannt sein, ebenso wie die Tatsache, dass der Regensburger Simon Oberdorfer unter den Passagieren war. Vor diesem Hintergrund entschied sich das Bürgertheater, das als Laienbühne historische und zeitgenössische Themen aufgreift und neu interpretiert, für die Thematik. In Kooperation mit dem Theater Regensburg konnten die Regisseure Joseph Berlinger, der sich bereits vor Jahren in einer Hörbuchproduktion mit der Geschichte des Velodrom-Gründers und der Odyssee des Flüchtlingsschiffes befasste, und Eva Sixt für das Theaterprojekt gewonnen werden. Zunächst recherchierten Mitglieder des Bürgertheaters monatelange in Bibliotheken, Zeitungs- und Stadtarchiven und trugen die Informationen zum Leben Simon Oberdorfers, zum Velodrom, den dort durchgeführten Shows, den Gerichtsprozessen und dem Schiffsalltag auf der „St. Louis“ zusammen. Auf dieser Basis schrieben Joseph Berlinger und Eva Sixt ein Stück, in dem die Zuschauer zunächst in das Varieté des frühen 20. Jahrhunderts eintauchen und im starken Kontrast dazu die anschließende Überfahrt nach Havanna miterleben, bei der die sicher geglaubte Rettung plötzlich der Verzweiflung weicht.
Bei den Recherchen des Bürgertheaters spielten auch die historischen Hintergründe der verweigerten Einreise für die Passagiere der „St. Louis“ in Cuba eine Rolle, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.[fn]Text basierend auf: Sarah A. Ogilvie and Scott Miller, The St. Louis Passengers and the Holocaust. United States Holocaust Memorial Museum, Washington, 2010./ United States Holocaust Memorial Museum, The Voyage of St Louis, www.ushm.com / Behar, Ruth, An Island called Home. Returning to Jewish Cuba. New Brunswick, New Jersey, London: Rutgers University Press, 2007. / Bejarano, Margalit, La Comunidad Hebrea De Cuba. La Memoria y La Historia. Jerusalem: The Hebrew University, 1996. / Levine, Robert M., Tropical Diaspora. The Jewish experience in Cuba. Gainesville: University Press of Florida, 1994
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Bis in die 30er-Jahre hinein gab es auf Cuba sehr moderate Einwanderungsregelungen, die dann auf Grund von innenpolitischem Druck verändert wurden. So war Flüchtlingen der Weg zu legaler Arbeit von nun an verwehrt, man benötigte eine Landegenehmigung und musste eine Kaution von zunächst etwa 30 US-Dollar entrichten, um dem cubanischen Staat nicht „auf der Tasche zu liegen“. Die Kaution wurde für Nicht-Tourist*innen im Erlass 1021 vom März 1937 auf 500 Dollar erhöht, aber es genügte weiterhin eine Landegenehmigung für die Einreise. Der Verkauf der Landegenehmigungen entwickelte sich für den damaligen Direktor der Einwanderungsbehörde, Manuel Benítez González, zu einem florierenden Geschäft, der diese für je 120-150 Dollar verkaufte und so etwa geschätzt zwischen einer halben und einer Million Dollar in die eigene Tasche wirtschaftete. Benítez wurde von Fulgencio Batista protegiert, dem damaligen Militärchef und späteren Diktator der Karibikinsel, der 1959 von Fidel Castros Revolutionären gestürzt wurde.
In den 30er-Jahren agierte Batista auf Cuba aus der zweiten Reihe heraus, war aber bereits damals der mächtige Strippenzieher im Hintergrund. Es kam immer wieder zu einem Kräftemessen zwischen Batista und den jeweils amtierenden Präsidenten, so wohl auch im Vorfeld der Tragödie der „St. Louis“: Ein Bekannter des Präsidenten Brú bat angeblich Benítez um Geld und Jobs in der Einwanderungsbehörde zur Unterstützung des Wahlkampfs von Präsident Brú. Als Benítez sich weigerte, annullierte der Präsident im berüchtigten Erlass Nr. 937 nachträglich alle vor dem 5. Mai 1939 ausgestellten Landegenehmigungen und führte eine Visumspflicht ein. Es sollte ein Exempel an dem korrupten Benítez statuiert werden. Offenbar wurde der HAPAG-Reederei, zu deren Flotte die „St. Louis“ gehörte, mitgeteilt, dass es Probleme mit der Einreise geben könnte. Doch die deutschen Behörden drängten wohl auf die Abfahrt und signalisierten, dass sie „persönliche Garantien“ für eine sichere Einreise hätten. Es kann vermutet werden, dass dies im Zusammenhang mit einer von Propagandaminister Göbbels in Auftrag gegebenen Mission stand, die der Welt demonstrieren sollte, dass Deutschland durchaus eine Ausreise der Juden ermöglichte, aber dass die Welt diese einfach nicht haben wollte.
Der Kapitän der „St. Louis“ erfuhr erst während der Fahrt von möglichen Problemen, doch zunächst rechnete niemand damit, dass der Erlass tatsächlich umgesetzt würde. Dafür könnten weitere innenpolitische Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt haben. Auch auf Cuba gab es in den 30er-Jahren antisemitische und rassistische Bewegungen. 1933 wurde eine antisemitische Hetzkampagne inszeniert, die sehr stark von Sympathisanten für die deutschen Nazis und die spanische Falange (Franco-Partei) getragen wurde und zusätzlichen Aufwind dadurch bekam, dass in dieser Zeit der wirtschaftlichen Depression auch von gewerkschaftlicher Seite ein Schutz für die „einheimischen“ Arbeitskräfte gefordert wurde.
1938 gründete sich ein cubanischer Ableger der NSDAP, der vor allem auch medial sehr präsent war und gerade auch im Zusammenhang mit dem gestiegenen Flüchtlingszuzug hetzte; dieser fand durchaus auch seinen Widerhall in anderen Parteien. Der ehemalige cubanische Präsident Grau San Martín veranstaltete am 8. Mai 1939 die größte je dagewesene antisemitische Demonstration in Havanna, an der über 40 000 Personen teilnahmen.
Dabei war Cuba nicht das eigentliche Ziel der Geflüchteten. Denn seit der Wende in der US-amerikanischen Einwanderungspolitik von 1924 waren die dort festgelegten Quoten für die jeweiligen Länder schnell ausgeschöpft. Diese unterschieden nicht zwischen den verschiedenen Migrationsgründen und sahen daher keine speziellen Asylverfahren vor. Während es auch von US-Seite Vorstöße zur Unterstützung von Flüchtlingen gab, dominierte insgesamt eine isolationistische Haltung. Die Abschrift eines Telefonats zwischen Staatsekretär Hull und Finanzminister Morgenthau belegt, dass im Fall der „St. Louis“ die Devise ausgegeben worden war, sich nicht einzumischen. Daher stießen die zahlreichen Bittgesuche auf taube Ohren.
Während die „St. Louis“ noch vor Cuba lag, versuchten die dort ansässigen Unterstützer*innen in den bangen Tagen zwischen Hoffnung und Verzweiflung jede Möglichkeit auszuschöpfen. In Havanna gab es ein Büro des Jewish Relief Committees, das in erster Linie für den Lebensunterhalt der von der Arbeit ausgeschlossenen Flüchtlinge auf ihrer Zwischenstation aufkam. Das Joint Distribution Committee flog den Anwalt Berenson aus den USA ein, um mit der cubanischen Regierung zu verhandeln. Präsident Brú soll offenbar angeboten haben, die Flüchtlinge im Gegenzug für eine hohe Bargeldzahlung (etwa 450 000 US-Dollar) aufzunehmen. Berenson brachte die Summe jedoch nicht innerhalb der gesetzten Frist von 48 Stunden auf; die „St. Louis“ musste Cuba wieder verlassen.
Dabei war das Einreiseverbot nicht von Dauer: Von 1940 bis 1942 wurde der halblegale Verkauf von Visa wieder möglich, der bei Kriegseintritt Cubas jedoch eingestellt wurde. Danach durften keine Flüchtlinge aus den Ländern der Achsenmächte mehr einreisen.
Die Kombination der aufgezeigten innen- und außenpolitischen Faktoren führte zur Tragödie der „St. Louis“, auch wenn natürlich außer Frage steht, dass alleine die NS-Politik die Menschen zur Flucht zwang und für ihre Ermordung verantwortlich war.
Das von Joseph Berlinger und Eva Sixt für das Projekt „Hoffnung Havanna“ verfasste und inszenierte Stück greift sowohl die Jahre im Velodrom und damit eine Episode jüdischen Lebens in Regensburg auf als auch die Irrfahrt der „St. Louis“. Das Velodrom sollte vor zwanzig Jahren abgerissen werden. Damals konnte eine Bürgerinitiative den Abriss verhindern, und das Gebäude wird heute wieder vom Theater Regensburg als Spielstätte genutzt. So konnte das Stück über Simon Oberdorfer, sein künstlerisches Engagement in Regensburg und seine gescheiterte Flucht aus Nazideutschland in „seinem“ Theater inszeniert werden. Die ersten Aufführungen des Stückes fanden am 8. und 9. Juli 2017 im Velodrom Regensburg statt, am 15. Oktober wird das Stück dort noch einmal zu sehen sein. Der bisher namenlose Platz vor dem Eingang des Velodroms soll nun in Simon-Oberdorfer-Platz umbenannt werden, um an seine Verdienste und sein Schicksal als NS-Opfer zu erinnern.