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Vergesst die Nebenkriegsschauplätze

Interview mit Rafo Pardo, Ex-Vize-Innenminister Boliviens

Sie haben sich aus der aktiven Regierungspolitik in Bolivien verabschiedet. Haben Sie auch das Handtuch im Hinblick auf grundsätzliche Veränderungen in Bolivien geworfen?

Keineswegs. Ich habe mir schon als Abgeordneter der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) geschworen, keine Kröten zu schlucken. Das war natürlich in der Opposition noch einfacher. Meine Entscheidung pro politisches Asyl für zwei Paraguayer war fundiert und richtig. Aber ich stand mit meiner Meinung in der Regierung allein da. Als die paraguayische Regierung protestierte und die beiden jungen Leute als Verbrecher ausgab, kapitulierte meine Regierung und wollte aus Staatsräson ausliefern. Glücklicherweise konnten die Paraguayer fliehen und ich hatte ein ruhiges Gewissen. Aber zwei Monate später sagte ich in einem Presseinterview, die Beweise gegen die beiden seien gefälscht und erlogen gewesen. Das war’s. Aber ich bin nicht mit Ranküne gegangen und habe keine Pressekonferenz einberufen, um meine Entscheidung zu belegen. Das hätte der Regierung geschadet. Eine Woche später bat mich der Präsident, ein landesweites Programm zur politischen Bildung sozialer Organisationen zu leiten. Das ist meines Erachtens im Grunde derzeit das Wichtigste. Und außerdem kann ich das am besten, viel besser, als mich als Vize-Innenminister mit der Polizei anzulegen. Das ist weiter meine Regierung, aber das enthebt mich nicht der Pflicht sie zu kritisieren, wenn es nötig ist.

Nach 14 Monaten Regierung Evo Morales hat es den Anschein, dass noch lange nichts gewonnen ist. Das Land ist nach wie vor tief gespalten. Wo liegen die Gründe?

Ich würde insbesondere zwei Aspekte nennen. Erstens: Man darf sich keine Illusionen machen, Konfrontationen sind unvermeidlich. Die Machtgruppen im Land sind heute in der Opposition, sie sind symbolisch besiegt, ihre Führer spielen keine ernst zu nehmende Rolle mehr, weil sie kein konkretes politisches Konzept vorlegen können. Aber der größte Teil der realen Macht ist weiterhin in ihrer Hand: die Wirtschaft, ein Teil der politischen Macht (z.B. auf der Ebene der Provinzregierungen, G.K.) und fast alle Medien. Innerhalb dieser Machtgruppen ist eine, die ich prämodern nennen würde, die sich der offenen Gewalt bedient, nämlich die Großgrundbesitzer aus dem Tiefland. Am stärksten sind sie in Santa Cruz, aber sie sind auch im Beni und im Chaco präsent. Diese Leute kämpfen nicht mit rechtsstaatlichen Argumenten, mit Anwälten oder wenden sich an internationale Gerichtshöfe, sondern mit Steinen, Schaufeln und, wenn nötig, Kugeln. Der Podemos-Senator Yáñez aus dem Beni hat in einer Gesprächsrunde mit dem Vize-Minister für Landangelegenheiten wörtlich gesagt: „Ihr werdet uns noch zwingen, unser Leben für unser Land zu geben“. Das war gelogen, er selbst macht sich nicht die Finger schmutzig, aber wir wissen alle, dass sie arme junge Leute rekrutieren, damit sie im Ernstfall ihr Leben für sein Land geben. 

Es gibt Machtgruppen, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit ihrer unangefochtenen Privilegien vorbei ist. Man könnte sagen, Privilegien aus 500 Jahren, oder zumindest aus 185 Jahren Republik, davon die letzten 20 Jahre mit einer schier unglaublichen Unverschämtheit. Am sichtbarsten ist das beim Landbesitz. Dieser Tage hörte ich noch von einer Frau, die drei Konzessionen von 2000, 3000 und 5000 Hektar hat, Konzessionen, die ihr ihr Ehemann gewährte, als er Mitglied in einer Militärregierung war. Diese Leute sind überzeugt, dass Bolivien ihre Finca ist und dass Indígenas Menschen zweiter Klasse sind. Meine Nachbarn erzählten mir von dem Großgrundbesitzer Pereira – der Name soll ruhig fallen –, der die Zäune eines Indígenareservats durchschnitt, damit seine Kühe dort weiden können. Die Chiquitanos zeigten ihn an, und Pereira ereiferte sich im Gerichtssaal wörtlich: „Seit wann sind Indígenas mehr wert als meine Kühe?“ Im Jahre 2007 gibt es noch Haciendas, auf denen Guaraníes als Sklaven gehalten werden. Solche Leute sind der harte Kern der Gegner, und sie sind weiterhin sehr mächtig. Die anderen, die landwirtschaftlichen Unternehmer, die Unternehmer im Ölgeschäft oder die Industriellen, bedienen sich moderner Methoden, mit denen kann man umgehen. 

Mit dem harten Kern ist schlicht keine Übereinkunft möglich. All die gutgemeinten Ratschläge aus der Kirchenhierarchie oder von politischen Analysten oder aus sozialen Organisationen, wir sollten nicht auf Konfrontationskurs gehen, wir müssten alle an einen Tisch holen und den Konsens suchen, übersehen, dass das unmöglich ist. So kommen wir nicht zum Ziel. Wir haben nur die Wahl zwischen einer gewaltsamen Lösung, die keiner will – na ja, es gibt immer ein paar Verrückte auf beiden Seiten –, oder einer Verfassunggebenden Versammlung. Aber einer, die nicht auf Einstimmigkeit, sondern auf Mehrheit und Minderheit setzt. Am Ende wird nicht geschossen, sondern abgestimmt.

Der andere Punkt, auf den ich eingehen wollte, sind die Schwächen des Prozesses. Eine stellvertretende Senatorin, eine Intellektuelle, die jahrelang mit Nichtregierungsorganisationen gearbeitet hat, sagte mit kürzlich: „Schau, Rafo, letztlich ist das die Stunde der Indígenas. Das muss man einfach anerkennen, einschließlich des Rechts auf Irrtum, des Rechts zu lernen. Ist doch klar, dass man beim ersten Mal in der Regierung nicht alles richtig macht. Wir, die wir überzeugt sind, dass man den Prozess unterstützen muss, müssen das mit der realistischen Einstellung tun, dass sie häufig Fehler begehen werden. Das ist normal, das ist Teil ihres Lernprozesses. Trotzdem müssen wir natürlich sagen, wo Fehler liegen.

Die Schwachpunkte sind aus meiner Sicht im Wesentlichen folgende. Erstens, in Bezug auf die sozialen Organisationen. Viele sehen sich als organischer Teil der MAS. Andere, wenn auch in der Minderheit, tun das nicht, sehen sich aber als Teil des Prozesses. Beiden fehlt das nötige politische Gewissen, was für mich sehr enttäuschend ist. Sie haben vielleicht politische Überzeugungen, was reicht, um zu wissen, was man nicht will. Seit dem Jahre 2000 haben wir das sehr oft auf der Straße gesehen. Alle waren gegen einen neokolonialen, diskriminierenden, rassistischen Staat, der bis zum Geht-nicht-mehr privatisisiert, der die Mehrheiten verelendet und ausgrenzt. Alles in Ordnung. Plötzlich tauchen Massenbewegungen auf, die nicht auf formellen Organisationen basieren, wie im Wasserkrieg, bei den Indígenamärschen, beim Gaskrieg, bei den Wahlen, gegen Sánchez de Losada, gegen Carlos Mesa. Da sah man Stärke, Überzeugung und Klarheit, aber immer nur in Bezug auf das, was wir ablehnen. Als die neue Regierung ihre Arbeit aufnahm, war ich acht Monate lang Vize-Innenminister, von daher zuständig für die Staatssicherheit und die öffentliche Sicherheit. Ich hatte mein Amt in der Überzeugung angetreten, dass ich mich hauptsächlich mit der Opposition würde auseinandersetzen müssen, die ja voraussehbar aggressiv sein würde. Stattdessen musste ich den Hauptteil meiner Energie für die Leute einsetzen, die eigentlich auf Seiten der Regierung standen und die wie eh und je Straßenblockaden machten, die Hauptstadt besetzen wollten und ähnliches. Das war schrecklich für mich. Irgendwann fing ich an zu glauben, dass, wenn das Projekt scheitert, dies nicht nur an der Rechten, an der Opposition liegt, die sicher eine Rolle spielt, sondern in großem Maße an sozialen Organisationen, die nicht verstehen, wie man strategisch vorgehen muss, wenn man an der Macht ist.

Aber was sind die wirklich zentralen Kämpfe? Erst einmal die Rückeroberung der Verfügungsgewalt über die Rohstoffe, den Boden und Bodenschätze. Zweitens eine grundsätzliche Neuausrichtung des Staates, um ihn ausgeglichener und partizipativer zu machen. Stattdessen durchziehen die Amtszeit der neuen Regierung vom ersten Tag an völlig zweitrangige, lokale und sektoriale Konflikte. Dieselben Kräfte, die sich mutig in den Kampf gegen das alte System geworfen hatten, mobilisieren sich heute nicht gegen die Regierung, sondern weil sie glauben, dass die neue Regierung nur dazu da ist, mein und zuallererst nur mein Problemchen zu lösen. So wurden Hauptverbindungsstraßen des Landes blockiert, um eine neue Ausbildungsstätte für Lehrer in einem Landesteil oder die Ablösung des Rektors der Universität von El Alto zu fordern oder zu fordern, weiterhin Altkleider verkaufen zu dürfen. Aber ist die Absetzung des Bürgermeisters einer kleinen Ortschaft in Cotoca/Santa Cruz wichtig genug, um die Hauptstraße nach Brasilien zu blockieren? Auch wenn er noch so schlecht ist, muss man dafür Bolivien verkehrsmäßig isolieren? Compañeros, sagte ich ihnen, kämpft doch innerhalb der Gesetze, und wenn sie nicht ausreichen, sperrt den Bürgermeister aus. In meiner Amtszeit gab es mehr als 80 ernsthafte Konflikte mit lokalen Bürgermeistern, die jedes Mal das ganze Land lahmzulegen drohten. Einmal haben 800 Aymarafischer vom Titicacasee die Straße von El Alto hinunter nach La Paz blockiert und damit die Verbindung zum internationalen Flughafen unterbrochen, weil ein Radiokanal gemeldet hatte, das Wasser im See sei verseucht. Damit will ich sagen, dass die Regierung unheimlich viel Kraft aufwenden muss, um den Kampf von sozialen Organisationen im Zaum zu halten.

Dabei sitzen die sozialen Bewegungen selbst mit in der Regierung…

Ja, aber nach welchen Kriterien werden oft die VertreterInnen der sozialen Bewegungen ausgewählt? Die parlamentarische Fraktion der MAS ist mehrheitlich sehr mittelmäßig. Ich finde, oft wurden die Falschen ausgewählt. Das gilt auch für die Verfassunggebende Versammlung. Die Leute wählen den, der am lautesten schreit, den, der in der örtlichen Versammlung die Sandwiches bezahlt oder den LKW, der als Bus fungiert. Deswegen sitzen an vielen Schlüsselstellen Leute, die nur an konkrete Vorteile denken, oft nur ökonomische Vorteile. Wer ein Amt hat, soll Posten verteilen, und oft genug nimmt er dafür auch noch Geld (im März waren die „Empfehlungsschreiben“ ein heiß diskutiertes Thema in den bolivianischen Medien, G.K.).

Ich hatte selbst immer wieder Probleme damit. Beispielsweise bei der Ernennung der Chefs von Migrationsbehörden – dieser Dienst ist in Bolivien wirklich eine Schande, weil da überall Leute sitzen, die sich persönlich bereichern wollen. Glücklicherweise wurde ich bei meinen Ablehnungen vom Präsidenten und Vizepräsidenten immer vorbehaltlos unterstützt, weil die Migrationsbehörden zur Staatssicherheit gehören und sie gut funktionieren müssen. Heute ist die Behörde wieder ein Desaster, und die Herren und Damen von der MAS sind mit ihrer mangelnden politischen Klarsicht schuld. Wir sind nicht in der Regierung, um die Probleme Arbeit suchender Freunde und Verwandter zu regeln.

Sie lassen die Regierung selbst bei Ihrer Kritik außen vor.

Keineswegs. Das kommt noch. Einige Schwächen sind unvermeidlich, wie das Fehlen von Erfahrung. Wir sind eine Regierung von Lehrlingen. Am Tag der Wahl rief Evo Morales den jetztigen Außenminister David Choquehuanca an und trug ihm das Amt an, weil er eine Vertrauensperson auf diesem Posten bräuchte. Choquehuanca antwortete: „Aber ich habe davon keine Ahnung.“ Darauf Evo: „Das geht uns allen so.“
Schwerer wiegen andere Schwächen. Im Finanzbereich wollte man kein Risiko eingehen. Deswegen bestimmt in diesem Bereich weiterhin das Team der Vorgängerregierung. Damit besteht die Regierung aus einer Mischung aus neuen, unerfahrenen Leuten und alten Hasen, die dem alten System entstammen und im Grunde weiter dafür arbeiten. Im Finanzbereich, bei der Zentralbank sieht man sehr klar, dass dort trotz Sonntagsreden nicht die Linie der Regierung verfolgt wird.

Ein weiteres: Alles ging sehr schnell. Die MAS war ein Grüppchen von vier hergelaufenen Optimisten, das vor allem auf dem Lande agierte. Die Führungspersonen sind alle Bauern. Die Leute aus der Stadt, Intellektuelle, Angestellte, sind erst im letzten Moment dazugestoßen. Deswegen existiert kein organischer Aufbau, es gibt keine klaren Instanzen und Räume für Entscheidungsfindung und Reflexion. Alles hängt letztlich vom Präsidenten und seinen Vertrauenspersonen ab. Da fehlt Klarheit. Wenn man mich fragte, was der Hauptfehler Evos ist, würde ich sagen: Er delegiert nicht, er arbeitet lieber bis zum Umfallen.
Abgesehen aber von diesen unvermeidlichen Schwächen gibt es vermeidbare Fehler. Als erstes ist eine bestürzende Unfähigkeit zur Kommunikation zu nennen. Die Regierung kommuniziert nicht angemessen mit der Bevölkerung. Dabei sind wir in der Hand von Medien, die zu 90 bis 95 Prozent zur aggressiven Opposition gehören, vor allem das Fernsehen, aber auch die Zeitungen und das Radio. Den ganzen Tag lang lancieren sie Fehlinformationen, lügen ohne jeden Skrupel, vergleichbar mit den Oppositionsmedien in Venezuela. Die Regierung antwortet darauf nicht mit angemessenen Kommunikationsfähigkeiten, abgesehen vom Radio Patria Nueva. Der staatliche Fernsehsender Canal 7 nutzt seine Möglichkeiten bei weitem nicht. Die Regierung weiß das, aber es geschieht nichts. Vielen ist ohnehin egal, was die Medien sagen, aber es gibt eine Mittelschicht, die keine klaren politischen Positionen hat. Mangels alternativer Informationen glauben sie den Mist aus den Medien.

Ein weiterer Schwachpunkt sind die kriegerischen Parolen des Präsidenten und Vizepräsidenten, die eigentlich nicht zu beiden Persönlichkeiten passen. Das öffnet zu viele Fronten. Wenn wir schon mit unserem Hauptfeind im Clinch liegen, den ausländischen Öl- und Gasfirmen und ihren Alliierten, sollten wir nicht gleichzeitig den Kampf mit den Präfekten beginnen. Und absolut unnötig ist zudem, sich jetzt mit der katholischen Kirche anzulegen. Das interessiert die einfachen Leute zwar nicht, weil der Katholizismus hier relativ synkretistisch ist, aber die Mittelschichten. Man hätte auch die Medien nicht unnötig angreifen müssen.

Katastrophal war, zum Nein für die Autonomie der Departements aufzurufen. Ich war zu der Zeit in der Regierung und gemeinsam mit Kollegen zutiefst erschrocken. Das führt doch nur zu Grabenkämpfen. Wir sind doch auch nicht für einen zentralistischen Staat. Keine Ahnung, wo und wie die Entscheidung getroffen wurde. Auf einmal war sie da. Das war für die Separatisten eine Steilvorlage. Taktisch-politisch wäre gewesen zu sagen, wir sind alle für die Autonomie, dann hätte es keine Verlierer gegeben und wir hätten uns an eine Ausgestaltung der Autonomie machen können, die den alten Machtgruppen keine neuen Freiräume eröffnet.

Schließlich noch ein gravierendes Problem: Niemand aus der Regierung und aus der MAS hat ein Gespür dafür, was das Tiefland eigentlich ist. Das ist für sie fremdes Territorium. Die wenigen cambas (Tieflandbewohner) in der Regierung fühlen sich als nicht ernst genommenes Alibi. Die Anzahl ist sicher nicht das Entscheidende, aber die Regierung muss sich klar darüber sein, dass sich in der jetzigen Konjunktur die wesentlichen Kämpfe im Tiefland abspielen. Land, Gas, Bergbau, moderne Viehzucht. Es ist unverzichtbar, alles zu unternehmen, um das Tiefland für die Regierung zu gewinnen. Das passiert nicht. Der Präsident reist sehr viel – das ist gut und wichtig für den Kontakt mit den Leuten –, aber meistens in den andinen Teil. Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat der Präsident viel dazu gelernt – er weiß etwa heute mit Weißen und mit Städtern umzugehen –, aber diesbezüglich nicht genug. Die neuen Landgesetze wurden in Ucurena bei Cochabamba verkündet. Vor 50 Jahren war Ucurena ein Symbol für den Kampf um das Land, aber heute kämpft da niemand mehr, die Leute sind in den Chapare oder nach Spanien gegangen. Ucurena heute, da fehlt Phantasie. Im Tiefland hätten die neuen Gesetze verkündet werden müssen!

Trotz alledem: Keine Regierung hat in den letzten 20 Jahren im ersten Jahr soviel geleistet wie die jetzige, von den Bodenschätzen bis zu Würde und Selbstbewusstsein der Bevölkerung.