Die meisten erwarten von Literatur, dass Autoren und Autorinnen vor allem Geschichten erzählen. Dabei, so sagte einmal der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, gäbe es im Grunde genommen nur drei Themen, nämlich Macht, Liebe und Tod. Darum geht es auch in den Büchern von Luiz Ruffato (Jg. 1961). Doch er erzählt keine zusammenhängenden Geschichten, sondern setzt seine Texte aus einzelnen kurzen Momentaufnahmen zusammen. In der Bildenden Kunst bezeichnet man so etwas als Collagen. Diese können sehr unterschiedlich sein: Manchmal ergeben die einzelnen Elemente, vor allem wenn sie mit einem gewissen Abstand betrachtet werden, ein überraschend klares Bild, häufig steht aber zunächst die Zerrissenheit der einzelnen Fragmente im Vordergrund. Ein zusammenhängendes Bild entsteht daraus – vielleicht – erst in den Köpfen der Betrachter oder Betrachterinnen. Letzteres gilt auch für die literarischen Collagen von Luiz Ruffato.
In seinem im Herbst 2012 auf Deutsch erschienenen Buch „Es waren viele Pferde“ entwirft der Autor in 69 kurzen Episoden – manche nur wenige Zeilen lang, die meisten zwischen einer und vier Buchseiten – ein Bild des Lebens in der Megametropole São Paulo an einem einzigen Tag, dem 9. Mai 2000. Er zeigt, wie Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben Schiffbruch erleiden, wie sie Liebe suchen – und nicht finden, wie der mühsame Alltag sie zermürbt, wie sich ihre Träume nicht erfüllen, wie sie in den unzähligen religiösen Angeboten Trost suchen und wie immer wieder Gewalt in ihr Leben dringt. Meistens erleben sie diese Gewalt als Opfer oder deren Angehörige, in manchen der Episoden aber auch als Täter und beschreiben sie aus deren Perspektive.
In Ruffatos São Paulo finden sich weder die glitzernden Fassaden der florierenden Wirtschaftsmetropole noch die fröhliche Tanz- und Partylaune, die europäische Klischees mit Brasilien assoziieren. Vielmehr begegnet uns vor allem Trost- und Hoffnungslosigkeit. Außergewöhnlich an „Es waren viele Pferde“ sind nicht nur der Aufbau und die harte, schonungslose Darstellung, sondern auch die Sprache. Kurze abgehackte Sätze, mitunter nicht zu Ende gebracht und ohne Punkt und Komma. Die Wirklichkeit ist so rasant und brutal, dass es inadäquat erschiene, sie in vollständigen oder gar komplizierten Sätzen zu beschreiben.
Noch verstörender ist Ruffatos zweites auf Deutsch veröffentlichtes Buch „Mama, mir geht es gut“. Darin sind die einzelnen Episoden länger, umfassen 15, 20, die letzte sogar über 40 Buchseiten. Aber auch mit weniger und längeren Elementen wird die Collage nicht unmittelbar zugänglich. Die Schwierigkeit für den/die LeserIn, aus den einzelnen Fragmenten ein stimmiges Bild zusammenzusetzen, ist vielleicht sogar noch größer. Erzählt wird von italienischen Einwanderern in den ländlichen Regionen des Bundesstaates Minas Gerais. Sie sind in Brasilien nicht reich geworden, sondern kommen als Landwirte gerade so über die Runden. Ihr Leben ist hart und mühselig. Die Männer sind wortkarge Patriarchen, die Frauen und Kinder haben ihnen zu gehorchen und sind ihren Gewaltausbrüchen ausgesetzt. Um dieser Ödnis und Gewalt zu entkommen, suchen die Jüngeren Arbeit und Glück in den größeren Städten der Region, aber auch weiter weg in Rio de Janeiro und São Paulo.
Doch was PsychologInnen gerne für Individuen betonen, allein durch einen Ortswechsel werde man seine Probleme nicht los, weil sie im seelischen Gepäck blieben, gilt hier auch für das Kollektiv der Binnen-MigrantInnen. Die Zwänge und Gewaltverhältnisse erweisen sich in der städtischen Umgebung als mindestens genauso unüberwindbar wie auf dem Land. Eine Rückkehr ist aber ausgeschlossen, selbst Besuche „zu Hause“ erweisen sich als große Enttäuschungen für alle Beteiligten.
Einzig der Glaube, genauer gesagt die Integration in eine der zahlreichen evangelikalen Kirchen der Städte, kann vorübergehend Trost spenden, erweist sich aber auch als verlogene Angelegenheit. Emanzipation und Befreiung erscheinen unmöglich. Wie schon in „Es waren viele Pferde“ sind auch in „Mama, mir geht es gut“ Aufbau wie Sprache bemerkenswert. Im zweiten Buch sind die Formen vielfältiger, es gibt ausführliche Beschreibungen von Situationen und Ereignissen, Traumsequenzen, innere Monologe, Rückblenden. Die Sprache ist vielfältiger. Wirkt sie über Seiten fast schon konventionell, verändert sie sich plötzlich, wird hart, abgehackt und unvollständig, dann wieder weich und poetisch – die Übertragung vieler Passagen ins Deutsche muss für den Übersetzer Michael Kegler eine ungeheure Herausforderung gewesen sein, die er bravourös gemeistert hat.
Die steten Wechsel in Form und Sprache verleihen dem Buch einen Eindruck von Atemlosigkeit. Zwar gibt es durchaus ruhige Passagen, doch dabei bleibt es nie lange. Schnell spitzen sich Szenen dramatisch zu, die latente Gewalt bricht immer wieder aus. Das erzeugt Spannung – ohne freilich auf eine Auflösung hinzusteuern. Den Gefallen tut der Autor den LeserInnen nicht und lässt damit sicher viele etwas ratlos zurück.
„Mama, mit geht es gut“ ist der erste Teil des fünfbändigen Romanzyklus „Provisorische Höllen“, für den Luiz Ruffato von der Kritik sehr gefeiert wurde und in Brasilien und Lateinamerika zahlreiche Preise erhielt. Der Verlag Assoziation A plant, alle fünf Romane in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, und eröffnet damit den LeserInnen im deutschsprachigen Raum die Möglichkeit, sich mit dem Werk eines Autors auseinanderzusetzen, der in Brasilien als der innovativste Vertreter seiner Generation gilt.
Luiz Ruffato: Es waren viel Pferde, Übersetzung: Michael Kegler, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2012, 160 Seiten, geb., 18,- Euro
Luiz Ruffato: Mama, es geht mir gut, Übersetzung: Michael Kegler, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2013, ca. 160 Seiten (geb.), 18,- Euro