In Deutschland leben nach Schätzungen des EU-Projekts Clandestino zwischen 200 000 und 500 000 undokumentierte MigrantInnen. LateinamerikanerInnen reisen in der Regel legal ein. Nach dem Übergang in den Status des Undokumentiertseins bei Ablauf des Visums teilen sie dann mit den Geflüchteten anderer Regionen das Wechselbad aus Furcht und Hoffnung. In ihrem Buch stellt Susann Huschke die persönlichen Schicksale von Latin@s in den Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, denen diese ausgesetzt sind. Das geschieht auf respektvolle Art und auf der Basis eines Vertrauensverhältnisses, das durch einen längerfristigen Kontakt und den behutsamen Umgang mit ihren ForschungsteilnehmerInnen zustande gekommen ist. Auch ihre Mitarbeit im Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe (Medibüro), durch die Aktivismus und akademische Forschung auf glückliche Art miteinander verbunden wurden, war für das Vorhaben förderlich. Mit ihren eigenen Worten „… ist der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis keine Einbahnstraße: Die Ergebnisse „meiner Forschung … fließen in die politische Arbeit des Medibüros ein.“ Eine Reflexion, die in der akademischen Forschung noch viel zu selten Berücksichtigung findet!
Das Eingangszitat aus einem Bericht des Bundesinnenministeriums wird zum Referenzpunkt für das Buch: Die Bundesregierung ist gegen die Abschaffung der Übermittlungspflicht (Die Übermittlungspflicht nach §87 Abs. 2 AufenthaltG zwingt Verwaltungspersonal öffentlicher Krankenhäuser dazu, den illegalen Aufenthalt von behandelten Patienten an die Ausländerbehörde zu melden.). „Der Staat verfügt (damit) über ein Mittel der Migrationskontrolle … Eine abschreckende Wirkung ist beabsichtigt.“ Dass damit das grundlegende Menschrecht auf Gesundheit verletzt wird, stört die Bundesregierung ganz offensichtlich nicht. Doch Huschkes Kritik greift noch weiter. Ihre Forschung führt zu der Erkenntnis, dass selbst dort, wo über kommunale Regelungen oder Erlasse auf Landesebene der Zugang zur medizinischen Versorgung formal erleichtert wurde, deren Inanspruchnahme an den ökonomischen Zwängen des in neoliberaler Transformation befindlichen deutschen Gesundheitssystems scheitert. Dabei wird das von der Politik häufig bemühte Argument steigender Gesundheitskosten durch die nüchterne Tatsache ad absurdum geführt, dass die Kosten des Gesundheitssystems prozentual – gemessen am Sozialprodukt – seit den 70er-Jahren fast konstant geblieben sind.
An anderer Stelle macht Susann Huschke den Gegensatz der Konzepte des Medibüros und der Malteser Migranten Medizin deutlich, den zwei wichtigsten Berliner Anlaufstellen für Undokumentierte, wenn es um medizinische Hilfe geht. Während das Medibüro einerseits medizinische Hilfe bietet, ist seine politische Arbeit jedoch darauf ausgerichtet, sämtliche Formen „paralleler“ Versorgung überflüssig zu machen. Im Gegensatz dazu entpuppt sich die Malteser Migranten Medizin zugleich als ihre eigene „Jobmaschine“, deren Lobbyarbeit auf den Ausbau der nicht-staatlichen Versorgungslandschaft gerichtet ist.
Mit zahlreichen Interviewausschnitten, die in zusammenfassenden Betrachtungen verallgemeinert werden, lässt die Autorin den Alltag ihrer 19 GesprächspartnerInnen lebendig werden. Die vom Gesetzgeber verordnete Illegalität ist einerseits selbst Krankheitsursache – für Nervosität, Stress und Depression – und andererseits eine Situation, in der ansonsten leicht zu behandelnde Krankheiten oder ggf. wünschenswerte Zustände wie eine Schwangerschaft zur handfesten Lebenskrise werden können. Hinter dem harmlos klingenden Begriff „Nervosität“ verbirgt sich ein Daueralarmzustand, der mit der Abwesenheit von emotionalem, physischem, spirituellem und sozialem Gleichgewicht verbunden ist.
Was das im Alltag bedeutet, fasst Huschke unter dem Begriff „Verleiblichung“ des sozialpolitischen Konstrukts „illegal“ zusammen. Das bedeutet zusammenzucken, wenn es an der Tür klingelt, aufschrecken bei der Stimme eines Fahrkartenkontrolleurs, die wie die eines Polizisten klingt, bei Kleinigkeiten in Tränen auszubrechen, Schlaflosigkeit, Misstrauen und Appetitlosigkeit. Wie für andere Lebensbereiche stellen auch im Krankheitsfall informelle soziale Kontakte die zentrale Informationsquelle für undokumentierte MigrantInnen dar. Diese Kontakte ermöglichen – allerdings erst im Laufe der Zeit – die Aneignung von Illegalitätswissen, das unter Umständen überlebenswichtig sein kann. Trotzdem bleibt medizinische Versorgung für Undokumentierte „ein Glücksspiel“. Als Konsequenz aus Rechtsunsicherheit und bürokratischen Hürden wird der Gang ins Krankenhaus so lange wie möglich verschleppt.
„Kranksein in der Illegalität“ ist eindrucksvoll und lesbar geschrieben. Es ruft das Bedürfnis hervor, sich mit den ProtagonistInnen des Buches zu solidarisieren, sowie ein Gefühl der Empörung über die staatlich gewollte Missachtung von Menschenrechten, die mit hautnahen Beispielen demonstriert wird. Gut auch, dass der Band sich nicht darin erschöpft, sondern mit „Schlussfolgerungen für die politische Praxis“ endet.
Huschke, Susann: Kranksein in der Illegalität. Undokumentierte Lateinamerikaner/-innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie. Transcript Verlag, Bielefeld 2013, 414 Seiten, 36,80 Euro