Du hast dich seit längerem mit dem Gedanken getragen, eine Reise zu deinen musikalischen Wurzeln zu machen. Was war der Auslöser?
Der Auslöser war der Autor und Filmemacher Nahuel López, den ich kenne, seit er ganz klein war. Er ist auch Sohn von einem exilierten Chilenen. Nahuels Vater studierte in Deutschland Philosophie und war immer auf den Solidäritätsveranstaltungen in Hamburg. Wir klauten gerne die Ventile von seinem Fahrrad und er ging damit stets sehr lustig um. Der Sohn dieses netten Philosophiestudenten ist Nahuel. Er kontaktierte mich vor drei Jahren und erzählte mir, dass er ein Buch über die Mapuche[fn]Nahuel López, „Das Paradies ist die Hölle“, Random House 2014[/fn] geschrieben habe. Ich wiederum erzählte ihm, dass ich im Laufe der Jahre einige chilenische Musiker meiner Generation kennengelernt hatte. So kamen eins und eins zusammen und wir dachten uns: Das wäre doch geil, wenn wir das Ganze dokumentieren würden, eine Reise, bei der ich meine Musikerbekanntschaften vertiefe und zu ihnen fahre, denn ich kannte sie bis zu dem Zeitpunkt nur aus Deutschland.
Wie lange wart ihr vor Ort, um den Film zu drehen?
Vier Wochen, in denen wir ein ganz schönes Pensum zu bewältigen hatten. In den 95 Minuten des Films wird ja nur ein Ausschnitt gezeigt, wir hatten noch massig viel andere Sachen gemacht: Proben, Aufnahmesessions mit Macha und Chico Trujillo, viele andere Gespräche. Wir haben fast jeden Tag gedreht, sind morgens um sechs los und abends zurück ins Hotel. Weil in Chile die Entfernungen so extrem sind aufgrund der langgestreckten Geografie, sind wir wahnsinnig viel rumgegurkt. Aber das bin ich als Musiker gewohnt, dass man die meiste Zeit mit Rumsitzen und Fahren verbringt!
Was passiert mit den Musikaufnahmen, die ihr während der Reise gemacht habt?
Zunächst wollten wir den Film fertig machen. Es ist strategisch vielleicht unklug, den Film rauszubringen und erst danach zu gucken, ob man den Soundtrack dazu macht. Es gibt auf jeden Fall ohne Ende Material, sehr schöne und authentische Aufnahmen, aber ich will erst mal sehen, wie das mit dem Film läuft: ob die Leute verstehen, worum es geht.
Ich würde auf jeden Fall sehr gerne Soundmaterial von J. M. erstehen…
Ja, der ist super! Macha hatte mir vor langer Zeit schon von J. M. erzählt. Man muss dazu sagen, dass Macha in Chile unglaublich berühmt ist. Dadurch lernt er die verrücktesten Leute kennen. Alle kennen ihn, gleichzeitig ist er ein sehr zugänglicher Typ. So zieht er die schrägsten Typen an, darunter eben J. M. und die ganzen alten Barden, die das Liedgut bewahren, etwa im Cinzano, einem Kneipen-Restaurant in Valparaíso, wo sie die alten Tangos und Boleros vortragen. Viele dieser Sänger verdingen sich damit, dass sie in den abgeranzten Restaurants die Songs zum Besten geben. Wie man im Fall von J. M. sieht, reicht das nicht zum Leben und er muss nebenher als Gemüseverkäufer auf dem Wochen- markt arbeiten. Dabei sind diese Leute so unglaublich musikalisch und tragen einen so großen musikalischen Schatz mit sich herum! Und es ist sehr bitter: Wenn die nicht mehr sind, ist das alles weg! Es gibt zwar Originalaufnahmen aus den 50er-Jahren von irgendwelchen peruanischen Sängern – und selbst die sind nicht mehr erhältlich. Macha versucht, diese Musik mit Chico Trujillo und anderen Projekten in die neue Zeit zu übertragen, in einen anderen Kontext zu stellen. Ähnlich wie beim Tango handelt es sich dabei immer um Tragödien: Mann gibt der Frau das Messer, damit sie dich endlich abstechen kann, weil du untreu warst. Wenn so ein Typ wie Macha diese schmachtenden Texte singt, hat das eine ganz andere Wirkung, als wenn das ein 78-Jähriger singt. Das ist total wichtig, denn die jungen Leute finden das geil und entdecken das erst auf diese Art und Weise überhaupt.
Du selbst hast einen Punkrock-Hintergrund – warum kommen in dem Film keine chilenischen Punkrockgruppen wie die Prisioneros vor?
Die Prisioneros sind eine total wichtige Band für Chile, oder auch Los Tres und die anderen, die in den 80ern entstanden sind. Aber diese Musik ist schon komplett dokumentiert, das Internet ist voll davon. Ich wollte lieber das Augenmerk richten auf noch nicht so dokumentierte Leute, J.M. zum Beispiel, oder auch Macha selbst, der eigentlich ein sehr kamerascheuer Typ ist. Seine Band tritt nicht im Fernsehen auf. Insofern war das etwas ganz Besonderes, dass wir mit einer Kamera in sein Haus gehen und privat mit ihm abhängen konnten. Bei allem Respekt gegenüber den Prisioneros und ihrer Rolle für die chilenische Rockmusik, ich wollte mich auf die Musik des canto popular, der südamerikanischen Protestmusik, konzentrieren, Musik mit politischen Texten, handgemacht, nicht elektrisch verstärkt. Ich hätte ja auch noch weiter gehen können, Richtung HipHop etwa, da gibt es unzählig viele tolle Sachen, sehr politischen HipHop etwa. Ich wollte aber eben nicht den nordamerikanischen Sound mit chilenischen Texten, sondern gucken, was ist aus dem cantautor, dem chilenischen „Liedermacher“, geworden und was ist daraus entstanden. Das ist die Musik, mit der ich groß geworden bin: Victor Jara, Quilapayún usw. Das war meine frühe Kindheit, die mich am meisten geprägt hat.
Wie lange haben deine Eltern diese Peñas, diese musikalischen Zusammenkünfte, veranstaltet?
Das machen sie immer noch, etwa vier Mal im Jahr, und es wird immer voller! Jetzt wachsen neue Generationen nach, die dieses Miteinander total cool finden. Es sind auch nicht nur Chilenen da, manchmal kommen Nicaraguaner vorbei, Cubaner, Brasilianer oder Peruaner. Und wenn sie spielen können, schnappen sie sich die Gitarre und gehen auf die Bühne. Dazu gibt es Getränke und chilenisches Essen. Das finden nicht nur die Leute toll, die ein besonderes Interesse an Lateinamerika haben, auch junge Leute, die so etwas vorher noch nie gesehen haben.
Welcher Musiker, den du vorher noch nicht kanntest, hat dich am meisten überrascht?
Sehr überrascht war ich von Chinoy. Ich kannte nur seine Platten, seine Musik mit der flamencoartigen Gitarre und dem zirkularen Aufbau, worüber er seine Poesie mit dieser fisteligen Stimme singt. Ich konnte mir vorher überhaupt nicht vorstellen, wie jemand auf die Idee kommen kann, solche Musik zu machen. Mir wurde er als „der chilenische Bob Dylan“ vorgestellt – wahrscheinlich, weil er eine Zeit lang so eine Mütze trug wie Bob Dylan in den 70ern! Ich lernte ihn in San Antonio kennen, einer abgerockten Hafenstadt, die ihre Glanzzeiten seit 40 Jahren hinter sich hat, alles ist sehr ärmlich, die Fischer sind arbeitslos. Dort ist Chinoy aufgewachsen. Mit 12, 13 Jahren haben seine Kumpels kleine Einbrüche gemacht, waren auf der schiefen Bahn unterwegs. Sein engster Freundeskreis und er beschlossen jedoch, da nicht mitzumachen, obwohl sie aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammten. Stattdessen haben sie sich Bücher ausgeliehen und sich gegenseitig Gedichte vorgelesen. Das hat mich an die Biografie von Victor Jara erinnert, der aus ärmsten Verhältnissen stammte und nur die Alternative hatte, entweder Bauer oder Kleinkrimineller zu werden. Aber er hat sich für Poesie, Kunst und später Politik interessiert. Und aus dem ist was ganz Großes geworden. Dass ein junger Mensch sagt, ich gebe mich mit dem mir vorgegebenen Weg nicht zufrieden, ich ändere das – das fand ich faszinierend, dass ich erleben konnte, dass es so etwas im echten Leben – und nicht in Biografien oder Nachrufen – noch gibt. Das war ein Aha- Erlebnis. Dann habe ich auch verstanden, warum er so singt. Das Flamencoartige in seiner Musik erklärte er mir damit, dass vor Franco geflüchtete Spanier nach San Antonio gekommen waren und in den Hinterhöfen Flamenco spielten.
Warum kommen so wenige Frauen im Film vor?
Gute Frage. Es standen auch nicht wirklich viele zur Verfügung. Anita Tijoux wäre noch interessant gewesen, aber sie macht HipHop und der war nicht im Fokus der Dokumentation. Camila Moreno hingegen passt total gut rein, weil sie mit ihrem Cuatro[fn]Kleine, viersaitige Gitarre aus Venezuela [/fn] in diese Violeta-Parra-Ecke gedrängt wird. Das mag sie eigentlich gar nicht, andererseits verkennt sie nicht ihren starken Bezug zu Violeta Parra. Sie ist eine Künstlerin, die eigentlich etwas anderes sein will, als was sie wahrgenommen wird. Vor unserem Dreh war sie unsicher, ob sie überhaupt mitmachen möchte, weil sie in die Schublade der Musik, über die ich berichten wollte, gar nicht hineingeschoben werden wollte. Aber wenn sie ihren Mund aufmacht und ihren Cuatro spielt, dann hat sie einfach was von Violeta Parra – eine kleine Frau mit einem unglaublichen Organ, mit so viel Schärfe und Tiefe!
Wie war für dich die Begegnung mit den Mapuche?
Ich hatte vorher schon einiges gehört, dass in manchen Gebieten quasi Bürgerkrieg herrscht. Aber in den chilenischen Nachrichten oder Zeitungen gibt es nichts dazu. Man weiß im Ausland mehr über den Kampf der Mapuche als in Chile. Als wir in den Süden fuhren, wurde die Landschaft immer grüner, um uns herum viel unberührter Wald. Auf einmal ändert sich das Panorama und man sieht nur noch Kiefern, Kiefern, Kiefern. Plötzlich kommen aus den kleinen Straßen gepanzerte Fahrzeuge, die einen an die Dokumentationen aus den 80ern über die Studentenproteste in Santiago erinnern, und man denkt, das passt doch gar nicht zu der idyllisch aussehenden Landschaft und den kleinen Dörfern. Beim Gespräch mit den Mapuche bekommst du mit, dass es dort ständig knallt. Ihr Land ist quasi besetzt, selbst wenn sie es jemals zurückbekommen würden, wäre es unbrauchbar, weil die Böden von den Kiefernplantagen total ausgelaugt sind. Also besetzen die Mapuche dieses Land, fackeln die Kiefern ab und versuchen etwas für den Eigenbedarf anzubauen. Und dann gibt’s da richtig Krawall. Sie wehren sich mit Schleudern und Steinen und die Polizei rückt mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas an. An dem Tag, an dem wir runtergefahren sind, hieß es auch: Heute gab es wieder Stunk, die haben zwei von uns verhaftet. Das ist dasselbe Spiel wie bei uns: Wenn du die Mapuche als Terroristen deklarierst, kannst du sie immer wieder wegbuchten, und die Öffentlichkeit applaudiert auch noch. Dabei vertreten sie doch nur ein ganz klassisches, normales Anliegen: Wir wollen, dass unsere Erde nicht kaputt gemacht wird. Unter der Pinochet-Diktatur wurde damit begonnen, die Ländereien an große Forstunternehmen für die Zelluloseherstellung zu verschachern. Wir waren an diesem wunderschönen Lleu- Lleu-See, der ein heiliger Ort für einen bestimmten Stamm ist, ringsherum nur Kiefern, ab und an kleine Oasen, wo die Mapuche alte Bäume stehen lassen und ihre Landwirtschaft betreiben. Wir haben uns gefragt, können wir jetzt in diese Straße reinfahren? Wenn die Polizei uns sieht, müssen wir die Kamera direkt wegpacken, sonst buchten die uns als Terrorunterstützer ein.
War das für dich das erste Mal, mit Mapuche-Gemeinden Kontakt zu haben?
Ich hatte zwar in Deutschland Mapuche kennen gelernt, die auf der Peña als Gäste waren und Vorträge hielten, aber vor Ort war ich noch nie. Man braucht einen Türöffner, um in die Gemeinden zu kommen. Nahuel, der Filmemacher, hatte über sein Mapuche-Buch gute Kontakte. So kamen wir auch zu dem Interview mit den beiden Mapuche-„Anführern“, diesen beiden recht militanten jungen Männern, die uns ihr wahrscheinlich einziges und letztes Interview gaben.
Der Film bekommt zum Ende hin einen recht starken Bezug zu aktuellen politischen Auseinandersetzungen in Chile…
Das war auch wichtig. Wir waren ja auch im Süden bei Alonso Núñez in Puerto Aysén, der uns von den großen Zusammenstößen vor vier Jahren erzählte. Das war mal ein Hafen mit viel Fischerei, wo jetzt nichts mehr ist, das ist alles tot. Die Leute, die dort seit Generationen leben, fühlen sich im Stich gelassen von der chilenischen Zentralregierung. In Chile leben eben die meisten Leute in Santiago. Die Rohstoffe, das Wasser und der Strom, das alles soll schön in die große Stadt, der Rest interessiert nicht. Überall in Chile entstehen Kraftwerke, die die Natur zerstören, um Energie für die riesigen Gold- und Kupferminen zu liefern, die wiederum Konzernen gehören, die keine Steuern bezahlen. Das wird dann als Fortschritt verkauft – diese Dienstleistungsstadt Santiago mit ihren tollen neuen Hochhäusern. Ich war seit 2004 nicht mehr dort gewesen und habe die Stadt fast nicht wiedererkannt, das sah aus wie Los Angeles im Kleinen, mit Wolkenkratzern und riesigen Shopping Malls. Diese Widersprüche werden immer krasser. Und in Santiago interessiert sich niemand dafür, dass die Bauern im Norden kein Wasser mehr haben oder im Süden wieder 100 Mapuche verhaftet werden. Das neoliberale Denken ist sehr stark in den Köpfen und alles dreht sich um Wachstum. Dazu kommt, dass sich der Durchschnittschilene extrem verschuldet, damit sein Kind eine vernünftige Ausbildung bekommt oder er sich eine Wohnung leisten kann. Wenn das alles mal zusammenbricht, wird’s dort richtig abgehen.
Hattet ihr beim Dreh ein Zielpublikum im Kopf?
Der Film ist für alle. Vielleicht hilft er dabei, ein bestimmtes touristisches Bild zurechtzurücken: Da gibt es zwar auch schöne Bilder, aber man sieht normale Ecken und Leute und bekommt ein anderes Bild von den Menschen, der Kultur und der Musik, als wenn man zum Kajakfahren nach Patagonien fährt. Außerdem stellt der Film eine Verbindung her zu dieser großartigen Musikbewegung Südamerikas von Ende der 60er-Jahre und guckt, ob es heute noch etwas davon gibt. Und ja, Victor Jara ist immer präsent, ebenso Violeta Parra, bei allen, die ich getroffen habe – als ob es ihnen in ihre DNA reingelegt worden sei.