Im Hospital Saldaña, dem Krankenhaus, in dem die Krankenschwester arbeitet, hält sie alle Empfehlungen ein, wäscht sich häufig die Hände, benutzt Desinfektionsmittel und Mundschutz. Zu Hause geht das nicht. Im Krankenhaus hat man ihr empfohlen, zu Hause ihre Arbeitsschuhe auszuziehen und mit Lauge zu waschen, aber in ihrem Haus im Quartier San Ernesto geht das auch nicht. An jenem 8. März 2020 hatten die Bewohner*innen dieses Stadtteils schon seit zwei Wochen kein Wasser mehr bekommen. „Wir sind gehalten, Schuhe und Kleider zu waschen, wenn wir von der Arbeit kommen. Aber wie soll ich das ohne Wasser machen?“ Also deponiert die Krankenschwester ihre Arbeitsschuhe in einer Plastiktüte im Hauseingang. Und häufig Hände waschen, wie soll das gehen ohne Wasser? Einige Tage später läutete bei der Krankenschwester wie an jedem Morgen der Wecker um vier Uhr. Obwohl sie an diesem Tag nicht so früh ins Krankenhaus muss, bleibt sie wach, weil sie etwas gehört hat, was sie seit so vielen Tagen nicht mehr gehört hatte: Aus ihren offenen Wasserhähnen kommt tatsächlich Wasser. Also nutzt sie die Zeit, um Wäsche zu waschen.
Die Mieten für ein Haus in San Ernesto kosten 150 bis 200 US-Dollar im Monat. Hier wohnen Angestellte des öffentlichen Dienstes und der Banken sowie Studierende. Ihre Haustüren halten sie fest geschlossen, denn San Ernesto liegt zwischen Stadtteilen wie Bosques de Prusia, La Coruña, Santa Gertrudis und Los Santos, die als von Maras kontrolliert gelten, auch wenn die Mordrate in Soyapango unter der derzeitigen Regierung stark zurück gegangen ist. Um einzukaufen oder sich zu vergnügen, fahren die Leute von San Ernesto in das drei Kilometer entfernte Einkaufszentrum Plaza Mundo. San Ernesto ist ein durchschnittlicher Stadtteil der unteren Mittelschicht. Am 27. Februar, als es zuletzt Wasser in San Ernesto gab, wurden weltweit 83 700 Coronafälle gezählt. Zwei Wochen später, als es mal wieder Wasser gab, hatte sich die Zahl annähernd verdoppelt. Der dünne Wasserstrahl, der an jenem 14. März aus den Hähnen kam, währte von kurz nach Mitternacht bis neun Uhr vormittags. Danach hing überall in San Ernesto feuchte Wäsche an den Leinen. Die 68 Jahre alte Nachbarin der Krankenschwester macht einen übernächtigten Eindruck, denn sie hat das spärlich aus der Leitung rinnende Wasser genutzt und es in allen Gefäßen und Flaschen, die sie zur Hand hat, gesammelt.
Obwohl sich in El Salvador seit dem 8. März alles um die Corona-Krise dreht, herrschen in dem Land Bedingungen, die sich nicht so schnell verändern lassen. Laut einer Untersuchung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2016 gibt es in El Salvador 600 000 Personen, die keinen dauerhaften Zugang zu Leitungswasser haben. Das sind die Leute, die in den seltenen Stunden, in denen Wasser aus den Leitungen kommt, Becken, Töpfe, Schalen, Flaschen mit Wasser füllen, auch wenn sich darin die Mückenlarven breit machen. Wie zum Beispiel im Juli 2019, als prompt eine Denguefieber-Epidemie ausbrach. Und es sind die Kinder der Leute, die im Jahre 2000 die Cholera-Epidemie erlebten und sich auch nicht die Hände häufig waschen konnten. Die Epidemien wechseln, aber der Wassermangel bleibt. Wenn Leitungswasser nicht ständig zur Verfügung steht, sind alltägliche Dinge, wie sich häufig die Hände zu waschen, schwierig, auch wenn sie wie in Zeiten der Pandemie unabdingbar werden. „Das Wasser, mit dem wir uns die Hände waschen, behalten wir, um damit das Klo zu spülen.“, erklärt eine Nachbarin in San Ernesto. Auch beim Wäschewaschen wird das Schmutzwasser noch einmal und noch einmal genutzt – bis es ganz und gar nicht mehr dem gleicht, was man in El Salvador euphemistisch líquido vital, Lebenselixier, nennt.
Für andere alltägliche Verrichtungen wie die Zähne zu putzen, zu kochen, den Haustieren zu trinken zu geben kaufen die Leute im Stadtteil San Ernesto Flaschenwasser. Und weil es kein Wasser zum Abspülen gibt, kaufen sie Einweggeschirr. Üblich ist es auch, die Wasserhähne ständig offen zu lassen – für alle Fälle, eine Frage der Hoffnung. Im Januar, als das Virus in China seinen Siegeszug begann, gab es in Soyapango und den anderen Gemeinden im Ballungszentrum von San Salvador schon Probleme mit dem Leitungswasser aus dem öffentlichen Netz der Wasserwerke ANDA (Administración Nacional de Acueductos y Alcantarillados). Es war so verseucht, dass die Menschen Magen- und Darmprobleme bekamen. Die Krankenschwester erzählt: „Im Juli letzten Jahres gab es alle zwei Tage Wasser, ab August dann nur noch einmal in der Woche, und seit Januar wissen wir nicht, ob es alle zwei oder drei Wochen einmal für ein paar Stunden kommt. Man kann dann bei ANDA anrufen oder über das Internet reklamieren – per Twitter, zwinkert sie in Anspielung auf Präsident Bukele, der wie sein Freund Donald Trump vorzugsweise per Twitter kommuniziert. Auch das ist nicht neu. Seit Dezember 2018, als ANDA damit anfing, nur noch alle drei Tage Wasser zu liefern, reklamieren die Krankenschwester und ihre ganze Nachbarschaft schon. Sie verstehen nicht, weshalb es eine Straße weiter, im Nachbarstadtteil Bosques de Prusia, Wasser gibt und bei ihnen nicht. Laut einem Sprecher von ANDA ist die Antwort auf diese Frage kompliziert. San Ernesto gehört zur „kritischen Zone“, deren Versorgung vom Wasserwerk Las Pavas abhängt, das Wasser aus dem Río Lempa, dem größten Fluss El Salvadors, sammelt, aufbereitet und verteilt. Seit dieses Wasserwerk im Januar renoviert worden ist, läuft es erst auf halber Kapazität und das Quartier San Ernesto ist einfach noch nicht an der Reihe. Im Nachbarstadtteil La Coruña hat ANDA einen Brunnen rehabilitiert, und in Bosques de Prusia kommt das Wasser aus dem benachbarten Prados de Venecia. Auf einen weiteren Brunnen konnten sich, laut ANDA, die Stadtteile San Ernesto und La Coruña nicht einigen. Schlussfolgerung aus den langatmigen Erklärungen des ANDA-Sprechers: Es gibt keine baldige Lösung für das Wasserproblem in San Ernesto. Mittelfristig plant ANDA neun Brunnen für die „kritische Zone“ und weitere sechs, deren Standorte bereits festgelegt worden sind, sowie die Kapazität des Wasserwerkes Las Pavas hoch zu fahren. Aber das sind Zukunftspläne.
In jüngerer Vergangenheit hat ANDA in der kritischen Zone Paletten mit Wasserflaschen verteilt. Patricia, eine 45jährige Tortilla-Bäckerin in San Ernesto, verarbeitet jeden Tag eineinhalb Zentner Mais zu Tortillas. Dafür braucht sie fünf garrafones Wasser. Das sind große, korbartige Plastikflaschen, die fünf US-Gallonen fassen, knapp 19 Liter. „Wenn ich nicht hinter dem Wasser her bin, gibt es keine Tortillas.“ Der Nachbar, ein KfZ-Mechaniker, schenkt Patricia Wasser. „Früher machte ich noch andere Speisen aus Mais und Maniok, aber für alles brauche ich Wasser und für den Abwasch auch. Deshalb mache ich seit acht Monaten nur noch Tortillas.“ Während Patricia von ihren Schwierigkeiten erzählt, laufen im Radio die Ratschläge der Regierung zur Corona-Prävention, immer wieder wird das häufige Händewaschen betont. Patricia kommentiert: „Ich hab das alles gehört, aber wie zum Teufel soll ich mir ohne Wasser die Hände waschen, die Wäsche waschen und kochen?“
Wie geht es, ohne Leitungswasser zu wirtschaften? Für Gabriela Martínez, die zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter in San Ernesto lebt, sieht die Rechnung jede Woche so aus: zwei garrafones Wasser für sechs US-Dollar, Brauchwasser aus dem Zisternenwagen für zehn US-Dollar. Zweimal in der Woche auswärts waschen und trocknen lassen von 30 Kleidungsstücken für je fünf US-Dollar. Das sind jede Woche 26 US-Dollar, über 100 im Monat. Das können sich nicht alle leisten in einem Land, in dem der Mindestlohn bei 300 US-Dollar im Monat liegt und der einfache Warenkorb (ohne Ausgaben für Bildung und Gesundheit und ohne Rücklagen) auf 590 US-Dollar pro Monat berechnet wird.
In El Salvador leben zwei Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, haben also auch Einkommen unterhalb des Mindestlohnes – wie sollen sie die Corona-Krise überleben? Auch der Umgang mit der Krise wird von der Ungleichheit geprägt. Seit dem 8. März gibt es in allen Supermärkten Hamsterkäufe von Toilettenpapier und Desinfektionsmitteln. „Wer viel Geld hat, kann alles zusammen hamstern, was er will.“, kommentiert ein Bankangestellter in San Ernesto. „Unsereins muss auf sein normales Gehalt warten und dann schauen, wie weit er damit kommt.“ „Ich jedenfalls“, sagt die Krankenschwester, „werde nicht mein ganzes Gehalt für Toilettenpapier ausgeben. Ich brauch es für Essen und Wasser, das ist wichtiger.“ Und der Bankangestellte fügt hinzu: „Wir wollen ja bloß, dass man uns hilft, das Wasserproblem zu lösen, dass der Herr Frederick Benítez (Präsident von ANDA) mal vorbeikommt und dafür sorgt, dass wir angemessen Leitungswasser bekommen, wie die Leute in den Stadtteilen Escalón und Santa Elena oder im Country Club, wo sie genug haben, um ihre Swimmingpools zu füllen.“ Die genannten Orte gehören zu den luxuriösesten von El Salvador – und sind gerade mal 18 Kilometer vom Quartier San Ernesto entfernt. Aber um den Gegensatz zu erleben, braucht man nicht einmal so weit zu fahren. Drei Kilometer vom Stadtteil San Ernesto entfernt liegt das Einkaufszentrum Plaza Mundo. An dem Samstag, an dem es in San Ernesto für ein paar Stunden Wasser gab, sprudelt um die Mittagszeit in Plaza Mundo immer noch ein riesiger Springbrunnen, der sich über zwei Stockwerke erstreckt.