Vollkommene rechtliche Gleichstellung und Anerkennung für Homosexuelle existieren wohl nirgends auf der Welt. Wenn aber zur gesetzlichen Diskriminierung noch die kulturelle Ablehnung kommt, wird es eng. Die geographische Flucht reicht dabei meistens nicht. Denn die Gewaltverhältnisse reisen mit. Mit lakonischer Wucht zeichnet die salvadorianische Schriftstellerin in ihrem neuen Roman eine weitere Facette einer Gesellschaft, die um Zukunft ringt. Und nicht aufgibt.
„Du musst schon einiges tun, dass es ihm gut geht“, sagt die Hebamme zur verständnislosen Mutter und hält ihr den Neugeborenen hin, der eigentlich ein Mädchen werden sollte. Er sei am falschen Ort. Sie bemüht sich. Der Vater in keiner Weise. Er behauptet hasserfüllt, dieses unmännliche Kind sei das Produkt eines Seitensprungs seiner Frau und will es mit Gewalt zum Kerl erziehen. Mitschüler ziehen ihn auf. Soldaten zwangsrekrutieren und vergewaltigen ihn. Über einen entfernten Verwandten gelingt die Entlassung. Die Familie wechselt den Wohnort in der Hoffnung, er werde im neuen Armenviertel nicht mehr von der Armee gefunden. Irgendwann reißt auch der Mutter der Geduldsfaden: Der Junge kauft einen Behälter, um vom staatlichen Lastwagen Trinkwasser zu holen. Ausgerechnet in rosa. Sie prügelt ihn. Und verbrennt den Behälter. „Rosa ist nichts für Männer“, ereifert sie sich. Letztendlich entkommt auch die Mutter nicht den herrschenden Vorurteilen.
Vorerst ahnt der Junge nur, dass irgendetwas mit ihm anders ist und es ihm irgendwann besser gehen wird. Mit diesen Worten, vom „Ich“ gesprochen, beginnt der Roman. Das ist auch gut so, denn man braucht einen Vorschuss an Optimismus, um nicht ein fatales Ende vorauszusehen. Die Familie reproduziert die Gewaltverhältnisse ihrer Umgebung und schweigt dazu. Macht ist nicht hinterfragbar. Der Vater vergewaltigt die älteste, behinderte Schwester des Jungen. Dessen jüngerer Bruder hält das für unbedenklich: Wer würde schon einer Irren glauben? Die Mutter frisst das Leid in sich hinein. Die ältere Schwester verlässt irgendwann die Familie, die kaum über die Runden kommt, und geht auf Arbeitssuche nach Mexiko. Die ebenfalls älteren Zwillingsschwestern migrieren bis in die USA. Der Junge wächst heran, ohne zu begreifen, wie genau und warum er „anders“ ist. Nachdem ihm seine erste große Liebe, ein Mitschüler, verweigert wird, folgt er den Schwestern in den Norden. Ein notwendiger Aufbruch, aber auch ein schwieriger. Noch schwieriger als der der Zentralamerikaner*innen, die mit ihm unterwegs sind. Claudia Hernández beschreibt weder didaktisch noch moralisierend. Es ist einfach so, wie auch der aus ganz armen Verhältnissen stammende Junge einfach ein Transsexueller ist, der dies noch akzeptieren muss.
Auf dem Weg über Mexiko in die USA zu den Zwillingsschwestern gerät er in die Fänge von Vergewaltigern, später von gewalttätigen Sekten. Dort trifft er auch diejenige, die fortan eine mütterliche Freundin sein wird. Auch sie, die Gläubige auf der Suche nach der wahren in den vielen, oft nur kurz und zu kommerziellen Zwecken eröffneten Kirchen, hat ein Leben in einer Familie hinter sich, das die schmerzliche Distanz von Schein und Sein zeigt.
Die Schwestern, aber auch die Wahlverwandtschaft dieser Freundin, sind der eigentliche Halt des jungen Salvadorianers. Inmitten von Sex, Gewalt, enttäuschter Liebe, Verrat und neuer Hoffnung beginnt er allmählich zu seiner sexuellen Identität zu stehen. Immer aber auch mit der Idee, für den Unterhalt seiner Familie daheim in El Salvador aufkommen zu müssen. Mit Gelegenheitsjobs und Prostitution klaubt er die Raten zusammen, mit denen seine Mutter daheim das Haus abbezahlt.
Irgendwann besucht er sie. Da hatte er schon sein Coming Out als wunderhübsche Jasmine, unterstützt übrigens von seinen Schwestern. Die wissen auch, dass es in El Salvador Homosexuelle gibt, die sich nicht outen, aus Angst vor den Vorurteilen einer Gesellschaft, die Männern Gewalt und Vergewaltigung, aber nichts anderes als Normsexualität zugesteht. Für Jasmine ist es kaum auszuhalten, dass die Mutter diesen Sohn, der als Tochter heimkommt, nicht sehen will. Jasmine leidet umso mehr, als er/sie sich mit HIV infiziert hat und er/sie täglich in seinem/ihren Freiwilligenjob in einer Art Aids-Hospiz sieht, wie schnell die Kranken sterben.
Es gibt kein Happy End, aber auch keinen traurigen Schluss. Darin spielen eine Leihmutterschaft, aber auch Jasmines erste Liebe aus Kinderzeiten eine Rolle. Und Verben im Futur.
In ihrem vorherigen Roman „Roza, Tumba, Quema“ zeichnete die mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnete Claudia Hernández die Fortdauer des Krieges und die innere Zerstörung der salvadorianischen Gesellschaft und nahm dabei die Auswirkungen auf die Frauen in den Blick. In „El Verbo J“ geht es auch viel um Frauen, um Migrantinnen insbesondere, aber noch mehr um die schwierige Selbstfindung eines Transsexuellen. Dabei steckt der Sinn nicht nur im Plot, sondern gerade auch in der für Claudia Hernández so charakteristischen Schreibweise. Die Kapitel „Ich, du, er, sie…“ verfolgen die Geschichte Jasmines aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven, je nach Personalpronomen. Jasmine trägt als einzige einen Namen. Damit erklärt sich auch der Titel des Buchs: „J“ ist eigentlich ein Buchstabe, aber hier ist es ein Verb. J(asmine) bewegt sich, ist aktiv. Ein Prinzip Hoffnung.