Alvaro García Linera gilt als brillanter Kopf, der auch als Vizepräsident auf seine akademische Reputation achtet. Doch selbst ihn dürfte es freuen, dass seine Prognose gegenüber VertreterInnen der Ila nicht eingetroffen ist: Auch wenn seine Partei die bevorstehenden Wahlen gewänne, hatte er im September 2005 prophezeit, würde sich eine Regierung unter Evo Morales kaum länger als ein halbes Jahr an der Macht halten können. Die Begründung damals: Die katastrophale Pattsituation zwischen der traditionellen politischen Klasse, einer kleinen weißen und mestizischen Oberschicht auf der einen sowie indigenen Gemeinden und sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. Das Adjektiv katastrophal bezog sich damals auf die vielen blutigen und scheinbar ausweglosen Auseinandersetzungen.
Zweieinhalb Jahre nach den Wahlen sind Morales und Alvaro García noch immer im Amt. Dabei mag der überraschende Gewinn der absoluten Mehrheit in der Abgeordnetenkammer eine Rolle gespielt haben. Doch Morales selbst hatte gewarnt, dass es zwar möglich sei, einen Aymara zum Präsidenten zu wählen, dass die Macht damit aber nicht gewonnen sei. Selbst Jesus würde Gefahr laufen, erneut gekreuzigt zu werden ohne die Unterstützung der sozialen Bewegungen und insbesondere der indigenen Organisationen. Doch die sind heute unzufrieden. Gewiss, mit der Nationalisierung der Erdölvorkommen und mit der Durchführung der Verfassunggebenden Versammlung hat die Regierung die zwei wichtigsten Wahlversprechen erfüllt. Auch treten die Indígenas heute selbstbewusster auf.
Nachdem anfangs sogar Ministerinnen wie die ehemalige Hausangestellte Casimira Rodríguez von ihrer Sekretärin boykottiert und diskriminiert worden waren, wissen sich heute viele Indigene in den Behörden besser zu behaupten. Genau das kratzt am Selbstbewusstsein der traditionellen Elite, und daran knüpfen die Massenmedien an, um Verlustängste und Ressentiments zu schüren. So mokierten sie sich darüber, dass eine Kokabäuerin wie Silvia Lazarte – immerhin Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung – im Geländewagen fährt. Umgekehrt ist es den meisten Medien keinen kritischen Kommentar wert, wenn dieselbe Frau in Sucre auf offener Straße beschimpft, getreten und angespuckt wird. Nur in den seltensten Fällen werden solche Übergriffe geahndet, wie nach der Erschießung eines protestierenden Bauern durch eine aufgebrachte Gruppe von Mittelschichtsjugendlichen im Stadtzentrum von Cochabamba. Auch deshalb hat diese Art von Übergriffen unter dem Aymara-Präsidenten zu- statt abgenommen.
Die Opposition gebärdet sich trotz immer neuer Zugeständnisse der Regierung immer radikaler. Kontrolliert und angeführt wird sie von einer kleinen, aber mächtigen Minderheit von agroindustriellen Unternehmern und traditionellen Großgrundbesitzern aus dem Tiefland. Die jeweiligen Themen des Tages – die neue Verfassung, der künftige Sitz der Regierung oder ein Autonomiestatut – sind eher Vorwand. Ihnen geht es vor allem um die Verteidigung von Privilegien. Über die von ihnen kontrollierten Massenmedien können sie immer wieder vor allem die städtischen Mittelschichten gegen die Regierung mobilisieren. Eine zukunftsweisende Alternative sind sie aber weder in den Augen der Bevölkerungsmehrheit Boliviens noch für internationale BeobachterInnen: Der Rassismus in einigen Massenmedien, stellte Rodolfo Stavenhagen jüngst nach einem Besuch in Bolivien fest, passt eher zu einem Kolonialstaat als zu einer Demokratie. Auch einigen Paragraphen des von der Opposition in Santa Cruz vorgestellten Autonomiestatuts bescheinigt der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für indigene Völker einen rassistischen Unterton und die Verletzung indigener Rechte.
Doch das Ziel, den Kolonialstaat zu überwinden, hatte Evo Morales in seiner Rede zur Amsteinführung am 21. Januar 2006 in Tiwanaku verkündet. Die Verwirklichung der Vision einer multikulturellen Demokratie, die der indigenen Mehrheit ermöglichen soll, Diskriminierung und Armut zu überwinden, droht im strukturellen Patt, von dem García Linera heute spricht, stecken zu bleiben. Deshalb kann Linera kaum zufrieden sein – auch wenn er sich über zwei Jahre im Amt halten konnte.