Vom Mythos der „freien Arbeit“

In den 1930er-Jahren konfiszierte die politische Polizei von Rio de Janeiro ein Manuskript, das die bemerkenswerte Geschichte eines Bäckereiarbeiters in der Zeit von 1876 bis 1912 enthält. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Bericht für den brasilianischen Arbeiterkongress von 1912. Die Erzählung des Arbeiterführers João de Mattos beginnt 1876 in Santos, einer wichtigen Hafenstadt, wo er in einer Bäckerei arbeitete und eine „Meuterei“ organisierte, die in seinen Worten eigentlich „das gleiche wie die heutigen Streiks“ gewesen sei. Tatsächlich kam es zur Arbeitsniederlegung in sämtlichen Bäckereien der Stadt, während der alle versklavten ArbeiterInnen – in Brasilien wurde die Sklaverei erst 1888 abgeschafft – mit gefälschten Freilassungsbriefen flohen. João wurde für einige Tage festgenommen, aber wegen fehlender Beweise wieder entlassen. Er ging daraufhin nach São Paulo und organisierte dort 1877 erfolgreich eine weitere „Meuterei“ in elf oder zwölf Bäckereien. 1878 kam er nach Rio de Janeiro. Um auch dort in den zahlreichen Bäckereien eine „Meuterei“ in Gang zu setzen, mussten João de Mattos und seine GefährtInnen eine Organisation schaffen, die sie „Bloco de Combate dos Empregados em Padarias“ (Kampfgruppe der Bäckereibeschäftigten) nannten. Die Gruppe hatte ein Büro, eine Satzung und ein Motto: „Für Brot und Freiheit“. Aber sie musste sich als Tanzkurs tarnen und im Geheimen arbeiten, denn es war, wie João schreibt, „ein schreckliches Verbrechen, gegen die Sklaverei zu kämpfen“. Die Gruppe brachte es auf über 100 Mitglieder, zettelte eine Reihe vereinzelter „Meutereien“ und 1880 eine „Generalmeuterei“ an. Die versklavten ArbeiterInnen der Bäckereien von Rio de Janeiro flohen in ländliche Gebiete, aber João kam erneut ins Gefängnis. Diesmal wurde er von Saldanha Marinho, einem berühmten Abolitionisten und Republikaner verteidigt. Nach der Abschaffung der Sklaverei ging der Kampf der „frei Versklavten“, wie João die LohnarbeiterInnen nennt, für ihn wie selbstverständlich weiter. Zusammen mit anderen gründete er 1890 eine Assoziation, die Geld sammeln sollte, um eigene Bäckereien der ArbeiterInnen, ohne Chefs, gründen zu können – „Arbeiten für uns“ war ihre Parole. Die etwa 400 Mitglieder umfassende Organisation scheiterte, als es zu einem Skandal um die Veruntreuung von Geldern kam. In der Folge beteiligte sich João an gewerkschaftlichen Aktivitäten, am Kampf für den arbeitsfreien Sonntag und für den Acht-Stunden-Tag.

Diese kleine Geschichte wird von dem an E.P. Thompson orientierten brasilianischen Sozialhistoriker Marcelo Badaró Mattos in einem Aufsatz[fn]Marcelo Badaró Mattos: Experiences in Common: Slavery and „Freedom“ in the Process of Rio de Janeiro’s Working-Class Formation (1850-1910), in: International Review of Social History, Vol. 55 (2010) No. 2, S. 193-213[/fn] dargestellt, um die bisherige Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung zu hinterfragen, die eine klare Trennung zwischen den Kämpfen in der und gegen die Sklaverei und dem Entstehen einer „modernen“ Arbeiterbewegung in der Lohnarbeit vornimmt. An dem Fall von João und weiteren brasilianischen Arbeitskämpfen im 19. Jahrhundert zeigt Mattos, dass und wie die Erfahrungen aus den Kämpfen der SklavInnen in den Bildungsprozess der Arbeiterbewegung einflossen und ihn auf spezifische Weise prägten. Als Orientierung dient ihm dabei auch die 2000 im Original erschienene Studie von Peter Linebaugh und Marcus Rediker „Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks“ (dt. 2008)[fn]Peter Linebaugh/Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Übersetzung: Sabine Bartel, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, 432 S., 28,00 Euro[/fn], weil sie im Bruch mit der akademischen Tradition den Verbindungen zwischen den Kämpfen verschiedenster Gruppen von Ausgebeuteten und Versklavten im atlantischen Frühkapitalismus nachspürt. Gegen die auch im marxistischen Diskurs übliche Trennung zwischen Sklaverei- und Arbeitergeschichte hatten schon viel früher afroamerikanische Historiker wie W.E.B. Du Bois oder C.L.R. James angeschrieben und die Kämpfe der Versklavten während des amerikanischen Bürgerkriegs 1860-1865 und der folgenden „Reconstruction“ in den Südstaaten der USA oder den welthistorisch herausragenden Aufstand der ArbeiterInnen auf den Zuckerrohrplantagen in Saint-Domingue, dem späteren Haiti, als integrale Bestandteile der modernen Klassenkämpfe analysiert. Das Sensationelle an dem Buch von Linebaugh und Rediker bestand darin, dass sie diese verschütteten Versuche wieder aufgriffen und in aller Selbstverständlichkeit die haitianische Revolution von 1792-1804 als „die erste erfolgreiche Arbeiterrevolte in der Geschichte der Neuzeit“ – lange vor 1917 – bezeichneten.

Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Trennung dieser beiden Geschichten erhalten hat, verdankt sich letztlich dem aboli­tionistischen Diskurs, der auf theoretisch unheilvolle Weise auch seinen Niederschlag im marxistischen Denken gefunden hat. Hauptvertreter des Abolitionismus Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts waren vom Quäkertum religiös inspirierte Kreise der aufstrebenden Industriebourgeoisie. Während sie, vor allem zunächst in England, Kinder und junge Frauen in ihren Bergwerken und Fabriken ausbeuteten, fochten sie mit viel intellektuellem und finanziellem Einsatz gegen das gotteslästerliche Institut der Sklaverei. Ob bewusst gewollt oder nur Konsequenz ihrer religiösen Überzeugungen, die strikte Trennung zwischen dem förmlichen Eigentum an Menschen und dem Verkauf von Arbeitskraft auf dem Markt diente der Rechtfertigung der dramatisch expandierenden neuen Form des Arbeitens, der Lohnarbeit, wie der Sklavereiforscher David Brion Davis in seiner akribischen Untersuchung der abolitionistischen Bewegung „The Problem of Slavery in the Age of Revolution 1770-1823“ 1975 herausgearbeitet hat. Im Hintergrund lauerte vor allem ein zentrales Problem – das der Arbeits- und Fabrikdisziplin. Erst in den letzten 20, 30 Jahren hat die historische Forschung umfassend unseren paternalistischen Blick auf die Versklavten als wehrlose Opfer eines grausamen Arbeitsregimes korrigiert und klar gemacht, dass die Sklaverei auch für die Herrschenden immer eine Zeit der Angst und des Schreckens war, durchzogen von einer nicht abreißenden Kette von Aufständen und Revolten. Im Anschluss an Davis schreibt Susan Buck-Morss in „Hegel und Haiti“ (2009): „Die Ideologie der freien Lohnarbeit, die in Europa zusätzlich durch rassistische Vorstellungen der Differenz untermauert wurde, erwies sich letztlich als Niederlage für die britische Arbeiterklasse, als die Freiheit zum allumfassenden Leitbegriff für den Anspruch Großbritanniens wurde, diese überlegene Nation habe eine historische Vorreiterrolle, ‚die Kräfte des moralischen und ökonomischen Fortschritts anzuführen‘. Freies Eigentum plus freie Arbeit plus freier Handel – diese drei Maßstäbe summierten sich zum neu konzipierten modernen Ideal der Freiheit“.

Hier muss daran erinnert werden, dass die befreiten SklavInnen auf Haiti oder in den Südstaaten der USA sich unter „Freiheit“ eben nicht den Übergang in die Lohnarbeit als neue Form einer Abhängigkeit und Ausbeutung durch einen Herrn vorstellten, sondern ein Leben als selbständige Kleinbauern. An diesem Widerstand gegen die Lohnabhängigkeit scheiterten die Versuche der haitianischen Staatsgründer Toussaint und Dessalines, zur Stärkung der nationalen Ökonomie die Plantagenwirtschaft mit Lohnarbeit fortzuführen; und die Baumwollproduktion in den Südstaaten der USA basierte noch Jahrzehnte nach 1865 auf dem „sharecropping“ (Naturalpacht) – einer Pattsituation zwischen dem Widerstand gegen die Lohnarbeit und der Verweigerung einer Landverteilung seitens der Großgrundbesitzer.

Insgesamt waren aber der Siegeszug und die Expansion des Kapitalismus damit verbunden, dass Lohnarbeit zum Synonym für „freie Arbeit“ wurde. „The Invention of Free Labor“ (Die Erfindung der freien Arbeit) verlief allerdings, wie Robert Steinfeld 1991 in seinem gleichnamigen Buch schreibt, sehr viel schwieriger und langwieriger, als es klischeehafte Darstellungen des Übergangs von Feudalismus und Sklaverei zum modernen Kapitalismus erscheinen lassen. Schon juristisch war es ein anspruchsvolles Unterfangen: Wie konnte es gelingen, ein Herr-Knecht-Verhältnis, das auch die Lohnarbeit nach wie vor zweifellos ist (heute in die rechtliche Terminologie von „Direktionsrecht“ und „Weisungsbefugnis“ gekleidet), als Vertragsverhältnis zwischen Freien und Gleichen darzustellen?

Die abolitionistische Dichotomie von Sklaverei und Lohnarbeit hat auch Eingang in die marxistische Diskussion und Forschung gefunden, was sich einerseits einem Missverständnis über die dekonstruktivistische Methode von Marx in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ verdankt, andererseits aber auf der materiell-handfesten Integration der westlichen Arbeiterbewegungen in die bürgerliche Gesellschaft beruht. Sie bezogen sich zwar, gerade in Deutschland, auf den Marxismus als Ideologie, rangen aber zunehmend um ihre Anerkennung als „gleichberechtigte“ Bürger im Rahmen einer „Sozialpartnerschaft“ zwischen den Klassen. Die „Freiheit“ der Lohnarbeit wurde damit zu einem Gütesiegel ihrer gelungenen Einordnung und Anerkennung im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und wurde daher für bare Münze genommen.

Wenn der brasilianische Arbeiterführer João nach 1888 von den „frei Versklavten“ spricht, bedient er sich einer ironisierenden Sprache, die zu Beginn der Industrialisierung und im Vormärz auch in Europa weit verbreitet war. Die Lage der Proletarisierten und zur Fabrikarbeit Gezwungenen wurde in Ausdrücken wie „weiße Sklaven“ und „Lohnsklaverei“ mit der Ausbeutung im System der Sklaverei verglichen und ihr gleichgestellt. Marx und Engels griffen diese rhetorischen Figuren auf und sprachen in den 1840er-Jahren von der Lohnarbeit als „maskierter Sklaverei“ im Gegensatz zur „unmittelbaren Sklaverei“. Aber während sich diese Sprache in den Arbeiterbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verliert und „Lohnsklaverei“ nur noch für extrem miese Arbeitsbedingungen verwandt wird, so wie heute „Ausbeutung“ bei Gewerkschaften kein analytischer Begriff mehr ist, sondern nur der Anprangerung „sittenwidriger“ Löhne dient, hält Marx bis zum Schluss in mehr als rhetorischer Weise an dieser Begrifflichkeit fest. Noch 1875 schreibt er in seiner Kritik am Gothaer Programmentwurf, dass „das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei“ ist – maskiert durch die Form des Lohns als scheinbarem Preis der Arbeit, während in Wirklichkeit mit dem Lohn nur die Reproduktionskosten der Arbeiterklasse bezahlt werden, eben um dieses Klassen- und Ausbeutungsverhältnis zu verewigen.

Wenn Marx in seiner theoretischen Kritik an vielen Stellen Sklaverei und Lohnarbeit als grundsätzlich verschiedene Arbeitsformen einander gegenüberstellt, dann nicht, weil ihm die vielfältigen Übergangsformen nicht bewusst wären. Der ganze erste Band des „Kapital“ ist übervölkert mit Kindersklaven und faktisch versklavten jungen Frauen und Männern in englischen Spinnereien, Bergwerken oder Backstuben. Die analytische Gegenüberstellung dient vielmehr dem heuristischen Zweck, auf diesem Weg das Geheimnis der scheinbaren „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ der Lohnarbeit, die liberale Utopie, zu dekonstruieren. Durch die Lohnform an der Oberfläche, den Schein des Tauschs zwischen Lohn und Arbeit, wird das eigentliche Verhältnis verdeckt und unkenntlich gemacht, das Marx als „Aneignung“ und „Auspumpen“ fremder Arbeit, ergo als Raub, charakterisiert. Ironisch bezeichnet Marx die Lohnarbeit als doppelt freie Arbeit – frei von unmittelbarem personellen Zwang, eben „Tausch“, aber auch frei von jeglichen Produktions- und Subsistenzmitteln, eine „Freiheit“, die erst den anonymen strukturellen Zwang erzeugt, sich jeden Tag aufs Neue an einen Lohnherren verdingen zu müssen. Dies hat bei Marx Konsequenzen für den Eigentumsbegriff. Im Tauschverhältnis wird unterstellt, dass ich Eigentümer der von mir zu verkaufenden Ware, also der Arbeit oder richtiger der Arbeitskraft, bin. Im Fortgang der Kapitalakkumulation, die mit der ständigen Reproduktion der Eigentumslosigkeit der ArbeiterInnen verbunden ist, schlägt aber diese Vorstellung des individuellen Eigentums an ihrer Arbeitskraft in eine „juristische Fiktion“ um. Am Schluss seiner Dekonstruktion der „freien Lohnarbeit“ notiert Marx: „In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft. Seine ökonomische Hörigkeit ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt durch die periodische Erneuerung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherrn und die Oszillation im Marktpreise der Arbeit.“

Auch wenn Marx selbst an einigen Punkten unkritisch Positionen aus der abolitionistischen Literatur, seiner Hauptquelle für die Beschäftigung mit der modernen kapitalistischen Sklaverei des 18. und 19. Jahrhunderts, übernommen hat, dient ihm die überzeichnete Gegenüberstellung von Sklaverei und Lohnarbeit zu einem völlig anderen Zweck als den Abolitionisten: nicht Legitimierung der Lohnarbeit als System der Freiheit, sondern Entschlüsselung dieses Scheins der Freiheit und radikale Kritik an der Lohnarbeit als solcher, nicht erst einzelner Auswüchse und Extremformen.

Seit Beginn des neuen Jahrtausend hat sich eine beeindruckende globale Kampagne gegen die „neue Sklaverei in der globalen Ökonomie“ entwickelt – so der Untertitel des 1999 erschienenen Buches „Disposable People“ von Kevin Bales (deutsch: „Die neue Sklaverei“, 2001). Es folgten Studien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Einrichtung einer Taskforce zur Bekämpfung moderner Formen der Sklaverei, deren Umfang nach unterschiedlichen Schätzungen auf 10 bis 250 Millionen Menschen beziffert wird.

Das Auftauchen dieser neuen Kampagnen und Diskussionen lässt sich kaum aus einer Neuartigkeit versklavter Arbeitsverhältnisse auf der Welt erklären. Auch nach der weltweiten Abschaffung der Sklaverei durch die verschiedensten internationalen Abkommen im 20. Jahrhundert waren die globalen Arbeitsverhältnisse immer von kontinuierlichen Übergängen zwischen mehr oder weniger direkter Gewalt in der Abpressung von Arbeit gekennzeichnet, die eine klare Abgrenzung zwischen Sklaverei und Lohnarbeit nicht erlauben – ganz zu schweigen von den großen Zyklen des Wiederauftretens massenhafter Sklaverei im 20. Jahrhundert, an die der bekannte Sklavereiforscher Seymour Drescher, der sich vor allem durch die Widerlegung der These, die Sklaverei sei nur aufgrund ihrer ökonomischen Ineffektivität abgeschafft worden, einen Namen gemacht hat, in seinem 2009 erschienenen Spätwerk „Abolition. A History of Slavery and Antislavery“ erinnert: das europaweite System von Zwangsarbeit und Konzentrationslagern des deutschen Nationalsozialismus und der Gulag-Komplex in der Sowjetunion. Das Bild von einem linearen zivilisatorischen Aufstieg von der Sklaverei zum Regime der freien Lohnarbeit hat er damit nachhaltig zerstört und gezeigt, dass der Verzicht auf die Legitimierung der Ausbeutung durch die Lohnform auch im Kapitalismus immer wieder möglich ist.

Vielmehr muss die Frage gestellt werden, ob in den heutigen abolitionistischen Kampagnen im Rahmen eines Menschenrechtsaktivismus nicht auch die geheime Botschaft des alten Abolitionismus wiederauflebt – die Legitimierung der ganz normalen Lohnarbeit als Reich der Freiheit, in einer Zeit, in der sie nach vierzig Jahren neoliberalen Durchmarsches für Millionen von Menschen schier unerträglich geworden ist; durch die propagandistische Herausstellung einer relativ betrachtet kleinen Zahl von extremen Ausbeutungsverhältnissen will sie das große globale Gefängnis der entfremdeten Arbeit der Kritik entziehen. In den Artikeln von Lisa Carstensen und Jörg Nowak in diesem Heft wird auf die Widersprüchlichkeit dieser Kampagnen in konkreten Fällen hingewiesen. Sollten wir uns nicht wieder an Menschen wie João de Mattos orientieren, für die der Kampf gegen die Sklaverei und gegen die Lohnarbeit eine unzertrennliche Einheit bildete?