In ihrem Buch „Zweimal Überleben“ erzählt die argentinische Pädagogin und Autorin Eva Eisenstaedt die Geschichte der polnisch-argentinischen Jüdin Sara Rus. 1927 in der Textilindustriestadt Lodz als Schejne Maria Rus geboren, erlebte sie den ganzen Terror, der für Polens Juden und Jüdinnen mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im September 1939 begann. Schon bald nach dem Beginn der Besatzung musste die Familie aus ihrem Haus in das von den Nazis eingerichtete jüdische Ghetto umziehen. Wie ihre Eltern begann auch Schejne Maria bald in der Textilindustrie zu arbeiten, um Anrecht auf die immer kleiner werdenden Essensrationen zu haben. Wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft blieb das Ghetto Lodz länger als alle übrigen in Polen, bis August 1944 bestehen. Doch auch aus Lodz wurden schon ab Anfang 1942 jüdische Menschen in die Vernichtungslager transportiert, vorerst verschont blieben nur die, die trotz der Hungerrationen ihre tägliche Arbeitsleistung erbrachten.
Schejne Maria Rus wurde mit ihren Eltern im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert. Ihr Vater wurde dort sofort ermordet, sie und die Mutter wurden zur Zwangsarbeit eingeteilt. Nach sieben Wochen in Auschwitz-Birkenau wurden beide nach Freiberg in Sachsen gebracht, wo sie in einer Flugzeugfabrik arbeiten mussten. Von dort transportierte man sie im April 1945 nach Mauthausen. Hier wurden sie am 5. Mai 1945 von US-Truppen befreit.
Schejne Maria war zu diesem Zeitpunkt schwer krank und extrem unterernährt. Doch sie überlebte, ebenso wie ihr Freund Benno, den sie 1946 in Polen wiedertraf. Mit ihm und ihrer Mutter emigrierte sie 1948 nach Argentinien, wo bereits ein Onkel von ihr lebte. Dort wurde aus Schejne Maria dann Sara, aus Benno wurde Bernardo. In Buenos Aires konnte sich die Familie bald integrieren und Sara bekam zwei Kinder, 1950 den Sohn Daniel, 1955 die Tochter Naty.
Am 15. Juli 1977 griff staatlicher Terror erneut brutal in ihr Leben ein: An diesem Tag „verschwand“ ihr Sohn Daniel. Er wurde in der Nähe der Nationalen Atomenergiekommission, wo er an seiner Dissertation arbeitete, abgeholt. Obwohl man dort angeblich keine Informationen über sein Verschwinden hatte, wurde bereits am 19. Juli sein Promotionsstipendium gestrichen, man wusste also sehr wohl, dass er an seinem Arbeitsplatz nicht mehr auftauchen würde.
In den folgenden Wochen, Monaten und Jahren wandten sich Sara und Bernardo an alle erdenklichen Institutionen, um etwas über das Schicksal ihres Sohns Daniel zu erfahren oder diese Stellen zu Interventionen zu bewegen. Sie blieben nicht bei ihrer individuellen Suche, sondern schlossen sich den Müttern von der Plaza de Mayo an. Dort fanden sie Menschen, denen das gleiche widerfahren war und die wie sie nicht bereit waren, sich damit abzufinden. Vor dem Präsidentenpalast fragten sie Woche für Woche „Wo sind sie?“, was unter Militärdiktatur auch für die Angehörigen lebensgefährlich war.
Bernardo starb 1984, Sara ist bis heute bei den Müttern aktiv, gründete später noch den „Verband der Angehörigen der verschwundenen Juden in Argentinien“. Unter den jüdischen ArgentinierInnen war der Anteil der Verschwundenen zwölfmal höher als in der Gesamtbevölkerung. Lange wurde das damit begründet, ihr Anteil sei unter StudentInnen und von der Repression am stärksten betroffenen Berufsgruppen besonders hoch gewesen, ebenso wie ihre Präsenz in den Ballungsgebieten, wo die meisten Menschen „verschwanden“. Inzwischen wird diese Sicht zunehmend in Frage gestellt, es mehren sich die Hinweise, dass es auch antisemitische Gründe für Verfolgung gab, was lange negiert worden war.
Eva Eisenstaedt erzählt die Geschichte von Sara Rus nicht chronologisch, sondern als Collage, in der Erinnerungen Saras an Ghetto und Konzentrationslager, Befreiung und Emigration nach Argentinien mit Momentaufnahmen ihrer Suche nach Daniel, Briefen und Berichten von Gedenkveranstaltungen abwechseln. Selbst jüdischer Herkunft und Tochter einer Familie, der 1936/37 die Flucht aus Deutschland nach Argentinien gelang, reflektiert Eva Eisenstaedt über die Folgen der erlittenen Traumata und die Bedeutung und Funktion der Erinnerung. So entstand ein sehr anrührendes und nachdenkliches Portrait einer kämpferischen Frau, die trotz des erlittenen Horrors die Freude am Leben nicht verloren hat.
Neben der Geschichte der Sara Rus veröffentlichte der Wiener Mandelbaum-Verlag zum Argentinien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse noch das von Alexander und Barbara Litsauer herausgegebene wunderschön aufgemachte Lesebuch „Verlorene Nachbarschaft – Jüdische Emigration von der Donau an den Rio de la Plata“ neu, das knapp 40 Aufsätze zu den Oberthemen „Leben – Exil – Heimat“, „Begegnung – Erfahrung – Analyse“ und „Literatur“ enthält.
Eva Eisenstaedt: Zweimal Überleben – Von Auschwitz zu den Müttern der Plaza de Mayo. Die Geschichte der Sara Rus, Übersetzung: Regina Malke Schmiedeberg, Mandelbaum-Verlag, Wien 2010, 147 Seiten, 15,- Euro
Alexander Litsauer, Barbara Litsauer (Hg.): Verlorene Nachbarschaft – Jüdische Emigration von der Donau an den Rio de la Plata, Mandelbaum-Verlag, Wien 2010, 356 Seiten geb., 24,90 Euro