Von Bolívar zu Chávez

Nach einer Geschichte Cubas im 20. Jahrhundert („Insel der Extreme“) und einer Geschichte der Sklaverei in der Region („Schwarze Karibik“) legt Michael Zeuske, Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Uni Köln, nunmehr im Rotpunktverlag eine beeindruckende Geschichte Venezuelas vor. Die Analyse kommt zur richtigen Zeit, denn die tiefgreifende Transformation des Landes seit zehn Jahren schreit geradezu nach einer umfassenden, zuverlässigen und objektiven historischen Abhandlung. Zeuske schreibt flott und präzis, bereitet Fakten spannend auf und verfällt kaum in langatmige Erklärungsversuche oder sterile Phrasen. Er leistet vielmehr eine Einbettung der aktuellen Ereignisse in eine 200-jährige Nationalgeschichte.

Am Anfang dieser Analyse steht der Kampf Simón Bolívars für die Einheit des von Spanien unabhängig gewordenen Amerika. Noch einmal lässt Zeuske all die Schlachten, das stetige Auf und Ab im Ringen um eine Republik, um eine große oder kleine Lösung (Großkolumbien vs. Venezuela) Revue passieren. Auch den Mitkämpfern und Gegenspielern wie José Antonio Páez oder Carlos Soublette räumt er breiten Raum ein. Sie alle drehen an der Gewaltspirale, ebenso wie lokale Caudillos, die nicht gewillt sind, Macht und Einfluss zugunsten des Zentrums Caracas abzutreten. So ist der Traum von einer starken lateinamerikanischen Republik bald ausgeträumt, es entstehen mehrere Staaten. Venezuela entsteht als Bundesstaat mit verschiedenen Zentren: Neben Caracas eben Maracaibo, Valencia, Ciudad Bolívar, Coro, Mérida, Carúpano etc., die alle ihren Platz in der Nationalgeschichte einnehmen. 

Ein roter Faden des Buches ist die so genannte Extraktionsmaschine. Zu Kolonialzeiten drehte sich alles um Kakao und Kaffee, Tabak und Rinder sowie Bergbau und SklavInnen. Denn die Kolonie „lieferte“ auch SklavInnen, etwa für die karibischen Inseln und SklavInnen waren immer auch Garant für das Funktionieren der kolonialen Extraktionsmaschine, sie garantierten Reichtum und Wohlstand der Elite. Folglich wurde die Sklaverei bald nach der Unabhängigkeit wieder hergestellt, aus der kolonialen wurde eine republikanische Extraktionsmaschine.

Ende des 19. und im 20. Jahrhundert stand dann das Erdöl im Mittelpunkt dieser Extraktionsmaschine. Besonders die Ära Gómez entwickelte sich ab 1917 zur großen Zeit des Petroleums. Juan Vicente Gómez regierte als unumschränkter Potentat von 1908 bis 1935. Er hatte als bäuerlicher Militär und Rinderbaron begonnen, war ein Bewunderer des deutschen Kaisers und holte ausländische Gesellschaften ins Land. Ab den 20er Jahren profitierte er auch persönlich vom sprudelnden Reichtum der Ölfirmen. Zudem riss er immer größere Ländereien an sich. Am Ende seiner Herrschaft befand sich ein Drittel des kultivierten Landes in der Hand seines Clans.

So etwas wie eine Modernisierung oder Industrialisierung setzte erst in den nachfolgenden Militärdiktaturen (Marcos Pérez Jiménez und das Technokratenregime) sowie der darauf folgenden Puntofijo-Demokratie ab 1958 ein. „Puntofijo“ (benannt nach der Quinta des Christdemokraten Rafael Caldera) steht für den Pakt zwischen der eher sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) und der christdemokratischen Copei, die übereinkamen, den aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaft (AD-Chef Rómulo Betancourt) zu unterstützen, keine Militärs in der Politik zu tolerieren und Kommunisten oder linke Sozialisten aus diesem Pakt auszuschließen. 

In den 60er Jahren baute Innenminister Carlos Andrés Pérez (CAP) den staatlichen Repressionsapparat massiv aus, um gegen Guerillabewegungen vorzugehen. Heute spricht man von 30 000 Toten, die diese Repressionswelle der Puntofijo-Demokratie dem Land bescherte. Auch am Anfang der zweiten Präsidentschaft CAPs (1989-1994) stand ein Massaker: In den Barrios von Caracas und anderen Großstädten kam es wegen Preissteigerungen im Kontext eines neoliberalen „Anpassungsprogramms“ zu Aufständen, die CAP durch das Militär niederschlagen ließ. Mehrere Tausend Opfer wurden in Massengräbern verscharrt. Zugleich hatten sich die Puntofijo-DemokratInnen schamlos am Erdölboom bereichert, große Vermögen außer Landes geschafft und das Land ruiniert. Diese beiden Katastrophen wiederum waren die Ursache des Chávez-Putsches von 1992 und für die Politisierung der jüngeren Offizierskaste und der Masse der Bevölkerung. 

Zeuskes Buch hat das Zeug, ein Referenzwerk zu werden. Der über 600 Seiten dicke Reader ist weitaus mehr als eine Geschichte der Abfolge starker Männer und ihrer Taten und Untaten. Er ist Sozial-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte zugleich. Man wünscht sich mehr solcher Abhandlungen, auch zu anderen Staaten Lateinamerikas, Werke, die über den rein historischen Tellerrand hinausblicken, die auch Exkurse in die Literatur- und Geistesgeschichte, Ethnologie oder Populärkultur liefern. Die unaufgeregte Schilderung der Ära Chávez, der Reformen, der konterrevolutionären Umtriebe und die nüchterne Darstellung der sich im politischen Diskurs radikalisierenden Phasen des Chavismo sind ein weiteres Verdienst des Buches. Zeuske berichtet nicht nur differenziert über komplexe Ereignisse, er relativiert, entzaubert, entdiabolisiert Personen und Taten, indem er sie in Beziehung setzt zum verkommenen Ancien Régime und zur bewegten Historie des Landes. Ein wichtiger Beitrag also zur Versachlichung der Diskussion um den viel geschmähten „Linkspopulisten“ Chávez und die Bolivarianische Republik. 

Zeuske, Michael: Von Bolívar zu Chávez – Die Geschichte Venezuelas, mit zahlreichen Karten, Rotpunkt-Verlag, Zürich 2008, 620 Seiten, 34,- Euro