Von der historischen Wahrheit zur historischen Straflosigkeit

Mitglieder der unabhängigen interdisziplinären Expertengruppe (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) brachten José Torero, einen Brandsachverständigen, nach Mexiko, um ein neues Gutachten zu erstellen. Torero Culen kam zu dem Schluss, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt, dass die 43 Studierenden der Normal Rural Isidro Burgos, einer Ausbildungsstätte für Grundschullehrer in Ayotzinapa, auf der Müllkippe verbrannt wurden. JournalistInnen im Dienst der Regierung überhäuften daraufhin die ExpertInnen mit Beleidigungen und bezeichneten sie als Scharlatane.

„Es zerriss uns das Herz, als wir hörten, wie Murillo Karam die Leiden unserer Kinder beschrieb, wie sie gefoltert wurden, mit Schlägen und durch Kugeln getötet und zum Schluss ihre Körper verbrannt wurden. Die ExpertInnen entlarvten die Erklärungen der Generalbundesstaatsanwaltschaft. Uns armen Bauern glaubten sie nicht, es ist gut, dass die WissenschaftlerInnen nun gezeigt haben, dass wir die Wahrheit sagten“, fügte Don Bernardo traurig hinzu.

Am 12. September 2015 veröffentlichten Anabel Hernández und Steve Fisher in der Printausgabe der Zeitschrift Proceso ihre Untersuchungen, in denen sie nachweisen, dass die vier angeblichen Auftragsmörder der kriminellen Organisation Guerreros Unidos in Wirklichkeit arme Schreiner sind, die entführt, gefoltert und gezwungen wurden, ein Verbrechen zu gestehen, das sie nicht begangen haben. Laut Generalbundesstaatsanwaltschaft (PGR) ermordeten sie die 43 Studierenden, verbrannten sie auf der Müllkippe und verstreuten die Asche im Fluss San Juan. Die Erklärungen der sich selbst Beschuldigenden widersprechen sich in allem, sie stimmen weder in den Zeit- noch in den Ortsangaben überein und auch nicht in der Art und Weise, wie sie angeblich die jungen Menschen ermordet haben.

Am 6. September 2015  präsentierte die interdisziplinäre Expertengruppe GIEI den „Informe Ayotzinapa. Nachforschungen und erste Rückschlüsse über das Verschwindenlassen und die Morde der Lehramtsstudenten von Ayotzinapa“. Darin verwerfen sie die Version völlig, dass sie verbrannt wurden, außerdem weisen sie nach, dass es einen fünften Autobus gab, von dem die Verantwortlichen von Anfang an wussten, den sie aber in ihren Verlautbarungen nie erwähnten. Es war immer die Rede von vier Fahrzeugen. Die GIEI veröffentlicht folgende Hypothese über das mögliche Motiv des Angriffs auf die Studenten am 26./27. September 2014: In einem der Busse, im fünften, waren Drogen versteckt, entweder Heroin oder Opiumpaste, die nachts an die nördliche Grenze gebracht werden sollten. Ohne davon Kenntnis zu haben stürzten sich die jungen Männer auf den Bus, mit dem sie nach Mexiko-Stadt fahren wollten, um an dem Gedenken an das Massaker an Studierenden vom 2. Oktober 1968 auf dem Tlatelolco-Platz teilzunehmen. Der Besitzer der Drogen gab den Befehl, dass die Autobusse auf keinen Fall Iguala verlassen dürften. Diese Hypothese stimmt mit der des Journalisten José Reveles überein, die er in seinem Buch Ayotzinapa, Échale la culpa a la heroína (Ayotzinapa, Schuld ist das Heroin) beschreibt. Reveles und der GIEI kommen in parallelen Untersuchungen zu denselben Ergebnissen.

Der Bericht der GIEI enthält keine abschließenden Urteile oder Bewertungen, er weist auch keine Verantwortungen zu. Er nennt nur die nackten Fakten, das Ergebnis einer sehr peniblen wissenschaftlichen Untersuchung. Die mexikanische Regierung gab ihnen Zugang zu den Verfahrensakten, sie konnten interviewen, wen sie wollten, mit einer großen Ausnahme: Militärangehörige waren tabu.

Die ExpertInnen wussten von einem entscheidenden Video, in dem der fünfte Autobus auftaucht, der mit dem Heroin (Estrella Roja 3278). Das Video wurde von den Überwachungskameras des Justizpalastes in Iguala aufgenommen, die den Überfall auf die Studierenden der beiden Autobusse gefilmt haben. Dieses Beweismittel wurde vernichtet.

Der Informe Ayotzinapa  dokumentiert, dass die Verhafteten (48 Polizisten aus Iguala, 16 aus Cocula und 40 angebliche Mitglieder der kriminellen Organisation Guerreros Unidos) gefoltert wurden und dass viele Untersuchungslinien nicht weiter verfolgt wurden. Das umfangreiche Dokument weist nach, dass internationale Standards für Falluntersuchungen nicht eingehalten, dass die Aussagen der überlebenden Lehramtsstudenten ignoriert wurden und dass sich die Aussagen der Busfahrer widersprechen.

Beim Lesen der Aussagen entdeckten sie, dass die Bundespolizisten und die Soldaten des 27. Bataillons von Anfang an genau über den Angriff informiert waren. Sie waren auch physisch anwesend. Das widerspricht den Erklärungen von Murillo Karam, Generalstaatsanwalt bis März 2015, der nie einen Hehl daraus machte, dass er die Untersuchungen sobald wie möglich abschließen wollte. Die LehramtsstudentInnen berichteten, dass mehrere Soldaten unter dem Befehl von Capitán (Hauptmann) José Martínez Crespo in das Cristina Krankenhaus kamen, wohin sie ihre verletzten MitstudentInnen gebracht hatten, und sie dort bedrohten und beleidigten. Sie zwangen sie, ihre Hemden auszuziehen und fotografierten sie (wo sind diese Fotos?) und sie nahmen ihnen ihre Handys ab.

Es waren auch Soldaten, die die Leiche von Julio César Mongragón fanden, dem Studenten, der brutal gefoltert wurde, dem sie Ohren und Nase abschnitten, die Augen entfernten und Haut und Muskeln des Gesichts abzogen. Die Armee machte falsche Angaben über den Fundort der Leiche. Der Fall von Julio César wird laut seiner Anwältin nicht von der Generalstaatsanwaltschaft verfolgt, sondern liegt bei der Polizei von Iguala und wird als ein „alltäglicher und gewöhnlicher“ Mord behandelt, trotz all der erschwerenden Umstände. Es waren nach den Erkenntnissen der GIEI auch Armeeangehörige, die am 26./27. September 2014 das Kontrollzentrum für Kommunikation und Computer übernahmen und alle Verbindungen unterbrachen.

„Jemand, wir wissen noch nicht wer, koordinierte den Überfall und gab die Befehle. Die Angriffe  waren massiv, koordiniert, dauerten mehrere Stunden und nahmen an Intensität ständig zu, in einem Klima von Straflosigkeit“, sagten die ExpertInnen der Verfasserin dieses Artikels. Die jungen Männer standen, seit sie Chilpancingo verließen, unter Beobachtung. Der Fall Ayotzinapa ist weder eine Ausnahme noch einzigartig, sondern die Regel in Guerrero; er ist symptomatisch.

Die 43 gelten nicht als Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens, sondern als entführt, obwohl es städtische Polizisten von Iguala und Cocula waren, die sie mitgenommen haben, also staatliche Agenten. Für die ExpertInnen gelten sowohl die Lehramtsstudenten als auch ihre Familien als Opfer.
Der Bericht ist 556 Seiten dick, er beschreibt die Unterlassungen der Untersuchung, die schlechte Sicherung des Tatortes, das Fehlen der Aussagen entscheidender ZeugInnen, fehlerhafte Gutachten und unhaltbare Rückschlüsse. Er weist daraufhin, dass 77 Prozent der Verhafteten dieselben Verletzungen an denselben Stellen aufweisen, weshalb sie von Folter zur Erzwingung von Geständnissen ausgehen, aber nur diese Geständnisse sind Grundlage der Ermittlungen. Es ist seltsam, dass diese Geständnisse der angeblichen Täter mit den Aussagen der Generalstaatsanwaltschaft identisch sind.

Der Bericht nennt nicht die Verantwortlichen, aber er bringt die Untersuchungen in die richtige Richtung. Die ExpertInnen formulieren die Fragen, die gestellt werden müssen, und nennen die Personen, die sie beantworten sollen. Es ist ein unverzichtbares Dokument voller Vorschläge, die Dinge auf eine andere Art zu machen, und es gibt eine Reihe von Empfehlungen, wie tatsächlich in alle Richtungen bis zum Schluss ermittelt werden kann.

Mitglieder der Expertengruppe GIEI sind Carlos Martin Beristáin, Angela Buitrago, Claudia Paz y Paz, Francisco Cox und Alejandro Valencia, alle haben viel Erfahrung mit Fällen von gewaltsam Verschwundenen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und juristischer Arbeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen sowie beim Wiederaufbau des sozialen Netzes in durch den Krieg zerstörten Gemeinden. Die Expertengruppe wird noch weitere sechs Monate an dem Fall arbeiten.