Von der Repräsentation der Stadt zum Recht auf Stadt

Ein Grund für das Bestreben, diese Stadtgebiete verschwinden zu lassen, sind vor allem die Vorstellungen über Favelas, die von Bildern über Gewalt und Drogen, Armut und Mangel dominiert werden und so das Image der Stadt vor allem auf internationaler Ebene schädigen. Favelas werden als Problem der Stadt definiert und sind Inbegriff für eine misslungene Stadtplanung in der Vergangenheit, die nun, so gut es geht, korrigiert werden muss und soll. Dieses negative Bild über Favelas betrifft natürlich auch ihre BewohnerInnen. Sie haben mit Kriminalisierung und sozialer Ausgrenzung, den Folgen der einseitigen und homogenisierenden Darstellungsweisen der Favelas, zu kämpfen.

Eine Gruppe, die sich diesen Zuschreibungen entgegenstellt, nennt sich Norte Comum, ein Netzwerk von KünstlerInnen, Studierenden, Lehrenden, DenkerInnen, AktivistInnen und anderen Interessierten aus den nördlichen Gemeinden Rio de Janeiros, das zum Ziel hat, eine Plattform für kulturellen Austausch und Ausdruck bereitzustellen. Das Projekt, das 2011 über Facebook gegründet wurde, zählt mittlerweile ca. 2000 TeilnehmerInnen. Hinter der Gründung steht der Mangel an Möglichkeiten und Räumen für kulturelle und künstlerische Projekte und Aktivitäten aus der Zona Norte Rio de Janeiros, da sich das kulturelle Zentrum im Süden und im Zentrum der Stadt befindet. Norte Comum thematisiert diese Problematik der schlechten Voraussetzungen und weitgehenden Ignoranz für die kulturelle Produktivität der BewohnerInnen der Nordzone und leitet daraus den Anspruch auf eine inversão de rota, eine Umkehrung der Route ab. Gemeint ist hiermit, dass die Konzentration des kulturellen Lebens – sowohl in Bezug auf die Produktion als auch auf den Konsum – in der Zona Sul und im Centro dazu führt, dass KünstlerInnen in dieses Stadtgebiet migrieren müssen, um eine Anerkennung ihres künstlerischen Schaffens zu erlangen.

Ebenso müssen BewohnerInnen, die an kulturellen Aktivitäten teilnehmen wollen, dafür gelegentlich in die Zona Sul und ins Centro gehen. Dies hat zur Folge, dass sie in vielen Fällen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen von vorneherein ausgeschlossen werden. In diesem Sinne soll eine Umkehrung der Route stattfinden: Die KünstlerInnen können auch in dem Gebiet aktiv werden, in dem sie wohnen, den BewohnerInnen wird ein kulturelles Programm in ihrer Umgebung geboten und zugänglich gemacht. Darüber hinaus sollen sogar BewohnerInnen aus anderen Stadtgebieten in den Norden gelockt werden.

Norte Comum hat laut Selbstdarstellung im Groben zwei Betätigungsfelder: Zum einen geht es darum, das Netzwerk auszubauen und ständig zu erweitern, d.h. verschiedene KünstlerInnen und Interessierte miteinander zu verknüpfen und Kommunikation und Austausch zu ermöglichen. Zum anderen steht im Mittelpunkt, eine horizontale und kollektive Produktion anzutreiben und Projekten zur Realisierung zu verhelfen. Dass beide Bereiche eng miteinander zusammenhängen, liegt auf der Hand. So ist die Produktivität ein Ergebnis des Netzwerkes und des Dialoges.

Die Produktion von kulturellen Aktivitäten zielt auf die soziale Transformation des Gebietes ab. Im Vordergrund steht das Bestreben, das negative Bild der Zona Norte Rio de Janeiros zu widerlegen und der Stigmatisierung als unproduktive, vom Mangel geprägte Region entgegenzutreten. „Die Zona Norte ist bekannt für Gewalt, wird in den Medien verbreitet. Vor allem ist sie bekannt als ein Ort, an dem kein Leben und keine Bewegung stattfinden können. Die Jugendlichen werden als Unruhestifter abgestempelt, die sowieso kein Interesse an kulturellen Dingen haben. Unser Kampf richtet sich gegen dieses Stigma, das uns von Kindheit an begleitet. Während wir aufwachsen, hören wir nur, dass das einzig ‚Gute’ ist, hier herauszukommen und woanders zu leben“, erklärt Pablo Meijueiro de Assis, einer der Initiatoren von Norte Comum.

Entgegen diesem Bild sollen die Wichtigkeit und das Potenzial der Region anerkannt und genutzt werden. Norte Comum macht es sich zur Aufgabe, in verschiedenen Gemeinden der Nordzone Lokalitäten zu finden, in denen Aktivitäten stattfinden können. Darunter fällt auch, öffentlichen Raum zu „besetzen“. Die Aneignung von Raum geht Hand in Hand mit dem Streben nach Anerkennung. Öffentliche Plätze zu besetzen ist eine Strategie, um mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zu erlangen, und erfüllt nicht nur den praktischen Zweck, einen materiellen Raum für die Aktivitäten zu schaffen, sondern ist zudem auch ein symbolischer Akt, in dem die Aneignung des städtischen Raums für die Forderung nach Anerkennung als Akteure der Stadt und als Teil der städtischen Gesellschaft steht. Das Recht auf Stadt wird sich hier durch „Besetzungen“ bzw. die aktive Nutzung von verfügbaren Räumen angeeignet. Teil der Besetzung des Raumes ist es auch, ihn (mit) zu gestalten: „Wenn unsere Wände grau sind, lasst uns ihnen Farbe verleihen. Wenn die Gärten tot sind, lasst uns in ihnen Leben pflanzen. Die Straßen sind leer, aber die Shoppingcenter erstrecken sich bis zum Himmel. Lasst uns die Straßen besetzen und Bewegung in sie bringen“, heißt es in einem Beitrag auf der Facebookseite der Gruppe. Man will nicht darauf warten, dass der Staat sich dieser Sache annimmt, da dies ein hoffnungsloses Warten sei. Norte Comum agiert daher unabhängig von öffentlichen oder privaten Geldern.

Pablo Meijueiro bestätigt die enge Beziehung zum urbanen Raum und ihren Zusammenhang mit dem Recht auf Stadt: „Norte Comum ist durch eine dieser unendlichen Debatten über das Recht auf Stadt entstanden. Und in gewisser Weise hängt alles, was wir produzieren, mit dem Recht auf Stadt zusammen.“ Durch die Zielsetzung der Gruppe interagieren die einzelnen Aktivitäten mit dem Raum und haben daher immer einen Bezug zur räumlichen Dimension: Norte Comum reagiert auf die räumliche und konzeptuelle Abgrenzung der Zona Norte von der Zona Sul und dem Centro Rio de Janeiros. Diese Differenzierung, die sich in der Benachteiligung und Stigmatisierung der BewohnerInnen des städtischen Nordens bemerkbar macht, zeigt die Machtverhältnisse innerhalb der Stadt auf. Diese will Norte Comum wiederum durch eine neue eigene Raumkonstruktion beeinflussen bzw. umkehren.

Eine der Strategien von Norte Comum ist folglich, mit den jungen Menschen in einen Dialog zu treten und mit ihnen die Bedeutung ihrer Präsenz und ihres Widerstands zu reflektieren. Bereits den jungen Leuten soll ein neues Bewusstsein über ihre Herkunft bzw. ihren Wohnort ermöglicht werden, damit sie sich von der Fremdzuschreibung lösen können. Kulturelle Produktion und Kunst sollen dabei als Werkzeug und Instrument dienen und spielen somit eine tragende Rolle für die Einforderung des Rechts auf Stadt und die Konstruktion neuer Repräsentationen. Kunst ist „eine Brücke zwischen Menschen, der Stadt und den Ideen“.

Ein weiteres Projekt, das sich eine neue Wahrnehmung der Zona Norte zum Ziel gesetzt hat, ist Um outro Olhar: Saida Fotográfica. Das Fotografieprojekt ist eine gemeinsame Initiative von Norte Comum und CIAB, die keinerlei finanzielle Unterstützung erhält und daher unabhängig ist. CIAB steht für Coletivo de integração artística de Benfica und vereint einige Kulturschaffende aus der Gemeinde Benfica und Umgebung, einer Region, die im Übergang vom Zentrum zum Norden Rio de Janeiros liegt. Die Vorgehensweise des Projekts besteht darin, eine Strecke durch eine Gemeinde vorzuschlagen und die BewohnerInnen dazu aufzurufen, als GastgeberInnen eine Gruppe von verschiedenen Interessierten, FotografInnen – ob professionell oder nicht – und LiebhaberInnen der Stadt, die teilnehmen möchten, zu empfangen und mit ihnen ihre Geschichten und Anekdoten über den Stadtteil zu teilen. Ein gemeinsamer Spaziergang wird unternommen, bei dem Fotos gemacht werden. Im Anschluss findet ein Austausch über die Erlebnisse und Höhepunkte des Weges statt, daraufhin werden die besten Fotos gemeinsam von den Teilnehmenden ausgewählt und auf der Straße bzw. im öffentlichen Raum in derselben Gemeinde ausgestellt. Auf diese Weise sollen „neue landschaftliche Ikonen für eine gerechtere und diverse Repräsentation unserer Stadt“ gefunden und anerkannt werden. Der Austausch und die Beziehungen, die hierbei zwischen TeilnehmerInnen und BewohnerInnen entstehen, sind nicht nur Begleiterscheinung, sondern auch essenzieller Bestandteil des Projekts. Da die Teilnehmenden aus verschiedenen Stadtteilen kommen, wird eine Plattform für Kommunikation und Austausch hergestellt, die die Distanz zwischen allen Beteiligten auflösen soll.

Ein Großteil der Kommunikation zur Koordinierung des Projekts läuft über Facebook. Über dieses soziale Netzwerk werden TeilnehmerInnen mobilisiert und informiert. Die Einladung zur Teilnahme ist öffentlich im Netz zugänglich und richtet sich an alle Interessierten. Über die Gruppe bei Facebook werden auch die Fotos hochgeladen, die somit ebenso zugänglich für die Facebookuser sind und sich schnell über das soziale Netzwerk verbreiten können. So ist eine breitere Rezeption möglich, die unabhängig von den Machtstrukturen der Wissens- und Informationsverbreitung der Medien ist. Bisher wurde das Projekt bereits an zwei Strecken durchgeführt, in Benfica/São Cristóvão und der Gemeinde Méier, ebenfalls in der nördlichen Zone der Stadt. Am 11. Mai 2013 fand der Varal Fotográfico, also die Ausstellung der fotografischen Ergebnisse des Spazierganges, erstmals in Benfica und São Cristoval statt. Dafür wurden Wäscheleinen (varal) mit den ausgewählten Fotos auf öffentlichen Plätzen, in diesem Fall auf dem Largo do Pedregulho und im CADEG (Centro de Abastecimento do Estado da Guanabara), aufgehängt und so den BewohnerInnen des Stadtteils sowie den Fotografierten und anderen Beteiligten die Möglichkeit gegeben, die Ergebnisse des Ereignisses zu sehen. Eine Bewohnerin zeigt sich in einem Videointerview begeistert: „Ihr seid wunderbar! Ich mag die Fotos dort sehr. Ihr müsst auf jeden Fall wiederkommen. So etwas gab es hier noch nie.“ Auch die Reaktionen der teilnehmenden Fotografen bestätigen die positive Rezeption des Projekts. Von beiden Seiten wird deutlich, dass das Ziel der Gruppe, Gefühle von Dazugehörigkeit und Stolz bei den AnwohnerInnen hervorzurufen, erfüllt wird.

Der Unterschied zwischen diesen Fotos und den gängigen Bildern zu diesen Stadtgebieten liegt in der Perspektive. Statt unordentlich und chaotisch wirkende, völlig zugebaute Hügel aus der Vogelperspektive, Militär- oder Polizeieinsätze oder Szenen aus dem Drogengeschäft zu zeigen, sieht man hier einfach Menschen. Die Nähe der Aufnahmen macht die Alltagsszenen für die RezipientInnen zugänglich, weshalb die Fotos an Fremdheit und Unbehagen verlieren. Allein der Perspektivwechsel ändert die Wahrnehmung der Bilder. Das Überlegenheitsgefühl, das Fotos aus der Vogelperspektive leicht erzeugen, wird hier durch Begegnungen auf Augenhöhe ersetzt. Wem begegnet man? Nicht etwa bewaffneten Jugendlichen und Polizisten, die an Gewalt und Kriminalität erinnern, sondern einem lächelnden Jungen, einem mit Sommersprossen übersäten Mann, tanzenden und musizierenden Menschen auf einem Fest, Kindern, älteren Menschen usw.. Eine Identifikation ist hier weitaus leichter möglich. Die Bilder zeigen Alltag statt Extremsituationen. Hinzu kommen Bilder von schönen Landschaften, Sonnenuntergängen und historischen Gebäuden, die jemand, dessen Wahrnehmung durch die stereotypen Bilder der Favela vorgeprägt ist, unter Umständen dort gar nicht erst vermuten würde.

Die Fotos, die im Rahmen von Um Outro Olhar produziert werden, zeigen die Favelas von einer Seite, die in den dominierenden visuellen Repräsentationen der Favelas nur selten bis gar nicht sichtbar wird. Der Teil der Stadt, der bislang in den Repräsentationen der Stadt ignoriert und ausgeblendet wurde, soll durch das Projekt Um Outro Olhar aus einem anderen Blickwinkel dargestellt und repräsentiert werden. Doch ist der Fotografie-Spaziergang neben der Produktion von visuellem Material auch ein symbolischer Akt, bei dem die Favelas aufgewertet werden, indem ihnen Beachtung und Aufmerksamkeit geschenkt wird. So soll eine neue Wahrnehmung der Favelas nicht nur durch die BewohnerInnen der Stadtteile des Centro und der Zona Sul erreicht werden, sondern auch die Wahrnehmung der BewohnerInnen der Favelas selbst soll sich wandeln. Daher versucht das Projekt die lokalen Identitäten zu stärken. Im Fokus der Arbeit steht nicht nur die bloße Produktion der Fotos, sondern der gesamte Prozess, d.h. die Mobilisierung der Teilnehmenden, der Spaziergang, der Austausch mit den BewohnerInnen und die anschließende Ausstellung der Fotos, wiederum in Interaktion mit den Fotografierten und BewohnerInnen der jeweiligen Gegend. Letztlich besteht die Kernaussage des Projektes darin, dass man stolz darauf sein kann, in der Favela zu wohnen.