Was bringt eine Frau dazu, die eigene Hündin qualvoll zu strangulieren? Noch dazu ein Tier, das sie wortwörtlich an ihrem Busen aufgezogen und innig geliebt hat? Eine abstruse Frage? Keineswegs. Denn genau das spielt die Kolumbianerin Pilar Quintana in ihrem stringenten, schnörkellosen Roman „Hündin“ (2020, im Original „La perra“, 2017) durch. Sie schält eine Erkenntnis heraus: Der Grund für die brutale Aktion der Protagonistin Damaris ist nicht Sadismus oder individuelle Verrücktheit. Es sind die Verhältnisse, die ihre Grausamkeit produzieren. Und es sind unerfüllbare Rollenerwartungen, an denen Frauen zerbrechen, wenn sie es nicht schaffen, daraus auszubrechen. Die wichtigste davon: Mutterschaft. Da wird der Romanplot zur Parabel.
Damaris, die Hauptgestalt in „Hündin“, erwürgt ihre zurückgekehrte, bis dahin heiß geliebte Hündin, nachdem diese ihr gezeigt hat, dass sie durchaus unabhängig weglaufen und ihr eigenes Leben leben kann. Der Kosmos dieses Kammerstücks ist ein abgelegenes Dorf am Pazifik, umgeben von Urwald. Eine Idylle für jemanden, der oder die dort nicht lebt. Erst als die Hündin tot und beerdigt ist, kommt es Damaris in den Sinn, selbst der alltäglichen Erdrückung zu entfliehen, sich einfach im Urwald zu verlieren – so spontan, das sie nicht einmal an passende Kleidung denkt. Ob sie das tatsächlich tun wird?
Vielleicht ist es diese angedeutete Befreiung, die die Jury des LiBeraturpreises, der jedes Jahr an eine Autorin geht, 2021 bewogen hat, ihn Pilar Quintana zu verleihen.
In ihrem nächsten Roman „Abgrund“ (im Original: „Abismos“, also Abgründe, derer es im Buch tatsächlich viele gibt) geht es wieder um die Auseinandersetzung mit weiblichen Rollenbildern, mit gesellschaftlichen Anforderungen, denen Frauen nicht nachkommen können oder wollen. Der lakonische, empathiefreie Darstellungsstil ist gleich, doch die Szenerie unterscheidet sich, und auch der Blickwinkel ist ein anderer. Er kommt nun von schräg unten, es ist der „schielende Blick“ 1 des Mädchens Claudia auf seine Mutter, die ebenfalls Claudia heißt. Claudia ist also Ich und Sie. Es gehe um eine „Geschichte, die „estremecedor“, also schockierend, erschütternd oder auch gruselig sei, heißt es laut Klappentext in der spanischen Ausgabe. Wie daraus „ein herzzerreißender Familienroman“ (Süddeutsche Zeitung, buchkritik.de), über das „Ende einer unbeschwerten Kindheit“ (NDR) im deutschen Feuilleton wird, ließe sich verkaufstaktisch erklären, aber da Rezensent*innen keine Bücher verkaufen, ist „Genderblindness“ naheliegender.
Wir befinden uns in den 80er-Jahren. Das Mädchen Claudia lebt in der Großstadt Cali in der oberen Mittelklasse. Setting und Personal sind völlig anders als in dem armen Dorf am Pazifik. Eine Hinwendung zu dem Ambiente, das die vermutliche Leser*innenschicht eines kolumbianischen Romans kennt? Geschenkt, das ist nicht der Punkt! Pilar Quintana seziert die Folgen gesellschaftlicher Konventionen für Frauen schlicht in einem völlig anderen Milieu am anderen Ende der sozialen Skala. Und da sieht es nicht besser aus.
So wie die Idylle des urwaldumstandenen Pazifikdorfes in „Hündin“ bei näherem Hinsehen zur Hölle für Frauen wird, ist auch die zweistöckige offene Wohnung ein „Abgrund“, wie der deutsche Titel sagt. Von der Galerie oben blickt man auf einen Urwald an Pflanzen in der unteren Etage. Sicher, wer historisch unterwegs ist, mag darin durchaus eine Anspielung auf die Guerillas in den Wäldern rund um Cali in just den 80ern erkennen. Claudias Mutter hat diesen Pflanzendschungel angelegt, nachdem sie einen wesentlich älteren und in seinem Beruf aufgehenden Supermarktbesitzer geheiratet hatte. Ihr Vater hatte ihr seinerzeit nicht gestattet zu studieren. Nach einem Intermezzo als Krankenschwester – mehr war „besseren“ Töchtern beruflich nicht vergönnt – verlor sie als Ehefrau alle Ambitionen. Schon zuvor hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass sie ungewollt war, denn Verhütungsmittel waren nicht verfügbar. Eine Kränkung, die sie offenbar an die eigene Tochter weiterreicht. Zwar hat sie ihr ihren eigenen Namen gegeben, aber sie ist ihr erklärtermaßen eine Last. Meist liegt Claudia-Mutter, ihre (selbst-)oktroyierte Rolle hassend, apathisch und in Frauenzeitschriften blätternd im Bett. Am faszinierendsten sind für sie die Storys über mysteriös zu Tode gekommene weibliche Stars, seien es Grace Kelly (Autounfall), Natalie Wood (vom Deck einer Luxusjacht verschwunden) oder Karen Carpenter (zu Tode gehungert). Dank finanziellem Wohlstand (Abhängigkeit!) kann sie ihr Hausfrauendasein fast auf Null fahren. Claudia-Tochter holt sie nicht selbst von der Schule ab, sondern döst lieber zu Hause und schickt Hausangestellte. Diese wechseln ständig, da Claudia-Mutter sie regelmäßig herauswirft – die Machtdemonstration einer eigentlich Ohnmächtigen. Destruktiv ist die Mutter auch sich selbst gegenüber: Mittags schenkt sie sich den ersten Whisky ein. Unweigerlich folgen weitere, die Tochter sieht zu. Ihre Affäre mit dem etwa gleichaltrigen Gonzalo, der mit ihrer Schwägerin Amelia verheiratet ist, kommt ans Licht, die Mutter resigniert postwendend und arrangiert sich mit ihrer erwarteten Rolle als treue Ehefrau. Ihr heimlicher Ausbruch scheitert, die Abgründe um sie herum lauern weiter. Wortwörtlich. Claudia-Mutters beste Freundin Gloria Inés, deren Leben zweifellos ähnlich langweilig abläuft, stirbt durch einen Sturz vom Balkon ihrer Wohnung. Ein Unfall beim Blumengießen. Wer’s glaubt. Wenig später entdeckt die Mutter unweit eines Sommerhauses in den Bergen nahe Cali, wo die beiden Claudias die Sommerferien verbringen und wohin Vater und Ehemann verantwortungsbewusst, wie es sein muss, jeden Abend von der Arbeit kommend
hinauffährt, im Dickicht die vor 20 Jahren verschwundene Familienfreundin Rebeca tot in ihrem Auto. Das war wohl auch ein Unfall. Am Ende des Sommerhausgrundstücks ist ein Abgrund. Claudia-Mutter steht häufig nachdenklich (zaudernd?) dort. Eines Tages fällt die geliebte Puppe Paulina ihrer Tochter dort hinein. Es war Selbstmord, sagt Claudia junior wie selbstverständlich am Abendessentisch. Zutiefst erschrocken – man ahnt, warum – bricht die Familie umgehend die Ferien ab und fährt zurück nach Cali.
Das Ganze, auch das ahnt man, kann nicht gut ausgehen. Die Situation eskaliert, als Mutter Claudia auf Bitten der Tochter eine schulische Hausaufgabe übernimmt, aber, unmütterlich desinteressiert, völlig in den Sand setzt. Die Lehrerin gibt der Tochter null Punkte. Kurz danach raunt eine Schulfreundin dem Mädchen zu, deren Mutter halte Claudias für die schönste und eleganteste Mamá der ganzen Klasse, ja für die perfekte Señora. Der Widerwille des Mädchens steigert sich zu Hass, ja Mordgelüsten. Zu Hause findet sie die Mutter kaum mehr lebensfähig, embryonal in sich zurückgezogen im Bett. Derweil erwacht der Urwald in der unteren Etage zu einem Fest, „trotz meiner Mutter“, sagt das Mädchen. Sie ist von der Rolle, bestimmt.