Von geflüchteten Juden, Altdeutschen und Nazis in Bolivien

Juden waren im Deutschen Klub in der bolivianischen Hauptstadt La Paz vor, während, aber auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht erwünscht. Es gab eine tiefe Kluft zwischen den seit der Jahrhundertwende um 1900 in dem Andenland lebenden „Altdeutschen“ auf der einen Seite und den erst in den 30er- und 40er-Jahren emigrierten Juden und politischen Flüchtlingen aus Deutschland. Prägend waren die deutschtümelnden Alteingesessenen: antisemitisch, nationalsozialistisch gestimmt und mehrheitlich auch noch nach Kriegsende in Nibelungentreue dem nationalsozialistischen Unrechtsregime nachtrauernd.

Nicht von ungefähr fanden Naziverbrecher wie der „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, Unterschlupf in der deutschen Kolonie. Und ebenso glühende Nazis wie Hans Ertl, der Kameramann von Leni Riefenstahl. „Die deutsche Kolonie hatte zu Hitler-Deutschland gestanden, von einer Auseinandersetzung mit dem Verbrechen der Nazis konnte keine Rede sein“, resümiert die Berliner Kultur- und Sozialanthropologin Juliana Ströbele-Gregor die Situation in Bolivien.

Die Autorin kam im Jahr 1952 als neunjährige Tochter des ersten deutschen Botschafters Werner Gregor nach dem Weltkrieg nach La Paz. Sechs Jahrzehnte später hat sie bei einer nicht wissenschaftlich gebliebenen Spurensuche ihre damaligen Begegnungen in einem Buch mit dem wenig attraktiven und damit wohl auch nicht leseranziehenden Titel „Transnationale Spurensuche in den Anden“ publiziert. Trotzdem ein spannendes Buch.

Ströbele-Gregor durchwühlt ihre Kindheitserinnerungen, kombiniert zahlreiche, mit fast 50 Jahren Abstand geführte Interviews mit Bekannten und Freunden aus Kindertagen mit den Akten aus den bolivianischen Archiven und den Beständen des Berliner Auswärtigen Amtes zu einem Zustandsbericht über die „Auslandsdeutschen“ in den 50er-Jahren, die aus ihrem Antisemitismus keinen Hehl machten und die perfekte Gesellschaft und Tarnumgebung für jene Verbrecher boten, die wegen der nationalsozialistischen Gräueltaten international gesucht wurden. Nicht alle „Altdeutschen“ waren ahnungslos darüber, mit wem sie beim Bier über alte Zeiten plauderten.

Deutsche „Expats“ und jüdische Flüchtlinge lebten vornehmlich in voneinander abgegrenzten Lebenswelten. Das musste auch der Vater der Autorin erfahren, der sehr schnell gesellschaftlichen und vor allem freundschaftlichen Umgang auch mit deutschstämmigen jüdischen Einwanderern pflegte, kritisch beäugt von den „Altdeutschen“, die im Deutschen Klub lieber unter sich, also den „Ariern“ blieben. Und auch die nach 1945 gebliebenen Juden und Jüdinnen hielten in der Jüdischen Kulturgemeinde Distanz zu den deutschen Bolivianos.

Die Alteingesessenen hatten bereits vor dem Kriege ideologisch „ganze Arbeit“ verrichtet. Deutsche Einwanderer hatten entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen im Land. Und wo in anderen lateinamerikanische Ländern das Wort judio, Jude, für fleißig, kreativ und wirtschaftlich erfolgreich im positiven Sinne stand, tauchten in La Paz und den größeren Städten auch noch knapp ein Jahrzehnt nach der Schoa Flugblätter auf mit der Parole „Sei ein Patriot, kauf nicht bei Juden“.

Ströbele-Gregor zeigt, dass nicht zuletzt die mehrheitlich antisemitisch gestimmte deutsche Kolonie an der judenfeindlichen Stimmung Anteil hatte. Viele der zeitweise bis zu 10 000 jüdischen Immigrant*innen verließen das Land lieber wieder, das nach dem Kriegsende neue Heimat für geflohene Kriegsverbrecher wurde, welche Regierungskreise und den bolivianischen Sicherheitsapparat unterwanderten. „Die deutsche Kolonie blieb der soziale Raum, in dem er (Klaus Barbie – d. A.) sich wie ein Fisch im Wasser bewegen konnte.“

In der Deutschen Schule kam die Autorin auch mit der Tochter des „Schlächters von Lyon“ in Kontakt. Ute Altmann (Klaus Barbie lebte in Bolivien unter dem Namen Klaus Altmann – die Red.) wurde eine Schulfreundin und die Autorin besuchte zusammen mit ihr sogar Barbie alias Altmann während der Ferien im Urwald, wo der Ex-Gestapochef ein Sägewerk leitete. Es gehörte einem jüdischen Einwanderer, der von der wahren Identität seines Geschäftsführers jedoch keine Ahnung hatte.

Eine andere Freundin nahm eine ganz andere Entwicklung. Monika Ertl, die Tochter des Leni-Riefenstahl-Kameramanns, schloss sich später der bolivianischen Guerillabewegung Ejército de Liberación Nacional (ELN) an. Aus der Tochter aus gutem und privilegiertem Hause wurde Imilla, der Deckname bedeutet auf Aymara „kleines Mädchen“. Die Entwicklung ihrer Freundin beschreibt Juliane Ströbele-Gregor sehr anschaulich anhand der sozialen und politischen Entwicklung Boliviens. Monika Ertl war es vermutlich auch, die am 1. April 1971 das Büro des bolivianischen Konsulats betrat und dort den Konsul Oberst Roberto Quintanilla erschoss, der unter anderem für die Erschießung Che Guevaras verantwortlich war. Monika Ertl „Imilla“ starb bei einem Feuergefecht in La Paz am 12. Mai 1973.

Im Jahr 2014 feierte die inzwischen zur Deutschen Kulturgemeinschaft umbenannte deutsche Kolonie ihr hundertjähriges Bestehen. Die Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen wurde in der Jubiläumsbroschüre nur „vage und nebulös“ umschrieben. Ein Blick in das Buch von Juliana Ströbele-Gregor belegt, dass die Gräben nur oberflächlich eingeebnet worden sein dürften. Von Aufarbeitung keine Spur. Vielleicht hat die Autorin jetzt einen Stein des Anstoßes für Reflexion geliefert.