Es sollte ein schon lange der ila-Redaktion versprochenes, dann immer wieder vom Autor aus Zeitgründen verschobenes Porträt für die Reihe „Lebenswege“ werden. Jetzt muss es auch ein Nachruf sein. Am 15. August 2004 starb in dem dominikanischen Ferienort Sosúa Arthur Kirchheimer im Alter von 95 Jahren an Herzversagen – ein quirliger Freund, der es nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus wegen Herzrhythmusstörungen gar nicht erwarten konnte, wieder nach Hause zu kommen. Am anderen Tag sollte er entlassen werden. Der Montag wurde so zu seinem Bestattungstag.
Arthur Kirchheimer – oder Don Arturo, wie ihn alle nannten – wurde auf dem kleinen jüdischen Friedhof von Sosúa beigesetzt. An der Nordküste der Dominikanischen Republik hatte er vor fast genau 65 Jahren Asyl vor der rassistischen Verfolgung durch das Naziregime in Deutschland gefunden.Freiwillig ist Don Arturo nicht nach Quisqueya gekommen. Es war seine letzte Zuflucht. Im Juni 1941 stand er an Bord des Frachtschiffes „Algonquin“ und beobachtete, wie die Skyline der dominikanischen Hafenstadt Puerto Plata langsam größer wurde – eine unbekannte Welt. „Ich wusste nichts von dem Land und warum ich gerade hier Aufnahme fand, das habe ich damals auch nur in Bruchstücken erfahren“, erzählt Arturo, während er auf der breiten Veranda seines Holzhauses in Sosúa sitzt. Jeden Nachmittag nahm er hier Platz, nach seiner traditionellen Siesta. Im Haus flimmerte im Fernsehen als Hintergrunduntermalung das Programm der „Deutschen Welle“. Auf dem Tisch lagen die aktuellen Tageszeitungen des Landes, in denen Kirchheimer während der Unterhaltung immer wieder blätterte. „Señor Arturo Kirchheimer“; „Pioneer Sosúa Settlement“ hat der „Mann der ersten Stunde“ auf seiner Visitenkarte neben einer Stierabbildung drucken lassen.
Kirchheimer war kein orthodoxer Jude, weder in Hamburg, wo er bis zu seiner Flucht gelebt hatte, noch hier unter der Tropensonne. Aber seine jüdische Herkunft passte nicht in den nationalsozialistischen Rassenwahn. Und dann bot ein ihm unbekannter Diktator den Juden aus Europa Zuflucht an. Kräftige Männer wollte der Karibikdespot Trujillo ins Land holen. Kirchheimer war einer der Glücklichen – und ein Pionier. So sieht Arturo Kirchheimer auch aus, als ich ihn das erste Mal auf meinen Recherchen zu einer Reportage über Juden in der Dominikanischen Republik treffe: Das runde Gesicht von tiefen Falten durchfurcht, die Haut sonnengegerbt, die Hände groß und schwielig. An seinem Händedruck spürte man, dass der Mann zupacken kann – trotz seiner mehr als neun Jahrzehnte. Aber an den Ohren sah man schon die ersten Spuren einer Hautkrebserkrankung. Seit er sich daran operieren ließ, hatte er Herzprobleme. Ein Mensch, der Brachlandschaften gerodet, Bäume gefällt und die ersten Jahre nicht gerade bequem gelebt hat. „Hier war alles Urwald“, erzählte der gedrungene, vielleicht 1,60 Meter große Mann und blickte von seiner Veranda auf ein inzwischen vierstöckiges Hotelgebäude, das ihm die einstige Aussicht auf die Bucht von Sosúa versperrte. Neben seinem Haus wurde die letzten Monate gehämmert und gebohrt – tagsüber machen die mit laufendem Motor wartenden Betonmischfahrzeuge mit ihrem Lärm die Umgebung nicht gerade zu einer Ferienidylle in der Karibik. Schlaf hat er nur noch selten gefunden. Arturo Kirchheimer lächelte trotzdem, auch wenn er sich von dem erneuten Touristenboom in der Dominikanischen Republik ein wenig überrollt fühlte.
Wie ein kleiner, geduckter Fremdkörper wird sein einstöckiges Haus mit der breiten Veranda und dem Zinkdach wirken, wenn der Konferenz- und Hotelkomplex endlich fertiggestellt sein wird. Am liebsten würde er wegziehen, sagt er plötzlich bei meinem letzten Besuch im Juli, aber die Hoteleigner boten nur ein Butterbrot im Verhältnis zu dem, was sein Grundstück wert ist. Und wie die Grundstückspreise in der Kleinstadt an der Nordküste des von Touristen nur kurz DomRep genannten Landes sind, weiß Don Arturo, wie ihn seine Nachbarn nennen, nur zu gut. So macht er halt gute Miene zur Entwicklung um ihn herum und wartet ab. Irgendwann, sagt er mit einem zwinkernden Auge, müssen sie ihn aufkaufen. Und „wenn der Preis stimmt“, dann geht er. Aber so richtig will er nicht gehen. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht so einfach. Stimmt doch, Dillmann“, sagte Don Arturo und legte freundlich die Hand auf meinen Arm. Zu unseren Füßen lag der Haushund, die Katze hatte sich genüsslich an ihn angeschmiegt. Leicht quietschend wiegten wir uns in den Schaukelstühlen. Trotz des Krachs und der Belästigung ist Arturo Kirchheimer zufrieden, denn endlich brummt das Touristengeschäft in Sosúa wieder. Neue luxuriöse Hotelanlagen sind entstanden. Einst wegen fehlender Touristen geschlossene Pensionen haben frisch renoviert ihre Pforten geöffnet. In den letzten Jahren hatte das Kleinstädtchen mit seinen heute rund 10 000 Einwohnern in der deutschen Presselandschaft eher reichlich Negativschlagzeilen als „Ballermann der Karibik“ gemacht: Prostitution, Kindersex, unaufgeklärte Morde, Pleiten und Skandale. „Dabei gibt es doch auch die Reeperbahn in Hamburg, aber hier tun alle so, als ob Sosúa nur das Negative wäre.“
Nach einer offiziellen Statistik fanden ab 1940 in Sosúa „645 judíos“, Juden wie Kirchheimer, Schutz vor der rassistischen Verfolgung in Deutschland. Ursprünglich sollten es einmal „100 000 jüdische Männer und Frauen mit landwirtschaftlicher Erfahrung“ sein – so jedenfalls hatte es der dominikanische Diktator Rafael Leónides Trujillo Molina durch seinen Botschafter auf der Konferenz von Évian-les-Bains verkünden lassen. Im mondänen französischen Kurort am Genfer See trafen sich im Juli 1938 Diplomaten aus 38 Ländern zu einer Konferenz, um über das Schicksal der jüdischen MigrantInnen zu beraten, die auf der Suche nach Schutz von der Verfolgung der Nationalsozialisten durch Europa irrten. Fazit: „Das Boot war voll“. Niemand wolle die Juden, höhnte der Völkische Beobachter, „weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat.“ Der erste Staatspräsident des Staates Israel Chaim Weizman analysierte präzise: „Damals war die Welt zweigeteilt: Die eine Hälfte bildeten jene Länder, die die Juden vertrieben, und die anderen weigerten sich, sie einreisen zu lassen.“
Die Bereitschaft, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, war nicht ganz uneigennützig, denn der dominikanische Despot war international in Ungnade gefallen, seit er 1937 ein rassistisches Massaker an etwa 28 000 dunkelhäutigen haitianischen Arbeitern angeordnet hatte, die in der Dominikanischen Republik lebten. Und die Gerüchte gehen herum, dass Trujillo sich von den jüdischen Zwangsemigranten eine „Aufhellung und Verbesserung der Rasse“ erhoffte – Wahnsinn und Wahnwitz kennen keine Grenzen. Den Strohhalm aus der Karibik ergriff das American Jewish Joint Distribution Committee und begann mit Trujillo die Konditionen für eine jüdische Siedlung unter Palmen zu debattieren. Zu diesem Zwecke wurde die Dorsa, die Dominican Republic Settlement Association, gegründet. Als Ort bot Trujillo das ehemalige Gelände einer Bananenplantage an, das sich „ganz zufällig“ auch noch in seinem Besitz befand. 100 000 Dollar bezahlte der Agro-Joint, eine Unterorganisation des Joint für das Areal, das einst den „Wohltäter des Vaterlandes“, wie er sich selbstherrlich titulieren ließ, nur die Hälfte gekostet hatte. Am 30. Januar 1940 unterzeichneten ein Vertreter der dominikanischen Regierung und der Dorsa ein Abkommen, das den Siedlern und ihren Nachkommen ein Leben „frei von Belästigung, Diskriminierung oder Verfolgung“ garantierte.
Von diesen Aktivitäten und diplomatischen Finessen bekam der noch keine 30 Jahre junge Kirchheimer wenig mit. 1909 in Hamm in Westfalen geboren, waren seine Eltern nach Hamburg an die Waterkant gezogen. Insgesamt hatte Kirchheimer acht Geschwister. Zwei seiner Schwestern leben noch, eine in Buenos Aires, die andere in den USA. Beide auch weit über 90 Jahre alt. Arthur Kirchheimer lernte Schaufensterdekorateur und wurde später Modeeinkäufer beim Kaufhaus Hermann Tietz. „Paris, das war eine andere Welt“, berichtete er über eine Reise an die Seine, um Stoffe und Prêt-à-porter-Mode zu kaufen. Zu den Hohen Feiertagen Rosch Haschana, dem jüdischen Jahreswechsel, und dem Versöhnungsfest Jom Kippur ging er in die Synagoge, „aber ansonsten bin ich nicht jeden Schabbat dahin gegangen“. Die Mehrzahl seiner Freunde und Bekannten waren Juden, „aber das war mehr den Umständen geschuldet. „Außerdem war ich halbrechter Stürmer beim jüdischen Sportverein Ba Kockba in Hamburg“, erzählte er mir stolz und holte eine Fotomappe aus dem Schrank, die er gerettet hatte. „Ich bin Ehrenmitglied des Sosúa Sport Club und Deportiva Puerto Plata“. Fußball ist in der Dominikanischen Republik, wo alles mit einem Baseball-Schläger auf eine runde Kugel drischt, ein Außenseitersport. „Für Politik habe ich mich nie interessiert und die Nazis habe ich für ein vorübergehendes Phänomen gehalten“, sagt er und schüttelte den Kopf für seine damalige Naivität.
1936 floh er dann aber doch aus Deutschland. Mit zwei Freunden saß Kirchheimer in einer Kneipe und hörte sich die Übertragung des Boxkampfes Max Schmeling gegen Joe Luis an. Natürlich habe er zu dem schwarzen Schwergewicht aus den USA gehalten – zum Unmut von ein paar Braunhemden, die sich über solch unvölkisches Verhalten mokierten. „Ein Wort gab das andere und dann flogen die Fäuste“, erzählt er lachend. Im Durcheinander der Schlägerei sei er dann durch das Toilettenfenster geflohen. Schmerzhaft musste er erfahren, dass es Zeit war sein Leben zu retten. Auf seiner weiteren Odyssee gelangte er mit seiner zum Judentum übergetretenen Frau nach Luxemburg. Nach dem illegalen Grenzübertritt arbeitete Kirchheimer auf einem Bauernhof und ließ sich wie viele Juden in jenen Jahren zum Landwirt ausbilden. „Dieser Ausbildung verdanke ich meine Rettung.“
Der deutsche Überfall auf Frankreich und die Benelux-Staaten machten die Versuche, ein sicheres Land für die Einwanderung zu finden, zunichte. „Wir flohen vor den deutschen Truppen Richtung Spanien“, erzählte Kirchheimer. Mit kubanischen Visa, aber ohne die Durchreisevisa für Portugal wurde ihnen an der portugiesischen Grenze die Einreise verwehrt. 15 Tage wurden sie an der Grenzstation festgehalten – ohne Essen und Trinken. „Nur die Bevölkerung hat uns Wasser und Brot gegeben.“ Nach zwei Wochen wurde die Gruppe jüdischer Flüchtlinge nach Frankreich zurückgeschickt. „Wir waren halbtot.“ Nachdem sie einen Tag und eine Nacht in einem Waggon auf einem Abstellgleis bei Dax gestanden hatten und von Mund zu Mund das Gerücht ging „sie schicken uns nach Polen ins Gas“, half den Flüchtlingen das Rote Kreuz. Kirchheimer und seine Frau kamen mit den anderen in der Nähe der französischen Hafenstadt Bayonne in ein Konzentrationslager. „Der deutsche Offizier hat uns gut behandelt“, und das Wort „deutsche“ drückte eine große Distanz aus, obwohl sich Don Arturo immer auch als Deutscher fühlte und auf das ihm später verliehene Bundesverdienstkreuz mächtig stolz war.
Ins KZ Bayonne kamen dann nach sieben Monaten Mitglieder des American Jewish Joint Distribution Committee ins Lager. Sie suchten Leute mit landwirtschaftlichen Kenntnissen für den Kibbuz, der in der Dominikanischen Republik aufgebaut werden sollte. Kirchheimer und seine Frau waren unter den fünfzig „Glücklichen“, die als künftige Colonos, Siedler, ausgesucht und dadurch aus dem KZ Bayonne befreit wurden. Im Zug ging es quer durch Spanien in einem versiegelten Waggon nach Portugal. „In Lissabon wurden wir erst mal zwei Wochen aufgepäppelt. Wir waren halbverhungert“, erzählte Kirchheimer. Alle hatten Angst, denn auf dem Atlantik hatte längst schon in Folge des Zweiten Weltkrieges der U-Boot-Krieg begonnen. Und die deutschen Torpedos versenkten unterschiedslos Fracht- und Passagierschiffe. Zwei Schiffe mit jüdischen Siedlern, die die Dominikanische Republik ansteuerten, wurden versenkt. Und auch die „Algonquin“, mit der die Kirchheimers nach einer weiteren Internierungs- und Quarantänephase im New Yorker Flüchtlingslager Ellis Island in Puerto Plata, knapp 40 Kilometer von Sosúa entfernt, gelandet war, wurde kurz nach ihrem Auslaufen versenkt. „Wir gehörten fast zur letzten Siedlergruppe. Danach war die Atlantiküberquerung zu gefährlich.“
Die beiden Baracken, in der die Neusiedler an der damals noch malariageplagten Atlantikküste wohnen mussten, stehen noch heute. In dem einen waren die jüdischen Familien, in der anderen die Junggesellen untergebracht. Heute sind dort eine Bank, Souvenirgeschäfte und eine Kunstgalerie untergebracht sowie die Verwaltungsbüros jener Wurst- und Käseproduktionsfirma, die Kirchheimer mitgegründet hatte und an der er bis zu seinem Lebensende Anteileigner war: Productos Sosúa. „Die Leute wussten unsere gute deutsche Butter zu schätzen“, erzählte stolz einer der zwei noch im Ort wohnenden Ur-Sosúaner, Martin Katz.Gemeinsam wurde gerodet, Felder angelegt, Zäune gezogen, Straßen und Wasser- und Stromleitungen gelegt. Reihum wurde mal in der Käserei, im Kuhstall, beim Ackerbau oder in der Küche gearbeitet. „Es sollte ein Kibbuz werden, aber die meisten waren ja keine Landwirte“, bedauert Kirchheimer, „wir waren aus der Not heraus zusammengekommen. Wir waren eine völlig zusammengewürfelte Gemeinschaft.“ Da sollten ehemalige Lateinprofessoren mit einem Crashkurs in Landwirtschaft Obstbäume veredeln und Apotheker Ziegen hüten. Dazu kam, dass der Gemüseanbau für den Boden vollkommen ungeeignet war. Das Klima und die Malaria machten den Flüchtlingen zu schaffen, die fremde Kultur machte das Leben nicht gerade einfach. Die Mehrheit passte sich nie dem neuen Land und der neuen Kultur an.
Nach dem Ende der Nazidiktatur verließen denn auch viele der aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden zwangsweise hierher gekommenen jüdischen Siedler wieder das Land. Kirchheimer blieb, zusammen mit seiner vor zehn Jahren verstorbenen Frau. Er heiratete später sogar noch einmal, eine Dominikanerin. Ende der vierziger und fünfziger Jahre kamen Landwirtschaftsexperten, die den Boden untersuchten und die ökonomische Grundlagen der Gemeinschaft neu zu regeln versuchten. Das Kibbuzprojekt wurde aufgegeben, der Ackerbau eingestellt. Die Agrarfachleute rieten zur Viehzucht aufgrund der ausgedehnten Weideflächen und der schlechten Bodenqualität. Nach der Auflösung des gemeinsamen Landwirtschaftsprojektes erhielt jeder der verbliebenen Siedler 80 Morgen Land, zehn Kühe, ein Maultier und ein Pferd. „Don Arturo“ begann eine Schweinezucht. „Schweine zu züchten, ist Juden nicht verboten“, sagt Kirchheimer mit spitzbübischem Schmunzeln als Reaktion über die hochgezogenen Augenbrauen seines Gesprächspartners, „nur der Konsum von Schweinefleisch. Aber die koscheren Speisevorschriften habe ich hier noch nie eingehalten.“ Don Arturo kaufte im Ausland Schweine und brachte sie ins Land, um sie mit den „einheimischen und völlig degenerierten Schweinen zu kreuzen.“ Stolz erzählt er, wie er während einer Landwirtschaftsausstellung für seine Zuchtleistungen sogar vom Karibikdespoten Trujillo mit einer Urkunde ausgezeichnet wurde. Auf den ließ er nie etwas kommen. „Das war ein Mörder, aber uns hat er gerettet.“
Sosúa in den fünfziger und sechziger Jahren war eine Kleinstadt, in der Deutsch manchmal mit Wiener Akzent gesprochen wurde. Zum klassischen Abendkonzert wurde Judith Kiebel eingeladen, die in Wien Musik studiert hatte. In der Ortskneipe, der „Oasis“, trafen sich die Siedler abends zum Bier und zum Skat und am Sonntag wurde dort nachmittags „Bohnenkaffee und Schwarzwälderkirschtorte serviert“. Nur die Synagoge wurde immer unregelmäßiger genutzt, denn ein Rabbiner lebte nur sehr kurz in den Anfangsjahren in Sosúa. „Später holten wir uns einen ‚Rabbi’ nur zu den Hohen Feiertagen“, sagte Don Arturo, der inzwischen von jenen Siedlern, die das Land wieder verließen, weitere Weideflächen dazugekauft hatte. Außerdem hätten viele der in die dominikanische Republik Eingewanderten sich mit dominikanischen PartnerInnen verheiratet. „Das Jüdische trat immer weiter in den Hintergrund.“
Der Dornröschenschlaf der karibischen Kleinstadt mit dem deutsch-jüdischen Touch endete in den siebziger Jahren. Zuerst kamen gut situierte und besser gestellte DominikanerInnen an die Nordküste, um im Gasthaus des Ortes ein paar ruhige Tage zu verbringen mit Frankfurter Würstchen, Kartoffelsalat und Sauerkraut. Denen folgten Sonnenhungrige aus den USA und Kanada, die die Schönheiten der langgestreckten Palmstrände und die Idylle von Sosúa, der von Juden aufgebauten Stadt, entdeckten. Und dann kamen auch „los Alemanes“ – schließlich wurde in Sosúa auch Deutsch gesprochen. Aus dem „jüdischen Karibikstädtchen“ wurde eine touristische Boomtown. Eine Chance für Kirchheimer und die Zurückgebliebenen. Einige bauten einfache Strandhütten, um sie an die ersten Touristen zu vermieten. Kirchheimer half Investoren bei der Suche nach gutem Baugelände und schönen Stränden.
Aus direkt am Strand gelegenem Brachland, das man Mitte des vorigen Jahrhunderts bestenfalls für eine Handvoll Pesos verkaufen konnte, wurden Megagrundstücke, die in Dollars pro Quadratmeter gehandelt wurden.
Großhotelanlagen entstanden in der Umgebung von Sosúa bis hinauf nach Puerto Plata. „Productos Sosúa“ wurde ein Renditeunternehmen – schließlich wollten alle leckere Fleischwurst und Schinken mit „guter Butter“ auf dem Frühstücksbrötchen im „All-Inklusive-Ferienkomplex“. „Hier nennen sie mich den ‚Vater des Tourismus’.“ Kirchheimer war Zeit seines Lebens stolz auf seine Rolle bei der Förderung des Tourismus. Kritik an der Entwicklung des Massentourismus und seine konkreten Auswirkungen auf das Leben in Sosúa drangen zu ihm nicht durch. „Damit sich ein Land entwickelt, muss Geld verdient werden.“ Punkt. Das war sein Credo. Mit den Touristen kamen die Medienvertreter. „Don Arturos“ Tür stand allen offen. Ein lebendes Geschichtsbuch, der stundenlang Anekdoten aus den Anfangsjahren des jüdischen Sosúa erzählen konnte – „Ein deutsches Schicksal“. So hieß auch der Film, der 1981 im Dritten Fernsehprogramm des Westdeutschen Rundfunks zu sehen war und die Lebensgeschichte des Arturo Kirchheimer erzählte, der sich in Hamburg noch Arthur nannte.
Wenn der in Santo Domingo lebende Kantor Oisiki Ghitis einmal im Monat nach Sosúa zum Schabbatgottesdienst kam, saß Arturo Kirchheimer regelmäßig in einer der Mahagonibänke der Synagoge, klein und in den letzten Jahren immer weiter körperlich in sich versunken. Das Eingangslied „Leja Dodi Likrad hala“ („Komm lass uns den Schabbat empfangen“) brummelte er vor sich hin. Auf dem Kopf trug er anstelle einer Kippa, der jüdischen Kopfbedeckung, die während des Gottesdienstes getragen wird, eine weiße Baseballkappe. „Das jüdische Leben ist leider nicht mehr so intensiv.“ Keine Klage, mehr eine banale Feststellung über die Veränderung des Lebens. Dass das historische Verwaltungsgebäude der Dorsa vor Jahren vor dem endgültigen Abriss bewahrt wurde, verdankt Sosúa Arturo Kirchheimer. Darauf war er stolz. Sie dient heute als Empfangshalle für das Hotel, auf das er jeden Tag von seiner Veranda aus schauen konnte. Die Einbeziehung des Parks in ein Konferenzzentrum und der damit verbundene Abriss der Eingangsbögen in Form der Gesetzestafeln Moses’ hat er dagegen nicht mehr verhindern können.
Wie es jüdische Tradition ist, wird in einem Jahr auf seinem Grab auf dem jüdischen Friedhof von Sosúa sein Grabstein mit dem Magen David, dem Davidstern, gesetzt werden und an Arthur Kirchheimer, den „Pioneer Sosúa Settlement“, erinnern. Möge ihm die Erde leicht sein.