Die 1971, zwei Jahre vor dem Staatsstreich, gegründete Vereinigte Linke, die Frente Amplio (FA) kam 1989 bei der ersten Wahl nach der Militärdiktatur an die Regierung der Provinz und Hauptstadt Montevideo, wo 40 Prozent der Landesbevölkerung lebt. So hatte die Linke, die immer in der Opposition gewesen war, der man vorgeworfen hatte, stets nur „Nein“ zu sagen, erstmals lernen müssen zu regieren. Doch im Lande regierten, wie eh und je, weiter die traditionellen konservativen Parteien der Colorados und der Blancos. Die FA blieb auf nationaler Ebene Oppositionspartei. Opposition gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, Opposition gegen den rasanten Abbau des Gesundheits- und Unterrichtswesens, Opposition gegen Privatisierung, Verschleuderung öffentlichen Eigentums, gegen Industriedemontage, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, Opposition gegen Autoritarismus, politische Klüngelei und Korruption.
Doch am 31. Oktober 2004 gewann sie in der República Oriental del Uruguay die Wahlen, ab 1. März 2005 wird sie das Land regieren. Wir, die wir ein Leben lang landesweit Opposition, legal wie illegal, betrieben haben, werden uns umstellen, die liebgewordene Oppositionskultur ablegen müssen, schnell müssen wir uns daran gewöhnen, das Land zu regieren. Einige mögen mehr für machbar halten, andere weniger, aber dass der Kampf weiter geht, nun freilich von einer anderen – wenn auch immer nur relativen – Machtposition aus, das wissen alle. Wir regieren ja schon seit über 14 Jahren. Zwar nur in einer Stadt, doch von daher wissen wir gut um die Kluft zwischen Wollen und Können.
Welchen Bruchteil des Kommunalprogramms der FA verwirklichte die Stadtregierung von Montevideo? Die Hälfte? Ein Drittel? Das Entscheidende war sicherlich, dass es in die richtige Richtung ging, dass realisiert wurde, was die MontevideanerInnen brauchten, erwarteten. Wie anders ließe es sich erklären, dass sie alle fünf Jahre bei den Wahlen in Montevideo die Kommunalpolitik der FA mit größerer Zustimmung honorierten. 1989 mit 36 Prozent der Stimmen zur Regierung gewählt, erhielt sie 1994 schon 44 und 1999 gar 58 Prozent der Stimmen.
Also kann die neue nationale Regierung der FA sehr wohl von den Erfahrungen in Montevideo lernen. Von den guten und von den schlechten. Sie fängt nicht bei Null an, obwohl eine Stadt nicht denselben Aufgabenkreis, auch nicht die gleiche Verfügungsmacht wie ein Staat hat, selbst wenn es die Hauptstadt ist. Auf jeden Fall wird die Auswertung der Lektion von Montevideo umso ergiebiger sein, als die Persönlichkeiten dieselben sind. War doch Tabaré Vázquez, seinerzeit der erste FA-Intendente (Bürgermeister) von Montevideo. Der neue Minister für Wohnungsbau, Territorialplanung und Umwelt, der Architekt Mariano Arana, von 1995 bis heute ebenfalls Intendente von Montevideo. Und auch die Verteidigungsministerin, Azuzena Berutti, die Gesundheitsministerin Julia María Múñoz und der Minister für Verkehr und öffentliche Bauten, Víctor Rossi, kommen aus dem Rathaus der Hauptstadt.
Was aber haben sie da erfahren, was ihnen auf ihren neuen Posten von Nutzen sein könnte? Oder umgekehrt, was wäre das Neue? Mit Geld umgehen mussten sie natürlich auch in der Intendencia (Stadtverwaltung). Die Befugnisse und die Verantwortung einer nationalen Regierung hingegen reichen weit darüber hinaus. So hat z.B. die FA vor, das Steuersystem zu verändern, die gestaffelte Einkommensteuer, die es in Uruguay bisher nicht gibt, einzuführen und zugleich die unsoziale Mehrwertsteuer – zur Zeit 23 Prozent – zu senken. Ein Eingriff also in die gesellschaftlichen Strukturen zugunsten der unteren Einkommensschichten. Auf einer ähnlichen Linie liegt die geplante nationale Gesundheitsversicherung, die passiv und aktiv alle UruguayerInnen erfassen soll. Über die staatlichen Banken und die Zentralbank schließlich kann sie über die Geld-, Zins- und Kreditpolitik in die Wirtschaft eingreifen. In einem für eine Stadt unmöglichen Ausmaß kann sie auf gesellschaftliche Veränderungen – in gutem wie in schlechtem Sinne – einwirken. Sie ist mehr als nur Verwalter.
Hier also wird Neuland betreten. Für die Transformation einer Wirtschaft und Gesellschaft, die noch im kapitalistisch neoliberalen Rahmen funktioniert, zu einer, die mit planwirtschaftlichen Elementen auf sozialen Ausgleich zusteuert, aber auch funktionieren soll, gibt es kein Vorbild. Es bleibt ein Experiment, wenn auch mit guten Chancen. Mit einer Bevölkerung, die vom Neoliberalismus gründlich und grausam kuriert ihre Hoffnung auf eine Wende setzt. Dem kommen die anderthalb Jahrzehnte Regierung in Montevideo zugute. Einer der Programmpunkte von grundsätzlicher bedeutung auf kommunaler Ebene war die Dezentralisierung der Verwaltung und die Partizipation der BürgerInnen an der Regierung. Als die FA mit Tabaré im März 1990 ins Rathaus einzog, waren die ersten Maßnahmen die Eröffnung 18 kommunaler Zentren, in die die Provinz Montevideo unterteilt wurde, und die Einberufung von Nachbarschafts- versammlungen in allen Bezirken, die die Prioritäten für den anstehenden Fünfjahresplan, jeweils in ihrem Stadtteil, festlegen sollten. Zwei Jahre später wurde das System der direkten Demokratie institutionalisiert: Einberufung von 18 politisch integrierten Juntas Locales (Bezirksräten) und ebensoviel überparteilich gewählten Consejos Vecinales (Nachbarschaftsräten). Ein Informationsnetz, das in die entlegensten Winkel der Stadt und umliegenden Ländereien reicht und zugleich ein Chor der Mitbestimmung im komplexen Entwicklungsplan der Stadtverwaltung.
Dezentralisierung und Partizipation ist auch im nationalen Programm der FA angesagt. Dem ist ein ganzes Kapitel über neue Befugnisse der Provinzen und Kommunen, über die Erweiterung der repräsentativen durch die partizipative Demokratie gewidmet. Sind auch Organisationsform und Befugnisse noch nicht definiert, die in den verschiedenen Bereichen der Wirtschaft, der öffentlichen Dienste und der Kultur deren BetreiberInnen und BenutzerInnen zustehen werden, so ist ihre Teilnahme an der Planung und Kontrolle beschlossene Sache. Die Erfahrung bei den Nachbarschaftsräten in Montevideo ist diesbezüglich recht widersprüchlich. Hatte das letzte Wort bei allem natürlich stets die Intendencia oder die Junta Departamental (Provinzparlament), so wurden doch die von den Nachbarn bzw. den 18 Concejos Vecinales gemachten Vorschläge für den fünfjahrigen Haushaltsplan im Großen und Ganzen realisiert. Bei anderen Problemen hingegen, die sich im Laufe der fünf Jahre ergaben, wurde nicht selten gegen das Votum der Nachbarschaftsräte entschieden. Obwohl das nicht der hauptsächliche Grund der Stagnation des Partizipationsmodells in Montevideo ist, das anfangs mit großer Begeisterung begonnen wurde, so haben doch jene Dispute dazu beigetragen, die Nachbarschaftsräte zu entwerten.
Umso mehr muss man sich im nationalen Rahmen fragen, bis zu welchen Grenzen VertreterInnen von Gesellschaftssektoren Einfluss nehmen, eventuell vorgesehene Pläne auch abändern könnten. Ohne Zweifel ist für eine fortschrittliche Regierung die Einbeziehung aller Kräfte der Zivilgesellschaft in die Wirtschafts- und Kulturpolitik eine Notwendigkeit. Sowohl weil nur so bestmögliche Optionen ausgelotet werden wie auch die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung in Plan und Aktion der Regierung übergehen. In einer komplexen Gesellschaft mit antagonistischen Klassen ist das ein Balanceakt; man kommt nicht um Widersprüche herum, weiß, dass sie systemimmanent sind, aber muss sie so oder so lösen. Irrtümer und Konflikte vorprogrammiert, ist Dialog und Partizipation die Zweibahnstraße, die am ehesten schweren Verkehrsunfällen vorbeugt. Doch auch sie braucht von Beginn an feste Regeln. Da könnte man von den Erfolgen wie von den Pannen in Montevideo lernen. Ein anderes Kapital, wo Vergleiche nützlich sein können, ist das Verhältnis der Regierung zu den ArbeiterInnen und Angestellten im öffentlichen Dienst, in staatlichen Betrieben und Institutionen. Ein schwieriges Kapital während der 14 Jahre FA-Regierung in Montevideo. Wenn das ein Trost wäre … schwierig auch in der Weltgeschichte. Verbrachte doch selbst ein Lenin die letzten Jahre seines Lebens mit der Bekämpfung der Bürokratie im Staatsapparat und verlor den Kampf.
Doch konkret: Die FA übernahm den Beamtenapparat der Intendencia von Montevideo. In einem Jahrhundert von Colorado- und Blancoregierungen nach dem Prinzip: „Du gibst mir deine Stimme bei der Wahl, ich dir eine Anstellung“ entstanden, wuchs er überdimensioniert, war schwerfällig und ineffizient, die ArbeiterInnen und Angestellten waren, wie alle im öffentlichen Dienst, schlecht bezahlt, dafür aber lebenslänglich unabsetzbar. Tabaré erhöhte Reallöhne und –gehälter in wenigen Jahren auf mehr als das Doppelte, reduzierte die tägliche Arbeitszeit von 8 auf 6 Stunden, bezog die Familien des Personals in die Krankenversicherung ein und baute Qualifizierungskurse auf. Ohne einen Funktionär zu entlassen, wurde im Lauf der Jahre mit dem Ausscheiden der ins Rentenalter Gekommenen das Personal verjüngt und von 12000 auf 9000 heruntergebracht. Jetzt werden die Neuanstellungen bei qualifizierten Berufen nur noch über den Wettbewerb getätigt, bei unqualifizierten nach öffentlicher Ausschreibung vor Publikum ausgelost.
Und trotzdem, was Bürokratie und Effizienz anbelangt, hat sich nicht viel geändert.
Vergleicht man etwa die Müllabfuhr, von der ein Teil bereits vor Antritt der FA-Regierung privatisiert war, so kommt die Pro-Kopf-Leistung (in Tonnen/Monat) bei der öffentlichen nicht auf die Hälfte der privatisierten. Zudem ist das Verhältnis der Gewerkschaft der städtischen Arbeiter und , Angestellten (ADEOM) zur FA-Intendencia gespannt, auf mehr Konfrontation zugespitzt als zu jeder vorherigen Colorado- Intendencia. Als im Jahre 2002 zur Zeit des Bankenkrachs und der Abwertung des Pesos die Steuereinnahmen der Stadt drastisch zurückgingen, erklärte ADEOM den Streik in Montevideo, weil die Intendencia die vorher ausgehandelte Gehaltsangleichung an die Teuerung (23%) nicht erfüllte. Nur mit der Streichung aller Sozialausgaben in Polikliniken und Kindergärten in Armenvierteln wäre das möglich gewesen, doch das wollte die FA unter keinen Umständen. Nach zwei Wochen brach der Streik zusammen, zumal er keinen Rückhalt bei der Bevölkerung fand, die – als Steuerzahler! – in ihrer Mehrheit wesentlich weniger als die Streikenden verdiente.
Seitdem aber stand das Verhältnis einer linken Regierung zu ihren Beschäftigen auf der politischen Tagesordnung. Was sich im kleinen Rahmen der Intendencia abspielte, könnte sich auf dem Boden der Republik wiederholen. Denn dank Volksabstimmungen und Mobilisierungen ist der Privatisierungsprozess in Uruguay gebremst, verbleiben immer noch die strategischen Dienstleistungsbetriebe und Banken in staatlichen Händen; fast ein Fünftel aller Berufstätigen im formellen Sektor ist bei der Stadt oder beim Staat angestellt. Dies ist ein Vorteil bei der Überwindung des neoliberalen Wirtschaftsmodells, ein Problem der Effizienz und Produktivität für das geplante Wirtschaftswachstum und einer Entwicklung zur Überwindung der Armut. Es wäre jedoch Augenwischerei, das unglückliche Arbeitsverhältnis in der Intendencia von Montevideo nur dem Starrsinn von ADEOM anzulasten. Zu jedem Verhältnis gehören zwei, und obwohl es nie an einem formellen Dialog gefehlt hat, ist es bezeichnend, dass von der Intendencia nie ein Angebot der Partizipation an die städtischen Arbeiter und Angestellten, analog der Mitbestimmung der Nachbarn, gemacht wurde.
Heute ist man sich auf beiden Seiten klar darüber – das bestätigte der Parteitag der FA im Dezember 2003 und der Kongress der Gewerkschaftszentrale PIT-CNT im November 2003 –, dass die Gewerkschaften die spezifischen Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten haben, während eine linke Regierung die aller BürgerInnen, der Gesamtgesellschaft zu wahren hat. Was, jenseits programmatischer Übereinstimmung gegen neoliberale Politik und für soziale Gerechtigkeit, die absolute Unabhängigkeit der einen von der anderen bedeutet. Dabei ist die große Mehrheit – fast 90 Prozent der Delegierten beim Gewerkschaftskongress – zu einer Zusammenarbeit mit einer linken Regierung für die gemeinsamen Ziele bereit. In der Praxis mag das heißen, dass jede Gewerkschaft auf ihren Forderungen bestehen wird, aber ohne auf einen harten Konfrontationskurs zu gehen.
Bleibt die Frage offen, wie die Effizienz des Verwaltungsapparates, wie die Produktivität der staatlichen Unternehmen erhöht, den Entwicklungsplänen der F.A.-Regierung angepasst werden kann. Die geplante Staatsreform wird entgegen der bisherigen Günstlingswirtschaft Beförderungen im Amt oder Neueinstellungen von Fachkräften nur nach Wettbewerb, von unqualifizierten Posten nur durch Auslosung vergeben, Gehaltskategorien vor allem nach Leistung – im Einverständnis mit dem Betriebsrat – bestimmen. Das gegenwärtig überzählige Personal wird – mit der Zeit – nur durch eine Erweiterung der Arbeitsfelder gemäß der Entwicklungspläne der linken Regierung absorbiert werden können. Dazu freilich werden Umschulungskurse vonnöten sein.
Anders als bisher in Montevideo müsste auch eine neue Arbeitsmethodik angegangen werden. Ein Versuch die ArbeiterInnen wie die Büroangestellten in ihre spezifische Arbeit einzubinden, verlangte (meines Erachtens) auch eine Einebnung der Hierarchiepyramide. Das Problem wurde in dem entsprechenden „Thematischen Workshop über Partizipation“ dargestellt und Änderungen in diese Richtung angefordert. Ob freilich die dazu benötigte politische Kultur in der FA und besonders bei den leitenden Stellen vorhanden ist, ist die große Frage. Vielleicht sollte man nicht allzu viel verlangen. Ohnehin hat uns die Geschichte der sozialen Bewegungen, die der Reformen wie die der Revolutionen, in Bezug auf das Resultat Bescheidenheit gelehrt. Alleine von oben mit politischen Mitteln kann keine wesentliche Veränderung im Sinne des Fortschritts verordnet werden, wenn nicht zugleich in der Gesellschaft entsprechende kulturelle Veränderungen sie begleiten. Gute Ansätze dazu sind in Uruguay immerhin vorhanden. Auf jeden Fall beginnt hier eine neue Ära: eine linke Regierung, bereit hinfällige Gesellschaftsstrukturen umzugestalten, und unten, ernüchtert vom Verfall der Traditionen, das Volk, das all seine Hoffnung auf ein anderes mögliches Uruguay gesetzt hat.