Manfred Liebel und Gabriele Rohmann haben zusammen mit dem Berliner Archiv der Jugendkulturen einen Sammelband über Jugendkulturen in Mexiko herausgegeben. Dabei interessierte sie das Leben der Jugendlichen, die an sozialen, ethnischen oder realen Grenzen aufwachsen: in den barrios, den Armenvierteln der Städte, unterwegs vom Land in die Stadt oder auf dem Weg über eine oft tödliche Mauer in die USA, wo sie als kriminalisierte Gruppe ein wenig chancenreiches Leben führen, zusammen mit den Söhnen und Töchtern der EinwanderInnen der zweiten oder dritten Generation. Sie wachsen in einem Grenz- und Durchgangsland auf, wo die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, in einem Land, das unter den Auswirkungen der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA leidet, in dem sich aber indigene und andere unterdrückte Bevölkerungsgruppen wehren, wie die Aufstände in Chiapas oder Oaxaca zeigen. In einer globalisierten Welt gleichen sich dabei Musik, Symbole und Lebensstile der Jugendlichen weltweit einander an, aber – und das ist den HerausgeberInnen wichtig – die Jugendlichen der marginalisierten Klassen in Mexiko schaffen dabei etwas Eigenständiges, eine nicht nur imaginäre Praxis, mit der sie die vorgefundenen Grenzen ein Stück weit verschieben.
Rossana Reguillo entlarvt in ihrem Einleitungsartikel über Jugendkulturen in Lateinamerika „Jugend als kulturelles Konstrukt“ und beschreibt die Rahmenbedingungen der Jugendlichen und der Jugendforschung im Zeitalter der „messianischen“ Globalisierung seit den 90er Jahren. Der nächste Beitrag von José Manuel Valenzuela: Von den pachucos zu den cholos wird konkreter. Die pachucos waren eine der bekanntesten Bewegungen der 30er bis 50er Jahre – junge Mexikaner und Chicanos, die vor allem im Norden Mexikos sowie in Kalifornien und Texas einen eigenen Stil pflegten: weite Anzüge (zoot-suit), Dandy-Posen und eine herausfordernde Haltung und Gestik. Als Zeichen für Gefängnisaufenthalte trugen sie Tätowierungen und setzten bewusst mexikanische Symbole ein. Während der so genannten Zoot-Suit-Aufstände im Juni 1943 in Los Angeles wurden sie von Polizisten und einem aufgehetzten Mob in Parks, Schwimmbädern und öffentlichen Plätzen gejagt, zusammengeschlagen und ins Gefängnis gebracht. Die cholos und chavos banda (Mitglieder von Jugendbanden) von heute beziehen sich explizit auf die pachucos und geben sich durch bestimme Kleidung, Tätowierungen, Graffitis und Sprache als cholos zu erkennen.
Von gruperos und cholombianos handelt der nächste Beitrag von Antonio Guerrero über städtische und ländliche Einflüsse in mexikanischen Jugendkulturen am Beispiel Aguascalientes. Gruperos sind eher ländlich geprägte Jugendliche, die gerne gemeinsam auf Feste und Rodeos gehen. Sie sind mexikanischen Traditionen verhaftet, glauben nicht an Politik und werden von den anderen manchmal verächtlich als almibarados (Süßliche) oder peladitos (Kahlköpfige) bezeichnet. Die viel rebellischeren cholos dagegen gelten den „ehrbaren Bürgern“ als der Inbegriff einer Jugend, die nicht existieren sollte. Obwohl sie meist schon früh ihren Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter verdienen, werden sie als kriminelle und faule Drogensüchtige diffamiert. Die rancholos eifern ihnen nach, sind aber eher gruperos als cholos, auf dem Weg zwischen Land und Stadt. Cholombianos sind cholos, die kolumbianische Musik wie Cumbias und Vallenatos hören und cholo-Kleidung mit kolumbianischen und karibischen Elementen verbinden.
Reguillo beschreibt in ihrem zweiten Beitrag die mexikanischen Sonderformen von punks (anarchistisch ausgerichtete, politisch aktive Jugendliche), tagger (gut organisierte Graffiti-Sprüher), raver (Gruppen, die u.a. nächtelange Techno-Parties organisieren, aber wie die anderen Gruppen massiven Repressionen ausgesetzt sind) und raztecas (Jugendliche, die in Musik und Lebensstil eine Mischung aus Rastafari und aztekisch-mexikanischen Traditionen anstreben). Einen in der Jugendforschung oft vernachlässigten Aspekt behandelt der Beitrag von Maritza Urteaga: Asphaltblumen, Mädchen in Jugendkulturen, in dem sie aber eher ergründet, warum Mädchen meist unsichtbar sind – weil sie nicht da sind oder nicht wahrgenommen werden? Doch dann beschreibt sie anhand von chavas rockeras (Rockerinnen) und punk-Frauen junge Frauen, die ihren eigenen Stil gefunden haben und offensiv nach außen vertreten. Der abschließende Beitrag von Liebel über Barrio-Gangs in den USA geht im Unterschied zu den vorigen von einer Fülle an Material aus: Jugendkulturen und Gender-Ansatz sind in den USA seit Jahren ein beliebtes Forschungsthema. Ein Glossar, das die lateinamerikanischen Begriffe erklärt, und eine ausführliche Bibliographie runden den Band ab.
Bei den sieben Aufsätzen handelt es sich, außer dem letzten von Manfred Liebel, um Übersetzungen von Arbeiten jüngerer mexikanischer JugendforscherInnen. Bücher über Jugendliche in Lateinamerika lassen sich im deutschsprachigen Raum an einer Hand abzählen. Die neuere lateinamerikanische Forschung zu diesem Thema wird hierzulande so gut wie gar nicht wahrgenommen. Das ist schade, denn die homeboys und homegirls, die punks, gruperos, rancheros, die chavas rockeras und cholos, ihre Musik, ihr Lebensgefühl und ihre oft triste Lebensrealität sind zwar manchmal verstörend, aber auch lebensbejahend und ungeheuer spannend. Trotz einiger soziologischer Längen ein wichtiges Buch, das Lust auf mehr macht.
Manfred Liebel & Gabriele Rohmann (Hrsg.): Entre Fronteras – Grenzgänge. Jugendkulturen in Mexico. Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2006, 144 Seiten, 20,- Euro