Kolumbien hatte immer eine sehr reiche Literatur. Das Land hat große Erzähler hervorgebracht. Dass sich daran so schnell nichts ändern wird, dafür sorgen auch zwei junge Erzähltalente, die beide aus Medellín kommen, journalistisch tätig und in ihrem Metier überaus erfolgreich und vielversprechend sind. Beide gehören der neuen Generation kolumbianischer Autoren an, könnten sozusagen Enkel von García Márquez oder Alvaro Mutis sein.
Jorge Franco (Jahrgang 1962) studierte in Kolumbien und an der London International Film School. International bekannt wurde er mit dem Roman „Die Scherenfrau“ (2002) und der Protagonistin „Rosario Tijeras“, einer Killerin („sicaria“) im Dienste des Medellín-Kartells, die mit allen Mitteln versucht, der Hölle der Slums zu entkommen. García Márquez schrieb über Jorge Franco, er gehöre zu denjenigen kolumbianischen Schriftstellern, „an die ich die Fackel mit Freude weiterreiche“.
Der andere Autor, José Guillermo (Memo) Anjel (geb. 1954) entstammt einer sephardischen (Nachkommen der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden – die Red.) Familie. Anjel ist Professor für Soziale Kommunikation und hat mehrere Romane, Erzählungen, Essays und Comics veröffentlicht. Zurzeit lebt er als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD für ein Jahr in Berlin.
Die neuesten Werke von Jorge Franco und Memo Anjel sind gerade in Deutsch erschienen, beide, wie es der Zufall will, in Zürcher Verlagen und in hervorragenden Übersetzungen von Susanna Mende bzw. Peter Schultze-Kraft und Erich Hackl. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Bei „Paraíso Travel“, so der Titel von Francos spannendem Roman, handelt es sich um eine illegale Reiseagentur, eine Schlepperbande, die für Tausende von Dollars Lateinamerikaner auf dem Landweg über Panama, Guatemala und Mexiko illegal in die USA schleust. Reina und Marlon haben, wie schon Rosario Tijeras, die Nase voll vom Leben in Medellín. Reina träumt den Traum vom American way of life, der den Träumer im Traum auch schon mal vom Tellerwäscher zum Millionär mutieren lässt. Deshalb knüpft sie Kontakt zu Paraíso Travel, treibt Geld auf und leitet alles in die Wege, um ihren Traum zu verwirklichen. Es gelingt ihr auch, den apathischen, ihr ganz und gar hörigen Marlon zu diesem abenteuerlichen Unternehmen zu überreden.
Die Gefahren der Reise, deren Stationen in Mittelamerika, Mexiko und den USA gehören mit zu den spannendsten Passagen des Romans. Das böse Erwachen aber, der eigentliche Alptraum setzt am Ende dieser Odyssee ein. Am Ziel ihrer Träume, besser am Ziel von Reinas Traum angelangt, in New York also, verirrt sich Marlon im Labyrinth der Großstadt, geht ganz einfach verloren und verfällt zunächst einmal in Amnesie. Er lebt auf der Straße. Erst nach und nach kehrt sein Erinnerungsvermögen zurück. Er begibt sich auf eine unermüdliche Suche nach seiner großen Liebe Reina. Dabei lernt er nicht nur die Schattenseiten des amerikanischen Traums, das Überleben vieler Latinos/as in New York, sondern auch die starke Solidarität innerhalb der comunidad latina kennen. Am Ende gelingt es Marlon sogar, Reina ausfindig zu machen: Sie lebt, Tausende von Kilometern von New York entfernt, in Florida, wo sie in aller Seelenruhe ihren amerikanischen Traum träumt. Marlon wird ohne sie nach Kolumbien zurückgehen.
Schauplatz des Romans „Das meschuggene Jahr“ von Memo Anjel ist zwar auch Medellín, doch könnte die Handlung auch überall sonstwo auf der Welt angesiedelt sein. Es geht dem Autor nicht um eine realistische Wiedergabe der sozialen Verhältnisse in der kolumbianischen Großstadt. Oder besser gesagt: Memo Anjel bemüht sich überhaupt nicht, unser Klischee, das wir von der kolumbianischen Großstadt aus den Medien übernommen haben, zu bestätigen. Vielmehr beschreibt Anjel liebe- und humorvoll das Auf und Ab, das tägliche Chaos im Leben einer jüdischen Großfamilie, die nur einen Traum träumt, nämlich endlich eine Reise ins Gelobte Land, in die Stadt aus Gold, nicht etwa nach New York, sondern nach Jerusalem machen zu können.
Mit der Religion hat diese Familie nicht viel zu schaffen. Doch zum Jahresbeginn, also am Romananfang, heißt es „nächstes Jahr in Jerusalem“. Das Heilige Land steht auch im Mittelpunkt des Denkens und der Sehnsucht dieser sephardischen Familie, und im Glauben an die bevorstehende Erlösung verspürt auch sie den Wunsch, im Heiligen Land den Messias zu erwarten. Der Vater ist ein skurriler Erfinder, dem der Durchbruch zum Erfolg, die Patentierung einer genialen Erfindung, bislang versagt geblieben ist, weshalb die große Reise immer wieder verschoben werden muss. Erzähler ist der halbwüchsige Sohn der Familie, durch dessen erstaunten Blick der Leser Glück und Unglück, Hoffnungen und Enttäuschungen, all die großen und kleinen Katastrophen, Siege und Niederlagen im Alltag seiner etwas verrückten Familie kennen lernt. Für die Skandale sorgt Onkel Chaim, der plötzlich in Kolumbien auftaucht und für allerlei Wirbel in der Familie sorgt, deren ruhender Pol wiederum die Mutter ist. Sie ist es, die die Zügel in der Hand behält, und ihr ist auch es zu verdanken, dass gegen Jahresabschluss, also am Romanende, die Großfamilie doch noch zur langersehnten Reise nach Jerusalem aufbricht. Und natürlich stellt sich in der Stadt aus Gold alles genauso dar, wie man es sich vorgestellt, wie man es unzählige Male am Esstisch besprochen, ausgesponnen und erträumt hatte.
Jorge Franco, Paraíso Travel, Dt. von Susanna Mende, Unionsverlag, Zürich 2005, 288 Seiten, 19,90 Euro
José Guillermo Anjel, Das meschuggene Jahr, Deutsch von Erich Hackl und Peter Schultze-Kraft, Rotpunktverlag, Zürich 2005, 200 Seiten, 19,50 Euro