Von Tricksern im Land der Chefs

Der Film „Experiment Sozialismus“ beginnt dort, wo auch die Guerilla um Fidel Castro und Che Guevara die cubanische Revolution starteten: in einer Holzhütte in der Sierra Maestra. Die Rebellen stürzten schließlich 1959 den Diktator Fulgencio Batista. Die karibische Insel war frei und das Versprechen ein großes: Nach der Kolonisierung durch Spanien und die wirtschaftliche Ausbeutung durch die USA sollten die Cubaner*innen nun endlich wieder in Würde leben können. Doch dann setzte der Kalte Krieg ein. Die Revolution, die sich den Werten des cubanischen Nationalhelden José Martí verpflichtet fühlte und nach einem „radikalen Maß sozialer Gleichheit“ strebte, begann ein wirtschaftliches Experiment unter Einfluss des Gegenspielers der USA, der Sowjetunion.

Der Film „Experiment Sozialismus“ von Jana Kaesdorf will diesen cubanischen Sozialismus ausleuchten, ihn auf die Waagschale legen und ihm ein Gesicht geben. Schaffen soll das der Erzähler Arsenio. Der Exilcubaner, der zum ersten Mal seit seiner Flucht nach Cuba zurückkehrt, verspricht als fiktiver Charakter dem klassischen Dokumentationsformat die Motten auszutreiben. Durch seine Augen sollen wir das heutige Cuba betrachten und dessen bewegte Geschichte kennenlernen, ohne die sich die heutigen Lebensrealitäten kaum erklären lassen. Ein Kniff mit poetischem Anspruch, der leider nicht ganz aufgehen will, denn der Charakter Arsenio bleibt blass: Wir erfahren lediglich, dass er in einem armen bäuerlichem Umfeld leben musste und scheinbar zufällig einer Massenflucht in den 90er-Jahren in die USA folgte.

Die poetische, fiktive Dimension ist nicht die Stärke dieses Films; so wird Arsenio etwa ein Vergleich in den Mund gelegt, der einigermaßen fragwürdig erscheint: Sozialismus und Kapitalismus seien Zwillinge, die lediglich unterschiedliche Hüte tragen. Nun mögen zum Beispiel die monokulturellen Großplantagen in beiden Systemen diesem Vergleich standhalten, doch sie unterscheiden sich grundlegend in ihrer Organisation. Während der Kapitalismus auf einem entfesselten Finanzsystem beruht, das Menschen und Böden als Kapital und Ressourcen betrachtet und für den Profit weniger Großunternehmer gnadenlos ausbeutet, wird im Sozialismus (so wie er in der Sowjetunion und schließlich auch auf Cuba umgesetzt wurde) die Ausbeutung über den Staat organisiert. Auf die Lebensrealitäten der einfachen Bürger*innen bezogen heißt das, egal in welchem der beiden Systeme, wer überleben will, muss tricksen.

Nun sind Systeme und Lebensrealitäten nirgendwo schwarz und weiß, schon gar nicht auf Cuba. So entpuppt sich dann auch nicht die Systemfrage als Fokus des Films, sondern die Dokumentation der cubanischen Lebensrealitäten. Und hier liegt die Stärke von „Experiment Sozialismus“. In der zweiten Hälfte des Films schafft es Jana Kaesdorf bemerkenswert gut, die unterschiedlichen sozialen Realitäten und auseinandergehenden Meinungen der Cubaner*innen einzufangen. Da ist zum einen Manolo, Chef des Komitees zur Verteidigung der Revolution (Comité de Defensa de la Revolución, CDR) in Havanna, der das Klischee des Zigarre rauchenden und Rum trinkenden Cubaners mit weißem Hut verkörpert und dessen Rolle als lokale Organisationseinheit und soziales Überwachungsinstrument des Sozialismus leider verschwiegen wird. Da sind aber auch Ángel und Guillermo, deren Lebensrealitäten unterschiedlicher kaum sein könnten. Ángel ist ein Fischer, der kaum über die Runden kommt, Guillermo ein Koch in Baracoa, der als Privatunternehmer ein Gästehaus aufbauen konnte. Den Lineamientos sei Dank. Diese 2011 beschlossenen sozial- und wirtschaftspolitischen „Leitlinien“ waren die späte Antwort der cubanischen Führung unter Raúl Castro auf den Zusammenbruch der cubanischen Wirtschaft infolge des Falls des Eisernen Vorhangs 1989 und die erneuten Schwierigkeiten nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Während der Westen in den Reformen eine Öffnung hin zur Marktwirtschaft erkennen will, sieht das Cubas Führungsriege allerdings anders: Der Sozialismus soll sich durch die Lineamientos weiterentwickeln. Diese Prämisse nimmt der Film unter die Lupe. Was dabei zutage kommt, ist kaum als Fortschritt zu bezeichnen: Die Lineamientos, so der Eindruck, demontieren weiter das soziale Gefüge Cubas, das schon zuvor die von José Martí postulierte Gleichheit kaum erreicht hatte, und treiben die soziale Schere weiter auseinander. Die für Tourist*innen eingeführte, an den US-Dollar gebundene Parallelwährung CUC (peso cubano convertible), zu der nur Zugang hat, wer im Tourismus tätig ist, beschert etwa dem Koch Guillermo ein recht auskömmliches Einkommen. Gasthäuser wie das von Guillermo, auch Casas Particulares genannt, gelten als Erfolgsgeschichte der cubanischen Wirtschaftsreformen. Doch sie sind auch Symbol für einen ungleichen Zugang zum CUC und stehen somit auch für soziale Spaltung: Der Fischer Ángel muss einen Teil seiner Ware an den Staat abgeben, der Lohn dafür ist gering. Das, was vom Fang übrigbleibt, darf er auf legalem Weg nicht weiterverkaufen. Zugang zum CUC hat er kaum. Für ihn steht fest: „Hier geht es um Beziehungen. Das ist kein Sozialismus. Das ist ein Land der Genossen und Chefs.“ Mit dieser Meinung ist er in Cuba nicht alleine. Schließlich werden alle, die für den Staat arbeiten (als Fischer oder als Lehrer), sehr schlecht bezahlt. Das bedeutet Improvisation, ob legal oder illegal, oder ein Leben in Armut. Cubas Sozialismus der Chefs bleibt ein Experiment mit Nebenwirkungen.