Wer an Haiti denkt, verbindet die Insel selten mit ihren schönsten Geschenken an die Menschheit: die 1791 begonnene Sklav*innenselbstbefreiung und die Ausrufung des ersten unabhängigen Staates in Lateinamerika 1804. Viel schneller schieben sich Bilder von exotischen Trancezeremonien und gruseliger Geisterbeschwörung in den Vordergrund.
Die Literatur ist davon nicht gefeit. Siehe da: Einen „Voodoo-Roman“, ja einen „furiosen Voodoo-Thriller“ nennen Rezensent*innen den 2019 ins Deutsche übersetzten Roman „Der Engel des Patriarchen“ (orig. 2018) der haitianischen Schriftstellerin Kettly Mars (Jahrgang 1958).
Keine Frage: Es ist naheliegend, dass eine der bekanntesten haitianischen Autor*innen der Gegenwart sich auch einmal mit einem Thema beschäftigt, das angeblich zur DNA der Haitianer*innen gehöre und ein plausibler Grund sei für offenbare Fortschrittsresistenz, weswegen das Land nicht aus seinem immer währenden Chaos herausfände.
Kettly Mars und der Mittelschicht, in der sie sich in Haiti bewegt, geht es sicher nicht anders als vielen sozial Gleichgestellten anderswo. Sie kennen Voodoo nicht. Schon gar nicht Vodou. Wer Voodoo und nicht Vodou schreibt, meinte Peter Scheiffele in der ila 388, hängt der massenmedial verbreiteten Vorstellung von exotischen und andersartigen Beherrschten an.
In den Kindheiten, im gehobenen sozialen Milieu von Mars’ Protagonist*innen kam und kommt Vodou, diese Praxis der Armen, nicht vor. Exemplarisch der Künstler und IT-Spezialist Didier Jeanton. Er hat von „Voodoo“ und dessen Praktiken noch nie gehört. In seinen Kreisen geht es um den individuellen Kick, also nimmt er Drogen und nennt sich J-M-B, nach dem haitistämmigen US-Maler und Graffitikünstler Jean-Michel Basquiat. Darüber hinaus ist er wie die meisten Protagonist*innen vor allem Platzhalter für Thesen. Die Dynamik des Romans krankt daran.
Die Hauptgestalten des Romans sind Frauen. Sie sind spiritistisch oder werden es. Und sind feministisch, was nach selbstbestimmt, aber auch sinnlich-erotisch, was nach Klischee klingt. Kettly Mars’ Beschreibung wird da widersprüchlich. Ihre Frauengestalten sind mit eigenem sexuellen Begehren ausgestattete Wesen, vertreten das Recht auf Sex ohne Kinderwunsch und verlangen von Männern, Verantwortung für Kinder zu tragen. Das klingt gut, aber da die handelnden Personen, wie gesagt, Platzhalter für Thesen sind, äußern sie auch schon mal das Gegenteil, um die Bandbreite haitianischen Frauseins darzustellen
Die Frau im Vordergrund, Emmanuela, ist Leiterin einer Bankfiliale und lehnt Voodoo rundheraus als Aberglauben ab. Emmanuelas Mann André kann zwar rational zusammenfassen, was es mit Voodoo als Gegenkultur und ritueller, widerstandsbegründender Praxis seit dem 1791 im Bois Caiman begonnenen Sklav*innenaufstand auf sich hat. Gleichzeitig rät er seiner Frau dringend, sich von Patricia, die auch Voodoo(sic)-Priesterin ist, fernzuhalten. Auch Emmanuelas Cousine Paula, genannt Couz, ist ihm mit ihren Vergangenheitsbeschwörungen und Konversationen mit Erzengeln suspekt. Ebenso ablehnend äußert sich Emmanuelas Sohn Alain. Emmanuelas Liebhaber Serge, ein ehemaliger Handelskammerpräsident, rastet aus, als sie ihm sagt, Couz bringe ihr bei, ein Bündnis mit den Erzengeln zu schließen.
Wie er sind die Männer im Roman allesamt die Vertreter der Rationalität. Keiner glaubt an Übersinnliches. Alle sterben ziemlich bis sehr grausam. Immer sind Schatten, Rauch, Gerüche von angesengten Haaren in der Nähe.
So kommt ein Pakt mit dem Teufel ins Spiel, ein Motiv von Goethes Faust über die Gothic Novel bis zum modernen Spukroman, bei Mars vor Generationen eingegangen, bis heute von den weltweit verstreuten Familienmitgliedern bezahlt. Es wird gruselig. Klappentext: „,Beim Schreiben dieses Romans habe ich selber Angst bekommen‘. So Kettly Mars im Interview mit Le Point.“
Es wird ordentlich Geisterbahn gefahren in dem Buch, mit Teufelsaustreibung, Zombie, Mord an Männern, von bösen Engeln gestellten Fallen und grausigen Unfällen, die keine sind. Ein Thriller, eben, aber kein Voodoo-Thriller. Die Mischung aus Voodoo als individueller esoterischer Reinigung im Schnelldurchgang für die gestresste Bankerin, verbotener fleischlicher Lust und Inzesttabu wird mit dem Erzengel Michael aus der naiv-katholischen Mottenkiste noch wilder. Ob das erlösende Zauberwort am Ende im Allerheiligsten gefunden wird, mag jede*r selbst raten.
Neben der Horrorfilmgeschichte ist die Tücke des Romans seine auktoriale Erzählweise. Eine allwissende Erzählinstanz macht Meinungen einzelner zu moralisch erhärteten Fakten. Das ist so inhaltlich vormodern wie die Erzähltechnik und steht konträr zu emanzipatorischen und insbesondere feministischen Thesen.
Kettly Mars hätte Voodoo augenzwinkernd als kraftspendende Praxis darstellen können, die als Zaubertechnik für Gutbetuchte gerade nicht funktioniert. Doch sie inszeniert eine generationenübergreifende Familienobsession von einer allwissenden Erzählwarte aus humorfrei als tödliche Gefahr und überführt sie in ein Schuld- und Sühne-Drama.
Ganz anders Dany Laferrière, Jahrgang 1953, in einem seiner gerade erst ins Deutsche übersetzten Romane, im Original 2008 in Paris veröffentlicht. Voodoo wird hierin, wie alle Themen, nur gestreift, und zwar strikt subjektiv.
Das Roman-Ich lebt in in Montréal wie Dany Laferrière, der selbst als Journalist vor der Duvalier-Diktatur von Haiti nach Kanada floh. Dort braucht er Geld. Der Autor verdingte sich als Fabrikarbeiter. Sein Roman-Ich ist fauler. Er überzeugt einen Verleger, ihm 5000 Euro für den Roman vorzuschießen, den er gerade schreibt. „Ich bin ein japanischer Schriftsteller“ heißt er. Das macht neugierig, denkt er zu Recht. Und es konterkariert Erwartungen: „Da ich in der Karibik geboren bin, werde ich automatisch zu einem karibischen Schriftsteller. Die Buchhandlung, die Bibliothek und die Universität haben mich sehr rasch so etikettiert. Aber Schriftsteller und aus der Karibik zu sein, machen aus mir nicht unbedingt einen karibischen Schriftsteller. Warum bringen die Leute immer alles durcheinander? Tatsächlich fühle ich mich nicht karibischer als Proust, der sein Leben im Bett verbracht hat“. (S. 18) Da hält sich auch der Erzähler am liebsten auf. Oder der Autor. Die Grenzen sind unmöglich zu ziehen.
Bei Abgabe des Romans bekäme er – der Erzähler – nochmals 5000 Euro. Aber warum nach so einem großartigen Titel noch inhaltlich werden? Das ist nur die erste von vielen vergnüglichen Provokationen, die den lockeren Plot des Buchs zusammenhalten und in einem Rutsch lesen lassen. Klischees werden eins nach dem anderen durch den Kakao gezogen, beginnend mit der Regenbogenpresse – wann welches Sternchen was mit wem hat – bis zum Authentizitätszwang der Literaturwissenschaft. Lieblingsautor des Roman-Ichs ist der Japaner Bascho, der im Mittelalter Haikus schrieb. Diesen zieht er übrigens dem heute viel bekannteren Yukio Mishima (1925–1970) vor, den er für identitär-faschistisch hält. Wer sagt das jetzt? Der Erzähler? Laferrière?
Das japanische Konsulat in Montréal wird auf den Schriftsteller aufmerksam. Es befürchtet, nationalistische Kreise in Japan könnten den schwarzen, des Japanischen nicht mächtigen Autor rassistisch als Rufschädiger angreifen. Die japanische Jugend erhebt ihn derweil zum Popidol. Man will einen Film über ihn drehen, so etwas wie eine Homestory schreiben.
Die Wirkungsmächtigkeit geht dem Fakt voraus. Kult entsteht in den Köpfen.
In dem Feuerwerk von gespielt naiven Einfällen, Anekdoten und Betrachtungen des Erzählers werden indessen locker-flockig die Fragen jedes Schriftstellers verhandelt: Wie baue ich einen Text auf, wie ist das Verhältnis von Zeit und Raum, von Wirklichkeit und Fiktion, von hoher und niederer Literatur, von weiblichen und männlichen Rollen? Frauenfiguren wie aus einem Manga-Comic um die japanische Sängerin Midori bevölkern seine Phantasie und entwickeln ein Eigenleben bis hin zum Selbstmord eines Midori-Fans, was den Erzähler wiederum des Mordes verdächtig macht.
Ist es nun eine Phantasie oder Realität, dass die Frau eines zufällig wiedergetroffenen Jugendfreunds ihn verstohlen zum Rendezvous in ein Hotel einlädt. Wer spielt mit wessen Erwartungshaltung, wenn sie sich dort nur von ihm beschreiben will lassen, wie ihr Ehemann wirklich ist?
Und Björk, der isländische Allroundmusikstar – kann es sein, dass wegen ihr in Montreal eine Ausstellung von Voodoo-Malerei verlängert wird. Weil sie, die als Kind eine Voodoo-Puppe besaß, die Maler kennenlernen will? Laferrière spielt mit dem westlichen Blick auf Vodou und hält das durch: Als die Koffer der heimreisenden Maler am Flughafen durchleuchtet werden, steckt in einem eine Schnitzerei aus Ebenholz: eine kleine Björk. Eine abgedrehte Geschichte, wie der ganze Roman.
Dany Laferrière ist einer der beiden Schriftsteller, die in die Académie française aufgenommen wurden, ohne die französische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Der originelle Schreibstil wie auch die mit Leichtigkeit und humorvoll aufgetischten tiefgründigen Themen des Haitianers mit kanadischem Pass waren wohl der Ausschlag.
„Ein Wunder! Was für ein Wunder!“, soll Christoph Kolumbus begeistert gerufen haben, als er Haiti und dessen „Übermaß an Schönheit“ entdeckte. So auch der Titel des soeben erschienenen ersten Romans von James Noël: „Was für ein Wunder“ (orig. 2019; dt. 2020). Die Nachkommen jenes „Vorfahren der Vereinten Nationen“ haben dann allerdings „insgeheim und gemeinsam mit den Behörden vor Ort aus der Perle der Antillen eine in Scheiße schwimmende Insel (ge)macht“(alle Zitate S. 77). Ein lakonischer Kommentar zur Lage auf der Insel, als kurz nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar 2010 mit 300 000 Toten nepalesische Blauhelme die Not noch verschärften: Sie schleppten Cholerakeime ein.
James Noël, Jahrgang 1978, bis dato einer der wichtigsten jungen Lyriker Haitis, hat seinen ersten Roman just mit einem Ausruf betitelt, der eigentlich etwas unfassbar Schönes bezeichnet, dann aber zum überlebensrettenden Spott der Inselbewohner*innen wurde. Von Katastrophen gebeutelt, nennen sie irgendwann jedes weitere Desaster ein „Wunder“: die beiden Flugzeuge in den New Yorker Zwillingstürmen, Korruption, Kidnapping, ein bei lebendigem Leibe verbranntes Paar. Wie soll man nach der Katastrophe mit 300 000 Toten dem Schlimmen überhaupt noch emotional und sprachlich begegnen? „Kann denn nach einem Erdbeben überhaupt stringent erzählt werden?“, fragt die Übersetzerin Rike Bolte in einem fundierten und informativen Vorwort (S. 10)
Sieben Jahre, länger als andere Schriftsteller*innen der Insel, hat James Noël gewartet, bis er das Unglück und seine Folgen zu einem Text verdichtete. Sieben, wie die magische Zahl, oder hat es schlicht so lange gedauert, weil er, wie der Protagonist Bernard mutmaßt, seinen Kalender verschluderte und seine Orientierung verlor. Dass der Autor die „Verspätung“ überhaupt thematisiert, zeigt dessen Bedeutung.
Er hat einen Text vorgelegt, der es in sich hat. Auch in der Übersetzung, selbst wenn weder alle Wort- und Sprachspiele eins-zu-eins übersetzt noch Referenzen und Konnotationen in der deutschen Sprache und im deutschen Kulturrum aufscheinen, wie Rike Bolte unterstreicht.
Die vielen Miniaturen aus wenigen Zeilen bis wenigen Seiten mit Überschriften in eckigen Klammern wie Provisorien sind wie die Stadt: Elemente einer zerstörten Anlage, Bruchstücke eines ehemaligen Sinnganzen.
Dazwischen die herrlich sarkastische Geschichte über das Wirken der „Kingkong Foundation“, der Stiftung der Clinton-Familie, und der „Kingkong“-Tochter „Shell“, in Wirklichkeit Chelsea Clinton, die – real – das Elend der Insel rücksichtslos für ihre Geschäfte und Ausplünderungen ausnutzten.
Wie im haitianischen Karneval tauchen die Übeltäter nur leicht verfremdet auf und werden beißender Ironie ausgesetzt. So ist der Sänger „Sweet Mimi“ unverkennbar der Sänger Michel Martelly, (haitianischer Präsident 2011-2016) oder ist das Elendsviertel-Väterchen Ex-Präsident Aristide (1990-91, 1994-96, 2000-2004).
Die geheuchelte Anteilnahme der Länder der Welt, die jedes für sich Haitis Katastrophe als die ihre ansehen und das Drama als französisch, portugiesisch oder indisch reklamieren, wird parodistisch auf die Spitze getrieben. Am Ende verschwindet sie in der achselzuckenden Erkenntnis, das Drama sei universell, menschlich, allzu menschlich. Haiti steht wieder allein.
Doch nein: Es wird von Vögeln, Raubvögeln, heimgesucht, die auf dem Flugplatz Toussaint Louverture landen: NRO, Nichtregierungsorganisationen, die Armada von „Wiederaufbauhelfer*innen“, die viel „Himmelsbrot“ bringen, um noch mehr davon wieder aus der Insel fortzutragen und Haiti noch ärmer zurücklassen. Und die wiederkehren werden, da nicht einmal ganz sieben Jahre später der Orkan Matthew den Süden der Insel (tatsächlich Ende 2016!) verwüstete – was für ein Wunder, sagen die Haitianer*innen.
Immer mal wieder führt Bernard Zwiegespräch mit Papa Loko, dem Windgeist des Voodoo. Es sei doch seine Aufgabe, Haiti zu warnen und zu beschützen, hadert er mit ihm.
Doch Bernard hat auch Glück im unablässigen Unglück. Verschüttet im Geröll, lernte er beim Erdbeben die italienische NRO-Frau Amore kennenlernt. Sieben Jahre sind sie seither zusammen. Amore, eine starke Frau, mit der er Rom besucht und viel Sex hat, dazu am Buchende ein Land „kurz vor dem Sieg“, „frischer Wind“, „ein neuer Traum“ (S. 107) – ist das nicht doch wieder Kitsch und Klischee? Aber wie soll Haiti überleben, wenn es nicht immer wieder „Was für ein Wunder“ sagt?