In der ersten Dekade dieses Jahrhunderts hatten sich in vielen Ländern Lateinamerikas fortschrittliche Regierungen demokratisch etabliert. Hugo Chávez in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador, Lula in Brasilien, Fernando Lugo in Paraguay, die Kirchners in Argentinien, Evo Morales in Bolivien sowie die linken Präsidenten Tabaré Vázquez und Pepe Mujica in Uruguay bildeten einen Block, der die hegemonialen Ansprüche der USA nicht mehr ohne Weiteres akzeptierte. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war das gemeinsame Nein zur ALCA-Integration (eine Freihandelszone für den gesamten amerikanischen Kontinent, die von den USA gelenkt werden sollte) im Jahre 2005 während eines Gipfeltreffens in Mar del Plata, Argentinien. Damals war der große Bruder im Norden mit seinen Kriegseinsätzen in Afghanistan und im Irak beschäftigt und hatte weder Zeit noch Mittel, sich um die „richtige Ordnung“ im Hinterhof („our own backyard“, so wird Lateinamerika in den USA bezeichnet) zu kümmern.
Aber wenige Jahre danach änderten sich die Verhältnisse. Zum Einsatz kam jetzt „lawfare“ (Krieg mit juristischen Mitteln), eine Kombination verschiedener Instrumente. Die USA legten fest, dass Korruption in den Ländern Lateinamerikas eine ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA bedeuten würde. Darunter versteht man nicht nur die Geldwäsche oder Bereicherung im Amt, sondern auch Widerstände gegen Forderungen des US-Militärs oder die Aufnahme enger diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zu der anderen Hegemonialmacht, der VR China.
So wie früher in der berühmt-berüchtigten „School of the Americas“ in der Panama-Kanal-Zone und später im Fort Benning in Georgia/USA Mitglieder der lateinamerikanischen Streit- und Sicherheitskräfte für die Aufstandsbekämpfung ausgebildet worden sind, werden neuerdings lateinamerikanische Richter*innen und Staatsanwält*innen zu Fortbildungen und informativen Rundreisen in die USA eingeladen. Zurück vor Ort setzen sie die Ziele der US-Politik um. Für Washington unliebsame Politiker*innen, besonders wenn sie an der Regierung sind, werden unter Generalverdacht gestellt. Das juristische Vorgehen gegen sie wird von den meist konservativen Massenmedien begleitet und unterstützt (im argentinischen Fall geht es soweit, dass diese Medien richterliche Entscheidungen im Wortlaut veröffentlichten, Wochen bevor sie amtlich waren). Logischerweise wird diese Verfolgung durch die politisch konservativen Kräfte in den Ländern Lateinamerikas, die für eine hundertprozentige Unterstützung der US-Außenpolitik plädieren, unterstützt.
Das bisher krasseste Beispiel für „lawfare“ in Lateinamerika war der Prozess gegen Lula da Silva, von 2003 bis 2010 Präsident Brasiliens. Lula sollte 2018 als Kandidat der Arbeiterpartei PT gegen Jair Bolsonaro, den Kandidaten der Rechten und extremen Rechten, antreten. Doch seine Kandidatur sollte verhindert werden. Staatsanwalt Deltan Dallagnol und Richter Sergio Moro eröffneten ein Verfahren gegen ihn. (vgl. ila 458) Lula wurde vorgeworfen, ein Appartement in einem Badeort erhalten zu haben, als Gegenleistung für Aufträge der damals staatlichen Erdölgesellschaft Petrobras. Obwohl Lula beweisen konnte, dass er nie dort gewesen war und es auch nicht sein Eigentum war, verurteilte Moro ihn zu einer Haftstrafe. In der Urteilsbegründung schrieb Moro, dass er zwar keine Beweise für Lulas Schuld habe, aber er hätte die „innige Gewissheit“ für Lulas Verantwortung. Lula musste in Haft, konnte nicht bei den Wahlen antreten, Bolsonaro wurde Präsident. Moro diente von Anfang 2019 bis April 2020 Bolsonaro als Justizminister. Inzwischen sind die Urteile aufgehoben, und Lula gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr. Gegen Moro und Dallagnol laufen Verfahren wegen Amtsmissbrauch.
Mitunter treten US-Politiker*innen auch direkt in der „lawfare“-Politik in Erscheinung. So schrieb der US-Senator Ted Cruz am 25. August 2022 einen öffentlichen Brief an das US-State-Department und forderte es auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um eine Verurteilung von Cristina Fernández de Kirchner zu garantieren, denn „die Angeklagte betreibt seit Jahrzehnten die Aushöhlung des Rechtsstaates, setzt die argentinische Institutionalität unter Druck und unterwandert die US-Interessen in dem Land sowie in der gesamten Region“.(Página 12, Buenos Aires, 27.08.22). Doch normalerweise hängt sich die US-Außenpolitik in ihrer „lawfare“-Politik nicht so weit aus dem Fenster wie der Erzkonservative Ted Cruz und überlässt das Vorgehen „unabhängigen“ Jurist*innen in den jeweiligen Ländern.
In der ersten Woche nach seinem Amtsantritt im Dezember 2015 hatte der damals neugewählte konservative argentinische Präsident Mauricio Macri (MM) zwei neue Richter für das Oberste Gericht per Dekret ernennen wollen. Die Auserwählten, Horacio Rosatti und Carlos Rosenkrantz, nahmen ihre Ernennung an, obwohl Macri alle gesetzlichen Bestimmungen zur Besetzung des Obersten Gerichtes umgangen hatte. Drei Monate später und nach einem legalen Verfahren und der Zustimmung der peronistischen Opposition im Senat (krasser politischer Fehler, wie sich später herausstellen sollte) übernahmen Rosatti und Rosenkrantz ihre Ämter.
Fast alle Mitglieder der vorherigen Regierung von Néstor und Cristina Fernández de Kirchner wurden danach mit Anklagen überhäuft. Diese juristischen Schritte gegen die Opposition wurden von einem quasi-offiziellen Amt, „la Mesa Judicial“ (Der juristische Tisch), koordiniert. Die „Mesa“ traf sich dienstags alle zwei Wochen, und ihren Kern bildeten Pablo Clusellas (Staatssekretär für Rechts-und Technikfragen des Präsidialamtes von MM), José Torello (Chef des Beraterstabes und persönlicher Freund aus Schultagen von MM) und Fabián Rodríguez Simón, genannt „Pepín“ (früherer Schulkamerad von MM, ohne Regierungsämter, aber als juristischer Kopf der MM-Regierung angesehen). Zu diesem festen Kern gesellten sich Germán Garavano (Justizminister der Regierung MM), Daniel Angelici (Nachfolger von MM als Präsident des Fußballvereins Boca Juniors, ein in Argentinien durchaus politisches Amt), Santiago Otamendi (Staatssekretär für Justiz), Bernardo Saravia Frías (Finanzstaatsanwalt und früherer Rechtsanwalt der Macri-Unternehmensgruppe) und Juan Bautista Mahiques (Vertreter der Regierung beim Justizrat, der die Tätigkeit der Richter überwacht).
Das erste Opfer dieser neuen „Justiz“ war der frühere Wirtschaftsminister und Vizepräsident Amado Bodou. Angeklagt wurde er wegen Vorteilsnahme im Amt zu Gunsten einer Druckerei, die Aufträge für die argentinische Notenbank erledigte. Bodou wurde von seinem Wohnsitz im Schlafanzug gefesselt abgeführt und den Fernsehkameras (die logischerweise über die Verhaftung im Voraus informiert waren) vorgeführt. Das wirkliche „Verbrechen“, das Bodou während seiner Amtszeit als Vorstand der Nationalen Rentenbehörde (ANSES) 2008 begangen hatte, war die Renationalisierung des Rentensystems, das in den 90er-Jahren während der Menem-Regierung privatisiert worden war, was zu einer rapiden Zunahme der Altersarmut geführt hatte. Nach zwei Jahren U-Haft wurde Bodou verurteilt, und zwar aufgrund der Aussage eines Kronzeugen, der dafür die notwendigen Finanzmittel vom Staat erhalten hat, um ein Boutique-Hotel in Mendoza zu eröffnen.
Das Verbleiben von Bodou in U-Haft (wie vieler anderer Funktionär*innen der Regierungen von Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner) wurde durch ein Urteil des Kassationsrichters Martín Irurzun begründet. Die ehemaligen Regierungsfunktionär*innen würden immer noch über eine „verbleibende Macht“ über den Staatsapparat verfügen und müssten deswegen bis zu ihren Prozessen inhaftiert bleiben. Die meisten dieser Funktionär*innen wurden in der Haftanstalt Ezeiza untergebracht, wo ihre Zellen sowie die Räume für Gespräche mit ihren Rechtsanwält*innen regelmäßig abgehört wurden.
Während der Verhaftungswelle hat die „Mesa Judicial“ dafür gesorgt, dass möglicherweise kritische Staatsanwält*innen und Richter*innen aus ihren Ämtern entfernt wurden. Richter Freiler musste gehen, weil er in der Zeit, als Macri Bürgermeister von Buenos Aires war und einen neuen Leiter für die Stadtpolizei suchte, einen Prozess gegen dessen Wunschkandidaten wegen des illegalen Abhörens einer politischen Gruppe zugelassen hatte. Bundesstaatsanwältin Gils Carbo musste gehen, weil sie dem Kirchnerismus anscheinend zu nahe stand. Davor wurden sie und ihre Familie durch eine Schmutzkampagne der Medien angegriffen. Die Kassationsrichter Eduardo Farah und Jorge Ballestero mussten ihre Stühle räumen, weil sie einen politischen Gegner von MM aus der U-Haft entlassen hatten (MM-Kommentar: „Das war so nicht abgesprochen“).
Mehrere so frei gewordene Stellen am Bundeskassationsgericht wurden mit Freund*innen von MM besetzt. Diese Richter*innen wahrten nicht mal den Anschein der Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive. Drei von ihnen spielten regelmäßig Paddle oder Tennis mit dem damaligen argentinischen Präsidenten.
Gegen die frühere Präsidentin und derzeitige Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (im Folgenden CFK) wurden mehr als ein Dutzend Anklagen eingereicht. Die Bandbreite der ihr vorgeworfenen Taten reicht von Bereicherung im Amt bis Staatsverrat. Der verstorbene Richter Claudio Bonadio hat CFK an einem Tag zu acht unterschiedlichen Anklagen vernommen. Auch wenn die meisten Fälle danach eingestellt wurden, bewirkten die Mitwirkung der Justiz und die entsprechenden Kampagnen der Massenmedien eine Welle der moralischen Empörung und trugen dazu bei, die angeprangerte Person zu stigmatisieren mit dem Ziel, sie politisch zu vernichten.
In einem der Prozesse, dessen Plädoyers in diesem August anstanden, geht es um die Auftragsvergabe für Straßenbau während der Amtszeit von Néstor und Cristina Kirchner. Fünf von über 50 Bauvorhaben wurden untersucht (zufälligerweise alle in der Provinz Santa Cruz, Heimat der Kirchners), obwohl eine Rechnungsprüfung durch die nationale Straßenbaubehörde während der Amtszeit von MM ergab, dass es keine Unregelmäßigkeiten gab. Seit März 2018, also seit mehr als vier Jahren, läuft dieser Prozess bereits, und während dieser Zeit konnte die Staatsanwaltschaft keine Beweise für CFK-Beteiligung an irgendwelchen Korruptionsmachenschaften vorlegen. Auch die Zeugen der Staatsanwaltschaft sagten aus, dass es keine Unregelmäßigkeiten gab. Alle Bauvorhaben waren vom Kongress beschlossen und ordentlich in den Haushalt aufgenommen worden. Laut Staatsordnung überwacht der Kabinettschef die Umsetzung des Budgets, und keiner der sieben unter den beiden Kirchners amtierenden Chefs wurde angeklagt. Die Mittel werden stets von der Nationalregierung an die Provinzregierungen überwiesen, und diese vergaben und kontrollierten in den besagten Fällen die Bauaufträge.
Trotzdem hat der Staatsanwalt Luciani CFK wegen der Führung einer illegalen Vereinigung angeklagt mit der Begründung, dass es Teil des „gesunden Menschenverstandes“ sei, dass sie Einfluss auf diese Bauvorhaben genommen hatte.
Für den 22. August 2022 war das Plädoyer des Staatsanwalts terminiert. Besorgt über den Mangel an Beweisen nutzte Luciani vor dem Plädoyer die „kreative Strafprozessordnung“ und reichte eine Reihe von Dokumenten und Abhörprotokollen aus anderen Prozessen gegen CFK ein. Als die Rechtsanwälte von CFK Einspruch dagegen einlegten und eine erneute Aussage ihrer Mandantin verlangten, wurde das verweigert.
Luciani forderte zwölf Jahre Haft für CFK und das Verbot auf Lebenszeit, öffentliche Ämter zu bekleiden. Da CFK sich nicht vor Gericht verteidigen konnte, benutzte sie die sozialen Medien, um Stellung zu nehmen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Staatsanwalt Luciani und einer der Richter in diesem Fall, Rodrigo Giménez Uriburu, Mitglieder der Amateur-Fußballmannschaft „Liverpool“ sind. Diese Mannschaft spielt regelmäßig Fußball in Los Abrojos, Wochenenddomizil des früheren Präsidenten MM. In normalen Ländern würden beide Juristen wegen des Verdachts auf Befangenheit diesen Fall nicht mehr verhandeln.
Anders als bei Lula in Brasilien reagierten die Anhänger*innen von CFK schnell gegen das Vorgehen der Justiz. Einerseits gab es Solidaritätskundgebungen in zahlreichen Orten des Landes, andererseits belagerten sie in den letzten Wochen die Umgebung ihres Wohnsitzes in Buenos Aires im Viertel Recoleta. Alle politischen Gruppen links von der Mitte in Argentinien und Südamerika gaben ihre Unterstützung für CFK bekannt. Die Stadtpolizei von Buenos Aires, unter dem Befehl des konservativen Gouverneurs Horacio Rodríguez Larreta, versuchte, die Straßen um den Wohnsitz der Vizepräsidentin weiträumig zu blockieren. Dieser Versuch führte zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Sicherheitskräften, die letztendlich die Straßensperren aufhoben. Das soziale Klima wurde durch Fernsehübertragungen aus Recoleta angestachelt, und die Aufrufe zur Gewalt gegen CFK wurden immer offener. Der oppositionelle Abgeordnete Francisco Sánchez von der rechten Partei Propuesta Republicana (PRO) forderte sogar die Todesstrafe für CFK. Ricardo López Murphy, ehemaliger neoliberaler Wirtschaftsminister unter Präsident de la Rua und gern gesehener Gast bei Veranstaltungen der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung (schon wieder die, wir erinnern uns an deren Rolle in Honduras und Peru, vgl. ila 453 – die Red.) in Buenos Aires, brachte es auf dem Punkt: „Es geht um sie oder wir“.
Durch die Kampagne von Justiz, Massenmedien und der konservativen Opposition entstand ein enorm aggressives Klima. Die amtierende Vizepräsidentin wurde als gefährliche Kriminelle stigmatisiert, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand berufen fühlte, den vermeintlichen „Volkswillen“ zu exekutieren. In diesem Klima wurde eine kleine Gruppe am Abend des 1. September 2022 aktiv. Zweimal wurde versucht, aus nächster Nähe auf Cristina Fernández de Kirchner zu schießen. Die Waffe war schussfähig, man geht davon aus, dass der unerfahrene Täter, ein in Brasilien geborener Argentinier mit rechtsextremem Hintergrund, vergessen hatte, die Waffe zu laden. Zum Zeitpunkt der Abgabe dieses Beitrages wird der Fall untersucht, mehrere Personen sind verhaftet worden, gesucht werden die Hintermänner. José Mujica, der ehemalige uruguayische Präsident, kommentierte den versuchten Mord folgendermaßen: „Wäre der Schuss losgegangen, dann wären Buenos Aires und ganz Argentinien auf dem Kopf gestellt worden.“