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Was bleibt von den Protesten?

Kolumbien nach Monaten politischer Auseinandersetzungen

Die Proteste kamen keinesfalls so überraschend, wie manche Medien meinten. Zentrale Ursachen sind die strukturellen Entwicklungsprobleme des Landes. Bereits unter dem letzten Präsidenten Santos (2010-2018) gab es vermehrte Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit. Noch kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie wurde die Regierung von Iván Duque Ende 2019 von massiven Protesten in die Enge getrieben und reagierte mit Ausgangssperren. (vgl. den Beitrag „Zehn Jahre junger Protest in Kolumbien“ in dieser ila). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren ein willkommenes Mittel, um den Protest zu beenden. Diese trugen jedoch auch zur weiteren Zuspitzung der Protestursachen bei. Bildlich gesprochen wurde das Feuer unter dem sozialen Dampfkessel angeheizt, während gleichzeitig in der Pandemie ein Ventil zur Artikulation des Protestes fehlte. Die soziale Explosion war dann nur eine Frage der Zeit.

Der unmittelbare Anlass für die heftigen Proteste war die Ankündigung einer Steuerreform, die die leeren Staatskassen füllen sollte und hierfür vor allem die (untere) Mittelschicht belastet hätte. Doch schnell wurde deutlich, dass sich die Proteste nicht alleine gegen dieses Reformprojekt richteten, denn die Rücknahme der Reform konnte die Proteste ebenso wenig eindämmen wie der Rücktritt des Finanzministers. Im Zentrum der Proteste standen insbesondere soziale Forderungen. Dies kann kaum überraschen: Kolumbien ist eines der ungleichsten Länder der Welt. Sozial benachteiligte Gruppen wurden von den Auswirkungen der Pandemie überproportional hart getroffen, und die Politiken zur Abfederung der Krise waren und sind bei weitem nicht ausreichend. In der Konsequenz nahmen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit im Jahr 2020 in Kolumbien deutlich zu. Die sozialen Härten der Pandemie trafen die Menschen in den Armenvierteln, aber auch aus der unteren Mittelschicht.

Obwohl angesichts dieser Situation soziale Proteste wahrscheinlich waren, hatte dennoch kaum jemand mit derart massiven Reaktionen der Straße gerechnet. Dies liegt auch darin begründet, dass im Kontext der Proteste neue, vormals wenig beachtete Akteure sich lautstark und oft militant auf die politische Bühne des Landes gekämpft haben. Vormals weitgehend ausgegrenzte Jugendliche aus den urbanen Marginalvierteln der Großstädte prägten die Proteste und verwandelten sich fast über Nacht in die zentralen Taktgeber des politischen Geschehens. Die plötzliche Explosion der tickenden sozialen Zeitbombe überraschte nicht nur die Politik und die streikerfahrenen Gewerkschaften, sondern auch sämtliche politische Beobachter*innen.

Überraschend war nicht nur die Breite der Proteste, die praktisch das ganze Land erfassten, sondern auch der lange Atem der Protestierenden. Zudem waren die Protestformen sehr vielfältig: Bunt, kreativ, queer, entschlossen und teilweise auch gewaltsam. Die Militanz der Protestformen (u.a. wochenlange Straßensperren, Sturz von Statuen, Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel und Polizist*innen) steht dabei in einem erstaunlichen Kontrast zu den moderaten inhaltlichen Forderungen. In erster Linie geht es den Protestierenden um die Einhaltung ohnehin verbriefter sozialer Rechte in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit und damit um Perspektiven für die junge Generation sowie einen Sozialstaat, der diesen Namen verdient. Gerade in den Armenvierteln werden Forderungen nach einer grundlegenden Infrastruktur und der Möglichkeit einer Zukunft in Würde gestellt. Weitere Themen betreffen die Forderung nach der Implementierung des Friedensprozesses, bessere Lebensbedingungen auf dem Land, das Ende der Gewalt gegen soziale Aktivist*innen sowie die Ablehnung der Pläne zur Wiederaufnahme von Besprühungen von Kokafeldern mit dem Herbizid Glyphosat.

Die Regierung reagierte auf diese Selbstverständlichkeiten mit einem Amalgam aus Repression, Diffamierungen, Unverständnis und kleineren Zugeständnissen für Teilgruppen. Derweil kippte Ex-Präsident Uribe fleißig Öl ins Feuer, indem er die Protestierenden als vandalische Terroristen bezeichnete und mit Theorien des chilenischen Faschisten Alexis López hausierte, um die alte Rhetorik des Kampfes der heroischen Sicherheitskräfte gegen eine angeblich kurz bevorstehende kommunistische Machtübernahme zu bemühen. Es blieb nicht bei Worten: Exzessive Polizeigewalt und Personen in Zivil, die mit Schusswaffen auf die Protestierenden schossen, wurden bald zum Alltag und allgegenwärtigen Zeugnis des Versagens der Politik und ließen das ohnehin schwache Vertrauen der kolumbianischen Bevölkerung in die staatlichen Institutionen weiter erodieren, während gleichzeitig die Kriminalisierung und Stigmatisierung der Proteste diese weiter anheizte und radikalisierte. Das dilettantische Krisenmanagement der Regierung könnte als anekdotische Randnotiz abgeheftet werden, wäre nicht der enorme Blutzoll schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen durch die unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitskräfte. Je nach Angaben kamen bis Ende Juni 2021 mindestens 20 Menschen durch Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte (Polizei, Spezialeinheiten und Militär) um. Wahrscheinlich liegt die Zahl jedoch höher, und es ist zu befürchten, dass bis zu 60 Menschen im Kontext der Proteste ums Leben gekommen sind. Hinzu kommen Verschwundene, viele Schwerverletzte und unzählige Berichte über Polizeigewalt. Hierzu gehören auch der Gebrauch scharfer Munition sowie Fälle sexualisierter Gewalt. Die Hashtags #SOSColombia und #Nosestánmatando drücken die Verzweiflung der Menschen auf den Straßen angesichts der massiven Gewalt gegen die Proteste aus und richten sich schon längst nicht mehr an die Regierung oder die nationalen Medien. Adressiert wurden internationale Organisationen, Menschenrechtsorganisationen sowie Medien wie CNN.

Seit Mitte Juni büßten die Proteste deutlich an Intensität ein: Bei vielen der Protestierenden hat sich Erschöpfung breit gemacht. Gerade die Blockaden, die weite Teile des Landes lahmlegten, verloren bald an Unterstützung Die massiven Proteste haben große Aufmerksamkeit hervorgerufen, die Hoffnungen der Protestierenden auf eine Zeitenwende erfüllten sich jedoch nicht. Die Repression und die Gewalt bewaffneter Zivilisten gegen die Protestierenden hat Wut, aber auch Angst geschürt. Vielfach wich die Euphorie der Barrikaden bald wachsender Frustration. Zudem kam es teilweise zu Unstimmigkeiten zwischen den Protestierenden. Dennoch sind die Proteste mehr Gegenwart als Vergangenheit. Die Konfliktursachen bestehen fort, und ein Wiederaufflammen der Proteste in den kommenden Monaten ist wahrscheinlich – nicht zuletzt auf Grund der Politisierung vieler Demonstrant*innen während der Aktionen. Gleichwohl ist vollkommen offen, wie sich die Protagonist*innen der Proteste in der Zukunft politisch betätigen werden. Eine zentrale Frage ist dabei, ob sie bei den Wahlen kommendes Jahr trotz der verbreiteten Skepsis gegenüber den politischen Institutionen ihre Stimme abgeben oder gar bestimmte Kandidat*innen unterstützen werden. Zudem gilt es zu beachten, dass die Politisierungs- und Organisationsprozesse im Umfeld des paro nacional bei weitem nicht konflikt- oder gar widerspruchsfrei verliefen. Dies liegt auch an der heterogenen Trägerschaft der Proteste, die in vielen Berichten eher eingeebnet wurden. Einerseits lassen sie sich – trotz der breiten Beteiligung junger Menschen – nicht auf eine Jugendrevolte reduzieren, und andererseits müssen die Unterschiede der Forderungen, Politik­formen und Lebensbedingungen innerhalb der jugendlichen Protestierenden ebenfalls reflektiert werden.

Verschiedene internationale Beobachter*innen fokussierten sich auf die Jugend als Trägerin der Proteste. So schrieb beispielsweise die FAZ (2021) im Mai: „Wütende Jugend trifft auf repressive Polizei“. Auch der kolumbianische Präsident Iván Duque wollte die Proteste mit einem „Pakt für die Jugend“ einhegen. Zweifellos beteiligten sich vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an den Aktionen auf der Straße, und die Protagonist*innen der Primera Línea sind nicht nur besonders militant, sondern auch sehr jung. Dass vor allem junge Menschen in Kolumbien auf die Straße gehen, ist jedoch per se nicht neu und kann angesichts der Bevölkerungsstruktur des Landes kaum verwundern. Doch vor allem läuft die Fokussierung auf die Jugendlichen Gefahr, in Vereinfachungen zu verfallen. Schließlich waren die Proteste vor allem eines: ausgesprochen heterogen.

Viele der Protestierenden kommen aus den urbanen Armenvierteln und sind in der Vergangenheit meist nicht in politischen Prozessen oder sozialen Bewegungen aktiv gewesen. Neben ihnen sind Studierende und junge Berufstätige (auch bis weit in die Mittelschicht) aktiv. Weiterhin beteiligen sich Gewerkschafter*innen, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften, Kleinbauern und -bäuerinnen, Feminist*innen und Queers an den Mobilisierungen. Das führte zu sehr heterogenen Aktionsformen. Die Vielfältigkeit der Trägergruppen spiegelt sich auch im breiten Panorama der artikulierten Forderungen wider: Hierzu zählen: die Einforderung grundlegender sozialer Rechte (Bildung, Gesundheit, Arbeit) und von Zukunftsperspektiven für ein Leben in Würde, die Anklage von Korruption, Klientelismus und der fortwährenden Gewalt gegen soziale Aktivist*innen. Die repressive Beantwortung der Proteste durch die Sicherheitskräfte wirkt zudem als Brandbeschleuniger, verlieh dies doch Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Sicherheitssektors zusätzlichen Auftrieb. Schließlich fällt auch die schleppende Implementierung des 2016 geschlossenen Friedensvertrags mit der ehemaligen Guerrilla der FARC-EP unter die Kritik der Protestierenden. Gemeinsam ist den Forderungen der Aufschrei: Es reicht!

Die verschiedenen Gruppen waren sich einig in der Ablehnung der Regierungspolitik, Forderungen nach Gerechtigkeit und der Ablehnung der Polizeigewalt. Gleichzeitig lag in der Heterogenität auch erhebliches Potenzial für politische Spannungen. So wollten die erfahrenen Mitglieder des Streikkomitees (Comité de Paro) angesichts der Pandemie den Streik bereits zum 1. Mai in den virtuellen Raum verlagern und wurden von der Straße schlicht ignoriert. Verschiedene Vertreter*innen oppositioneller Parteien boten sich als Vermittler*innen an und erlitten Schiffbruch. Einige Gruppen wollten die Protestbewegung auch mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr politisch einbinden und stärker organisieren, während andere Gruppen sämtlichen etablierten Politiker*innen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen und Hierarchien zurückweisen.

Im Zentrum der Proteste standen zweifellos soziale Forderungen. Der Friedensprozess war auf den ersten Blick allenfalls ein untergeordnetes Thema der Mobilisierungen. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Proteste auf zwei Weisen eng mit den ebenso offensichtlichen, wie wenig diskutierten Problemen des kolumbianischen Friedensprozesses verbunden sind.

Erstens begegnet der Friedensprozess weder den extremen sozialen Ungleichheiten, noch den Ungleichheiten im Landbesitz oder dem Mangel an sozialer Aufwärtsmobilität in adäquater Form. Diese strukturellen Konfliktursachen wurden entweder im Friedensabkommen nicht ausreichend adressiert oder werden – wie im Falle der Reform der ländlichen Entwicklung – bestenfalls im Schneckentempo bearbeitet. Zweitens hat der Friedensprozess zwar nicht das Land, wohl aber die großen Städte jenseits der Marginalviertel und die Fincas der Wohlhabenden befriedet. Pointiert ausgedrückt liest sich eine vorläufige Bilanz des Friedensprozess wie eine Umkehrung von Georg Büchners Forderung aus dem Vormärz: Friede den Palästen, Krieg den Hütten! Denn gerade privilegierte soziale Gruppen konnten vom Friedensprozess etwa durch neue Entwicklungspotenziale profitieren. Eine Infragestellung ihrer Privilegien brauchen die Eliten nicht befürchten.

Ein großer Teil der historisch marginalisierten Bevölkerung wartet hingegen bisher vergeblich auf die Materialisierung einer Friedensdividende. Insbesondere in den durch historische Marginalisierung geprägten Regionen der kolumbianischen Peripherie – etwa an der Pazifikküste, im Norden des Landes, an der Grenze zu Venezuela oder in Teilen des Amazonasgebietes –, aber auch in vielen Armenvierteln der großen Städte erscheint der Frieden in weiter Ferne. Mehr noch: Nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes mit der FARC-EP 2016 stießen andere alte und neue Gewaltakteure in das Machtvakuum. Heute liefern sich verschiedene bewaffnete Gruppen Machtkämpfe in der kolumbianischen Peripherie. Dabei geht es auch um die Kontrolle des florierenden Drogengeschäfts einschließlich der Transportwege in Kolumbien. Die vielen Morde an sozialen Aktivist*innen, Umweltschützer*innen und ehemaligen FARC-Kämpfer*innen zeigen, dass in weiten Teilen des peripheren und marginalisierten Kolumbiens kaum von Frieden gesprochen werden kann. Gleichzeitig kann die Aussicht auf symbolische Reparationen der wachsenden materiellen Not von vielen der über neun Millionen Opfer des bewaffneten Konfliktes nicht adäquat begegnen.

Eine konstruktive Bearbeitung dieser Multikrise erfordert einen Paradigmenwechsel. Kriminalisierung und Repression müssen durch Dialog und konstruktive Lösungsvorschläge ersetzt werden. Der Schlüssel liegt in der Implementierung des Friedensvertrags sowie in der Bearbeitung der sozialen Frage.

Ersteres betrifft vor allem die Umsetzung der Reform der ländlichen Entwicklung, einschließlich der Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Kolumbien, den effektiven Schutz sozialer Aktivist*innen sowie vermehrte Anstrengungen zur Substitution des Anbaus illegaler Drogen durch legale Alternativen. Dennoch muss klar sein, dass der Friedensvertrag alleine ein allzu stumpfes Schwert für die Bearbeitung der immensen Herausforderungen Kolumbiens ist. Die zunehmende Gewalt im Land kann nur durch eine Kombination aus Gesprächen mit verhandlungsbereiten bewaffneten Gruppen und einem Paradigmenwechsel in der internationalen Drogenpolitik mit dem Ziel der Reduzierung der unermesslichen Gewinnmargen bekämpft werden. Ergänzend ist eine Reform des kolumbianischen Sicherheitsapparats mit dem Ziel der Professionalisierung und der Stärkung von Deeskalationsstrategien der Polizei unabdingbar. Doch vor allem braucht es einen Wandel der Perspektive: Gerade das politische Führungspersonal scheint die Protestierenden bisweilen nicht als engagierte Bürger*innen, sondern als inneren Feind wahrzunehmen.

Gleichzeitig gilt es, zweitens, die soziale Frage verstärkt ins Zentrum zu rücken. Die sozialen Ungleichheiten in Kolumbien sind bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Landbesitz jeweils extrem. Hinzu kommt, dass es kaum Möglichkeiten der sozialen Aufwärtsmobilität gibt. Die strukturellen Ungerechtigkeiten haben sich in der Pandemie noch weiter verschärft. Die sozialen Härten trafen die Armen und die untere Mittelschicht. Dem gilt es entgegenzusteuern, beispielsweise indem die Belastungen auf die „starken Schultern“ der Gesellschaft konzentriert werden: Lateinamerikanische Eliten werden traditionell kaum über Steuern in die gesellschaftliche Pflicht genommen. Kolumbien ist hier keine Ausnahme. Diese Tatsache wird mittlerweile auch von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF als Problem erkannt. Die massiven Proteste haben der Regierung gezeigt, dass es nunmehr an der Zeit ist, den berechtigten Forderungen nach Umsetzung sozialer Rechte und damit der Finanzierung von Perspektiven durch eine Steuerreform, die endlich die privilegierten Teile der Bevölkerung angemessen einbezieht, nachzukommen .

Die Menschen auf der Straße fordern lautstark drängende Reformen für eine nachhaltige und friedliche Zukunft und ein Leben in Würde ein. Es bleibt abzuwarten, ob die kolumbianische Politik diese Stimmen hört und die Weichen in Richtung auf eine bessere Zukunft stellt. Tut sie es nicht, werden die nächsten massiven Mobilisierungen nicht lange auf sich warten lassen.