Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache

Die Auseinandersetzung um die deutsche Erinnerungskultur ist ein dynamisches Feld, auf dem regelmäßig Auseinandersetzungen über die Deutung der Geschichte ausgetragen werden. Dabei dreht sich die Debatte oftmals um die Frage, welchen Stellenwert die Holocaust-Erinnerung beziehungsweise die NS-Verbrechen für das historische Selbstbild Deutschlands hat oder haben soll. Mehrere Historikerstreite und die Präsenz dieser Themen in der Geschichtskultur zeugen vom Gewicht und der Virulenz der Debatten. So lassen sich immer wieder erinnerungskulturelle Versuche beobachten, die neben der Darstellung und Dokumentation der mörderischen Versuche, jüdisches Leben auszulöschen, eine aktive erinnerungskulturelle Anerkennung vorantreiben sowie jüdisches Leben und dessen Einflüsse in der deutschen Geschichte präsent werden lassen. Die Kampagne „Gemeinsame Geschichte(n) – deutsch-jüdische Lebenswege“ stellte im Jahr 2021 das jüdische Leben in Deutschland in seiner historischen Dimension in den Mittelpunkt. Anlass war die Tatsache, dass vor 1700 Jahren erstmalig ein Jude urkundlich auf deutschem Gebiet erwähnt wurde, nämlich im damaligen römischen Köln. Diese Kampagne war von dem Verein „321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ koordiniert worden. Der Wille, diese reiche kulturelle Symbiose zu zeigen und die Integration der jüdischen Kultur in die deutsche Kultur öffentlich anzuerkennen, ist angesichts der deutschen Verbrechensgeschichte und des tragischen kulturellen Verlusts mit Sicherheit ein positives Zeichen. Nicht zuletzt, weil die Idee, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten und bis heute konstitutiver Bestandteil deutscher Geschichte und Gesellschaft ist, keineswegs Common Sense ist in den deutschen Selbstbildern beziehungsweise den Selbstbildern der deutschen Nation. Trotz der inspirierenden Versuche, die Idee einer integrativen jüdisch-deutschen Geschichte in der Zivilgesellschaft präsent zu halten, und trotz ihrer politischen Bedeutung angesichts gegenwärtiger antisemitischer Tendenzen ist auch die Kontinuität problematischer kultureller Praktiken zu betonen. Dies zeigt zum Beispiel der Band „Demontage der Erinnerung“ (2023) des Germanisten Peter Seibert, in dem er den Umgang mit dem jüdischen baulichen Kulturerbe nach 1945 nachzeichnet. Seibert rekonstruiert anhand des Umgangs mit jüdischem baulichen Erbe oder der offiziellen Kanonisierung von Kunstdenkmälern sowie zahlreicher lokaler erinnerungskultureller Praktiken, wie auch nach 1945 jüdisches Kulturerbe in Deutschland ausgegrenzt wurde.

Deutsch-jüdische Einwanderung nach Argentinien

Die deutsch-jüdische Einwanderung nach Argentinien, vor allem nach Buenos Aires, hat ein lebendiges kulturelles Milieu, das der so genannten „jeckes“, hervorgebracht. Deren soziale und kulturelle Bedeutung ist bereits dokumentiert worden, etwa in Alfredo Schwarcz‘ biografisch inspirierter Studie „…trotz allem: Die deutschsprachigen Juden in Argentinien“ (1991 auf Spanisch, 1995 auf Deutsch erschienen). Diese Studie handelt von den kulturellen Orientierungen und Identitäten der deutschsprachigen Juden und Jüdinnen am Río de la Plata.

Der Interviewband „Goethe in Buenos Aires“ von Henriette Kaiser (2022) vermittelt einen lebendigen Einblick in die Fluchterfahrungen, den schmerzhaften Verlust der deutschen Heimat und die Nachwirkungen dieser Erfahrungen im Familiengedächtnis und in den Lebensentwürfen. Auch hier bilden die jüdische, deutsche und argentinische Identität die zentralen Koordinaten der Selbstverortung. Der Titel spricht in dieser Hinsicht Bände: Im Umgang mit dem Verlust des Heimatlandes ist die Kontinuität der deutschen Geisteskultur offenbar ein Faktor, der die schmerzhafte Erfahrung überlebt hat und der vielleicht geholfen hat, den Verlust zu kompensieren, und weiterhin kulturelle Orientierung zu stiften vermochte. „Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache“, diese berühmt gewordene Formulierung Hannah Arendts aus dem ebenso berühmt gewordenen Fernsehinterview mit Günther Gaus wiederholt sich offenbar in zahlreichen ähnlich gelagerten Exilerfahrungen.

Die Spezialistin für Hannah Arendt

Claudia Hilb, emeritierte Professorin für politische Theorie an der Universidad de Buenos Aires, berichtet von der Kultur, mit der sie in ihrem Elternhaus aufwuchs: Arendt, Jaspers, Thomas Mann, Brecht und vor allem klassische Musik. Die existenzielle Dimension in der Vorgeschichte ihres „Jeckentums“ wurde ihr erst im politischen Exil in Paris (wohin sie 1977, während der Militärdiktatur, ging) richtig klar. Mit zeitlicher Versetzung hat sie Cohn-Bendits Aussage „nous sommes tous des juifs allemands“ (Wir sind alle deutsche Juden) für sich entdeckt. Wichtig war dabei, dass die Mutter ihres ehemaligen Partners, selbst polnisch-jüdischer Herkunft, sie als „Jecke“ bezeichnet und behandelt hatte. Vorher in Argentinien hatte das für sie keine Rolle gespielt. Kontakt zu deutschen Institutionen in Argentinien waren nicht wichtig. Ihre Eltern hatten von dem ursprünglichen Plan abgesehen, sie in der Goethe-Schule Norte einzuschulen, nachdem sie erfahren hatten, dass die dortige Direktorin Sympathien für das Nazimilieu in Buenos Aires hatte.

Erst im Jahr 2000 hatte Hilb, als sie vom Goethe-Institut Buenos Aires zu einem Vortrag über Hannah Arendt eingeladen wird, den ersten richtigen Kontakt mit einer deutschen Institution in Argentinien. In der Einführung zu ihrem Vortrag kommentierte sie ihre Emotionen angesichts der Tatsache, in einer deutschen Institution über Arendt zu sprechen. Sie sprach eine Widmung an ihre Eltern aus. Hilb ist in der argentinischen Forschungslandschaft Spezialistin zum Thema Hannah Arendt. Neben Arendt hat sie unter anderem zu Leo Strauss gearbeitet (wie Arendt ein bedeutender politischer Theoretiker, der als Jude vor dem NS geflohen war, um später in den USA zu einem wichtigen Intellektuellen zu werden). Letztes Jahr war Hilb Mitglied der Jury für den Hannah Arendt-Preis für politisches Denken. Die letztjährige Preisverleihung an Masha Gessen, die Hilb für richtig und wichtig erachtete, löste im Dezember 2023 eine empörte Diskussion aus.[fn]Die in New York lebende Journalistin russischer Herkunft vergleicht in einem Artikel im Magazin „The New Yorker“ (9.12.2023) die Situation im Gazastreifen mit der in einem jüdischen Ghetto in einem osteuropäischen, von den Nazis besetzten Land.[/fn] In diesen und anderen Diskussionen mit deutschen Kolleg*innen beobachtet Hilb die Schwierigkeit, die Ereignisse im Gaza-Streifen zu thematisieren. Was ihr nachvollziehbar, aber auch sehr kompliziert erscheint.

Die fremdelnde Künstlerin

Marga Steinwasser ist eine Künstlerin aus Buenos Aires, deren Vorfahren ebenfalls wegen des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten. Ihr Vater kam in Buenos Aires zunächst bei einer aus Mühlheim an der Ruhr geflohenen Familie unter, er stammte aus der selben Stadt. Die Familie ihrer Mutter war aus Breslau geflohen. In ihrem Elternhaus wurde ausschließlich Deutsch gesprochen. Ihre Sozialisation fand in einem deutsch-jüdischen Milieu im Stadtteil Belgrano statt: die Synagoge, die in ihrem Bekanntenkreis gegründet wurde und als sozialer Treffpunkt diente, der Metzger, die Kinderbücher („Struwwelpeter“), die lokale Leihbibliothek (Lenz, Böll, Mann…), die in New York erschienene Exilzeitschrift „Der Aufbau“, das Aufwachsen im Umfeld der Pestalozzi-Schule, Bratengerichte und Sauerkraut – alles Erinnerungszeichen ihrer deutsch-jüdischen Sozialisation: „Alles, was wir lasen und sprachen, war deutsch, also deutsch-jüdisch“. Dies fand auch in Abgrenzung zur argentinischen Bevölkerung statt, zu den sogenannten „Hiesigen“. Insofern empfand Steinwasser eine tief sitzende Fremdheit. Sie fühlte sich immer ein bisschen „anders“, gemäß dem argentinischen Sprichwort: ein „sapo de otro pozo“ („ein Frosch aus einer anderen Pfütze“). Lange empfand sie sich nicht „ganz argentinisch“, deutsch hingegen noch weniger. Marga, deren Mann Eduardo ebenfalls einen deutsch-jüdischen Hintergrund hat, führte in Mülheim, der Heimatstadt ihres Vaters, in den 2000er Jahren auf Einladung der Stadt ein Kunstprojekt durch und stellte dort ihr „textiles Archiv“ aus, den „trapo“, der in Form von Collagen aus Kleidungsstücken den Umgang mit traumatischer Erinnerung thematisiert.[fn]https://margasteinwasser.com/trapo-mu%CC%88lheim/[/fn] Der mehrwöchige Aufenthalt in Mülheim war für Marga Steinwasser sehr berührend, teilweise schmerzhaft, schockierend, zugleich aber auch schön. Auf dem jüdischen Friedhof besuchte sie die Gräber ihrer Vorfahr*innen. Für sie war es nie eine Option, nach Deutschland „zurückzukehren“. Als sie ihren deutschen Pass beantragte, war das für ihre Mutter sehr schlimm, dementsprechend lange hatte sie ihr das Vorhaben verheimlicht.

Die Metzgertochter

Belkis Hammerschlag ist im Norden der Provinz Santa Fe, in der Nähe von Moises Ville. aufgewachsen, wo seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mehrere jüdische Agrarsiedlungen entstanden waren. Belkis verlor ihre Großeltern, Onkels und Cousins in der Shoa, ihre Mutter Betty Werheim versuchte ihre Trauer stets vor ihren Kindern zu verbergen. Erst im hohen Alter holte sie Dokumente ihrer Vorfahr*innen, Fotos und Briefe hervor und setzte sich mit dieser schmerzhaften Geschichte auseinander. Die Familie ihrer Mutter kam aus Naumburg/Kassel, ihr Vater Julius Hammerschlag stammte aus einer jüdischen Metzgerfamilie aus Rehburg-Loccum. Beide Elternteile stammten aus Familien, in denen die religiösen Traditionen des Judentums lebendig waren. In ihrem Elternhaus wurde konsequent Deutsch gesprochen, Spanisch lernten sie und ihre Geschwister erst in der Schule. Zu Hause wurde „ein deutsch-jüdisches Leben geführt“, von den kulinarischen Traditionen bis hin zu den Kindergeburtstagen und den Kinderliedern, die ihr die Mutter beibrachte. Geräuchertes Fleisch, Sauerkraut mit Würstchen, Pökelfleisch, Krakauer, Zervelatwurst, geräucherte Zunge, geräucherte Brust, Kartoffelsalat, Kartoffelpuffer, Apfelkuchen – das waren die kulinarischen Spezialitäten, die in ihrem Haus präsent waren. Die Fleisch- und Wurstprodukte, die ihr Vater herstellte, vertrieb er auf lokaler und regionaler Ebene als koschere Produkte, weil das Fleisch von einem lokalen Schochet (Schächter) bezogen werden konnte. Belkis Mann, Pedro Ballhorn, hat auch einen deutsch-jüdischen Familienhintergrund, seine Mutter stammte aus Berlin, der Vater aus Eisenhammer (Rudniki/heute Polen). Ein gemeinsamer Besuch in Frankfurt war für beide sehr bewegend, sie befanden sich auf der Rückreise von einem Israelbesuch, wo sie Yad Vashem besucht und an einem Seminar über die Shoa teilgenommen hatten. Im Rahmen eines künftigen Besuchs in Berlin möchten sie das Elternhaus der Mutter von Pedro aufsuchen und hoffen, dort verlegte Stolpersteine vorzufinden, die an seine Familie erinnern. Belkis war Lehrerin in der jüdischen Schule in Moises Ville, später dann an der Jaim Najman Bialik-Schule in Rosario. Sie beteiligt sich an erinnerungskulturellen Aktivitäten in Argentinien, bei denen sie vom Schicksal ihrer Familie berichtet. Sie steht zudem in Kontakt zum Erinnerungsort Landwerk Neuendorf, das 1932 als jüdische Arbeiterkolonie und Ausbildungsstätte gegründet wurde, dann als Hachschara diente[fn]Als Hachschara (Vorbereitung, Tauglichmachung) wurde die systematische Vorbereitung von Juden auf die Alija bezeichnet, also für die Besiedlung Palästinas vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren.[/fn], wo sich ihr Vater vor seiner Ausreise nach Argentinien umschulen ließ.

Der kritische Psychologe

Alfredo Schwarcz ist Psychologe, er arbeitet in einem deutsch-jüdischen Altersheim. Seine Mutter stammt aus Berlin, sie kam über Russland, China und Japan nach Argentinien. Der Vater stammt aus Wien, seine Familie kam über Mailand nach Argentinien. Seine Eltern lernten sich in den deutsch-jüdischen Institutionen kennen, die in den 1940er-Jahren in Buenos Aires entstanden waren. In seinem Elternhaus wurde Deutsch gesprochen, die deutsche Kultur, die Bücher von Goethe, Schiller und Heine waren stets präsent. Alfredos deutsch-jüdische Identität war zunächst nicht so stark ausgeprägt. Er hat sie erst später bewusst zu seiner eigenen gemacht. Das Aushandeln der Identität ist ein Thema, das ihn lebenslang begleitet hat. Die Art und Weise, wie die drei verschiedenen Aspekte zusammengebracht werden, die in seiner Identität zusammenfließen – die alten jüdischen Wurzeln, die mitteleuropäische Kultur mit deutscher Hegemonie und die argentinische Identität – konfiguriert sich im Laufe des Lebens immer wieder neu, so Alfredo. Seine Frau, Patricia Frankel, hat ebenso einen deutsch-jüdischen Hintergrund. Sie berichtet, dass ihr Verhältnis zum Jüdischen durch die Verwandten, die im NS umgekommen sind, die in der ganzen Welt verstreute Familie, den Staat Israel, der ursprünglich ein erträumter und idealisierter Ort war, sehr emotional geprägt ist. Vom Moment ihrer Geburt an waren die Gräuel der Nazis präsent: „Mein zweiter Vorname und der meines Bruders sind die Namen von engen Verwandten, die in Konzentrationslagern gestorben waren.“ „Paty“ dachte immer, dass ihre Familie vor allem jüdisch sei, erst später habe sie gemerkt, wie stark sie auch „vom Deutschen“ geprägt ist. Ihre Beziehung hat in beiden ihre Jecke-Identität wechselseitig verstärkt. Für beide war die Zeit des studentischen politischen Engagements wichtig, erst hier haben sie sich der politischen Situation in Argentinien geöffnet und eine stärkere argentinische Identität entwickelt. Die Welt der Pestalozzi-Schule, in der Alfredo vom Kindergarten bis zur Hochschulreife Schüler war, betrachtet er rückblickend als eine geschlossene kleine und heile Welt, die ein wichtiger Schutzraum, zugleich aber abgekoppelt von den gesellschaftlichen Entwicklungen in Argentinien war. Ihre Kinder sind geprägt von ihren deutsch-jüdischen Wurzeln, auch dank der engen Beziehung, die sie zu ihren vier deutsch-jüdischen Großeltern pflegen konnten. Die Beziehung zu Deutschland bleibt jedoch ambivalent wegen der dramatischen Geschichte des Nationalsozialismus. Trotz allem hat Schwarcz in den letzten Jahren eine versöhnlichere Haltung gegenüber Deutschland und Österreich, dank der Gespräche mit Menschen aus den beiden Ländern über die Vergangenheit und die deutschen Verbrechen.

Der „andersartige“ deutsch-jüdisch-argentinische Mitbürger

Der 1924 geborene Vater von Roberto Frankenthal stammt aus Kassel, seine Mutter, geboren 1927, aus Landau. Die beiden heirateten 1958 in Buenos Aires, wo Roberto 1963 geboren wurde. Er wuchs dort im Stadtteil Belgrano auf, das er als „deutsch-jüdische Hauptstadt Argentiniens“ bezeichnet. Im Umkreis von ungefähr fünf Kilometern gab es damals vier konservative Synagogen, zudem eine reformistische und sogar eine orthodoxe, die allesamt von deutschsprechenden Juden gegründet worden waren. Als er ein kleiner Junge war, holte ihn sein Vater von der Straße, wo er sich austobte, mit dem Kommentar: „Das tun nur die Hiesigen“. Der Ausdruck „die Hiesigen“ wurde des Öfteren benutzt, um ihm in Abgrenzung zu diesen „Anderen“ der argentinischen Bevölkerung bestimmte Verhaltens- oder Benimmregeln anzuerziehen. Frankenthal ging auf die Pestalozzi-Schule, wo auch deutsche Geschichte unterrichtet wurde, was zu der seltsamen Situation führte, dass die dorthin aus Deutschland entsandten Lehrer, in der Regel sozialisiert durch die 68er-Bewegung, den Nachkommen der Überlebenden der Shoa den NS erklärten, die wiederum auf der Suche nach ihrer Identität fernab von Europa waren. Er habe mehr von diesen Lehrkräften über die Entstehung und Ausbreitung des Nationalsozialismus gelernt als durch seine Eltern beziehungsweise Großeltern, die darüber kaum reden wollten oder konnten, sagt Frankenthal. Bei Sportwettkämpfen seiner Schule mit anderen deutschen Schulen durfte Roberto nicht teilnehmen, sein Vater erachtete den Austragungsort des „Neuen Deutschen Turnverein“ (NDT), der immer noch die Farben schwarz-weiß-rot trug, als „feindliche Umgebung“, wo sein Sohn nichts verloren hätte. Im Jahr 1974 schaut Roberto mit seinem Vater das WM-Finale Deutschland-Niederlande. Als die deutsche Hymne angestimmt wurde, war das für seinen Vater verstörend, die Melodie hatte er zuletzt in den 30er-Jahren in Nazi-Deutschland gehört. Bemerkenswert fand Roberto auch seine Reaktion auf die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF 1977. Sein Vater, eher liberal-konservativ eingestellt, kommentierte die Ermordung des ehemaligen SS-Untersturmführers knapp mit den Worten: „Der hat es so verdient“. Über seine eigene Vergangenheit in Deutschland sprach er jedoch wenig. Roberto siedelte 1986 nach Deutschland über, wo er seitdem in der Tourismusbranche arbeitet. Er war zugleich in Lateinamerikasolidaritätsbewegungen aktiv und schreibt seit vielen Jahren für die ila. Auch in Deutschland hat er feststellen müssen, dass er „andersartig“ wahrgenommen wird. Dies bezog sich nun allerdings eher auf seine humorvolle und laute Art sowie seinen lebendigen körperlichen Ausdruck – Charakterzüge, die auf seine argentinische Sozialisation zurückgehen. Während seiner Zeit in Deutschland ist er nur wenige Male als Jude angesprochen worden, dennoch hat er ein gewisses Gefühl der Andersartigkeit nie ganz ablegen können. Es habe sich jedoch ab einem gewissen Punkt für ihn sogar positiv angefühlt, anders zu sein als die Mehrheit der Gesellschaft.

Zurückgekehrt und „wiederverwurzelt“ in Deutschland

Die Familie von Renate Pfromm, geborene Grünwald, kam im Jahr 1938 nach Argentinien. Als Renate gerade einmal ein Jahr alt war, mussten ihre Mutter Hanna Grünwald (geb. Mayer, 1905) und ihr Vater Fritz Grünwald (1903) mit dem Baby Essen verlassen. Im neuen Zuhause in Buenos Aires wurde immer Deutsch gesprochen, das Essen, die Literatur, das Theater, die Oper, der Zahnarzt und der Bäcker waren immer irgendwie „deutsch“. Der Familienhintergrund war der einer jüdischen Mittelschichtfamilie, die weniger durch das Judentum als vielmehr durch das kulturelle Leben von Juden und Jüdinnen in Deutschland geprägt war. Die Geschichte ihrer Vorfahr*innen in Deutschland hatte für sie immer eine große Rolle gespielt, nicht zuletzt, weil ihr Leben in Argentinien innerhalb des deutsch-jüdischen Milieus stattfand. Dies alles hat sie sehr geprägt, auch emotional. Im Jahr 1959 ist sie mit einem Austauschstipendium des DAAD zum Studium an die Hochschule für Gestaltung in Ulm gegangen und hat dort ihren späteren Mann kennengelernt. Seitdem lebt sie, mit einer Unterbrechung von acht Jahren in der Schweiz, in Deutschland. Ein Großteil ihrer Familie konnte sich rechtzeitig vor dem NS retten und aus Deutschland fliehen, weshalb die Erinnerung an die Vergangenheit in ihrer Familie nicht so traumatische Züge annahm wie in anderen Familien. In Deutschland verfolgt sie die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die deutsche Politik mit großem Interesse und ist persönlich engagiert in Debatten über die Erinnerungskultur und die NS-Vergangenheit. Vor dem Haus ihrer Eltern in Essen, in dem sie geboren wurde, sind Stolpersteine verlegt worden. Renate war in Kassel lange Zeit die jüdische Repräsentantin im Vorstand der lokalen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Ihre „Jecke“-Identität ist für Renate wie auch für ihre Kinder, die Deutsche sind, nun aber vor allem mit Blick auf die jüdische Identität sehr wichtig.

Die zweite Heimat der Schriftsteller

In den Gesprächen mit den genannten Personen über ihre deutschen Vorfahren, die deutsch-jüdische Sozialisation und das Erbe dieses Milieus in Argentinien kommen unterschiedliche Verarbeitungsformen von Flucht und Exil zum Ausdruck. Der Lebensabschnitt und das Alter, in dem die Flucht erfolgte, sind zentrale Faktoren. Das Exilland der Elterngeneration konnte in den nachfolgenden Generationen zur „Heimat“ werden, für ihre Eltern wurde es höchstens zur „zweiten Heimat“, neben der schmerzlich entrissenen ersten. Das literarische Werk der beiden deutschsprachigen, jüdischen und argentinischen Schriftsteller Roberto Schopflocher und Alfredo Bauer, für die der familiäre Fluchthintergrund eine einschneidende biografische Erfahrung darstellte (sie haben in Fürth beziehungsweise in Wien ihre frühe Kindheit verbracht, bevor sie mit ihren Familien nach Argentinien fliehen konnten), ist voller Flucht-, Exil- und Entfremdungsmotive, die diese Erfahrungen verarbeiten. Sie sind nicht die Einzigen, aber die Sichtbarsten, die in Argentinien zu schreiben begannen, und das im fortgeschrittenen Alter und zu einem Zeitpunkt, als das argentinische Exil bereits zu ihrer zweiten Heimat geworden war (beide verstarben 2016 im hohen Alter in Buenos Aires). Sie changierten in ihrer Textproduktion zwischen der spanischen und deutschen Sprache und wandten sich in ihrem Spätwerk ganz der deutschen Sprache zu. Vielleicht stimmt die von dem Linguisten Roberto Bein formulierte Vermutung (vgl. das Interview mit Bein in dem oben erwähnten Band von Kaiser), dass das Deutsche als Sprache deshalb so lange in Argentinien überleben konnte, weil es zur folgenden Rivalitätssituation gekommen war: Die vor dem NS geflohenen Teile der Bevölkerung – politische Verfolgte, österreichische und deutsche Jüd*innen – kämpften um „ihr Deutsch“ gegen die mehrheitlich nazifizierte deutschstämmige Bevölkerung, gemäß dem Motto: „Mal sehen, wer eher die deutsche Kultur darstellt“.

Tür an Tür mit Nazis

Eine erfrischende, zugleich ernste wie auch humoristische Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ist der der Essayband „Tür an Tür. Nazis und Juden im argentinischen Exil“ (2023) des argentinischen Schriftstellers Ariel Magnus. In der Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte und dem Umgang mit den verschiedenen kulturellen Einflüssen der oben angesprochenen Identitätstriade geht er den Aspekten der deutsch-argentinischen Verflechtung sowie seinen deutsch-jüdischen „Wurzeln“ auf den Grund. Es ist das erste Buch, das Magnus, der mittlerweile in Deutschland lebt, auf Deutsch verfasste. In seinen bisherigen Romanen und Erzählungen spielte die Auseinandersetzung mit der Flucht- und Überlebensgeschichte seiner Vorfahr*innen wie auch mit dem Nationalsozialismus eine besondere Rolle. Magnus ist ein Beispiel für eine literarische Stimme aus der so genannten Dritten Generation, die der Enkel*innen der Überlebenden (siehe Interview mit Magnus in ila 417 und ila 447). In seinem Band schreibt Magnus von der Befremdung, die die Lektüre des Bandes „Geschichte des Deutschtums in Argentinien“ in ihm auslöste. Dieser Band wurde 1955 vom Deutschen Klub in Buenos Aires veröffentlicht, der in seiner Geschichte, gelinde gesagt, eine engere Bindung zu den Nazis-Milieus hatte als zu jenen Bevölkerungsteilen, die vor dem NS geflohen waren. Dieses Buch der laut Magnus „braungesinnten Autoren“ hat mehrere neue Auflagen erfahren, in deren Verlauf die braunen Töne verwässert wurden und kritische Töne über den NS Einzug hielten. Magnus schließt seinen Kommentar zu diesem Buch, vor allem aber zu den aufgebesserten Nachfolgeauflagen wie folgt: „Meine eigene Geschichte muss ich trotzdem anderswo suchen“.

Die Erfahrung der kulturellen Ausgrenzung aus den mehrheitsdeutschen Erzählungen, Repräsentationen und Institutionen, die Menschen mit einem deutsch-jüdischen Familienhintergrund in Argentinien gemacht haben und für die die Anekdote der Leseerfahrung von Magnus eine unter unzähligen anderen ist, steht in offensichtlichem Kontrast zu den jüngeren, einleitend erwähnten kulturgeschichtlichen und symbolpolitischen Umarmungsversuchen in Deutschland. Um einen guten Kontakt zu dem „Auslandsdeutschtum“ bemüht ist die mit Mitteln des Auswärtigen Amts finanzierte „Stiftung Verbundenheit“. Ihre zentrale Aufgabe ist es, Kontakt zu den „deutschen Minderheiten im Ausland“ zu pflegen. Deren spiritus rector ist Hartmut Koschyk, ein CSU-Politiker mit einer langen Tradition des politischen Engagements zugunsten des „Deutschtums im Ausland“, er war auch Generalsekretär des „Bundes der Vertriebenen“. Im Herbst 2023 wurde von besagter Stiftung eine Argentinien-Tournee der Volksmusikgruppe „Die Lustigen Oberfranken“ organisiert, im Rahmen des so genannten „Kulturprojektes Lieder der Heimat“. Die Tour führte die Gruppe auch nach Villa General Belgrano, ein Ort, in dem die starke Präsenz der deutschen Kultur zurückgeht auf die Ansiedlung zahlreicher Besatzungsmitglieder und Wehrmachtssoldaten vom deutschen Panzerschiff Admiral Graf Spee, das 1939 vor Montevideo versenkt wurde. Auch ohne das Deutschland-, Nations- und Ethnizitätsverständnis dieser Stiftung und ihre Beziehungspflege zum „Auslandsdeutschtum“ (vor allem in Osteuropa) zu vertiefen, dürfte klar sein, dass die Heimat, die im Rahmen dieses „Kulturprojekts“ besungen wird, nicht die verlorene Heimat der Vorfahr*innen der deutsch-jüdischstämmigen Argentinier*innen sein kann.