Ihr seid eine Gruppe Schwarzer Frauen, die feministisches Theater machen. Warum verwendet ihr die Methode des Theaters der Unterdrückten?
Ich lebe in einer Favela namens Morro da União im Viradouro-Komplex in der Gemeinde Niterói in Rio de Janeiro. Schon als Jugendliche bin ich mit dem Theater der Unterdrückten in Berührung gekommen. Im Laufe der Zeit habe ich die Methodik verbessert, denn sie muss ständig aktualisiert werden. So haben wir 2010 das Netzwerk ins Leben gerufen, das aus dem Theater der Unterdrückten hervorging. Dann wurde es zu dem, was es heute ist: ein feministisches Theater. Für mich bedeutet feministisches Theater NICHT, dass es exklusiv ist oder dass es nur für eine bestimmte Art von Frauen ist oder nur für Personen, die als Frau wahrgenommen werden, und nicht für Personen, die als Mann sozialisiert worden sind. Nein. Gerade weil es inklusiv ist, weil es die Transformation von allem und jedem sucht, ist es feministisches Theater.
Ich lebe in einer Favela in Rio de Janeiro, einem der gewalttätigsten Bundesstaaten Brasiliens. Während der Pandemie waren zunächst Polizeioperationen innerhalb der Favelas vom Bundesgericht verboten worden. Aber dann gab es eine Besetzung von Seiten der Militärpolizei, die ich als Invasion bezeichne. Diese Besetzung wurde mit dem Argument verkauft, dass sich die Situation verbessern werde, aber es kam zu zahlreichen Fällen von Machtmissbrauch und dazu, dass die Leute regelrecht ausgerottet wurden. Ich habe mich gefragt: Was machst du, wenn der Finger am Abzug ist und die Waffe auf dein Gesicht gerichtet ist? Meiner Meinung nach ist das Theater der Unterdrückten ein Werkzeug; du setzt es ein und es wird zur Lebensphilosophie. Wir sprechen viel über Metaphern und über die Ästhetik des Theaters der Unterdrückten.
Ich wollte angesichts dieser Besetzung unbedingt etwas tun, um die Missstände anzuprangern. Während einer Unterhaltung mit meinem Bruder kam mir die Idee: Ich bringe die Frauen der Favela zusammen und wir hängen Bettlaken mit dem Satz „Lar de Moradora, respeite!“ (in etwa: Respektiert das Zuhause der Anwohnerin!) aus dem Fenster. Mal sehen, was passiert. Es bewirkte tatsächlich etwas. Damit haben wir eine Bewegung gestartet. Die Polizei kam kaum mehr in die Favela, und wenn doch, dann mit etwas mehr Respekt. Respekt für das Zuhause der Anwohnerinnen – schließlich werden über 70 Prozent der brasilianischen Haushalte von Frauen geführt.
Die Polizei hat unseren Stadtteil gewaltsam besetzt. Wir sagten: Lasst uns eine Gegenbesetzung machen. Nehmen wir alles, was mit Kunst und Kultur in der Favela zu hat, und besetzen alle Ecken des Viertels damit. Einen ganzen Monat lang haben wir alle Plätze und Gassen besetzt, um zu zeigen, dass es hier viel mehr gibt als das, für das die Favela sonst steht: Hier gibt es nicht nur Banditen und Menschen, die nichts taugen, weshalb dann alle sterben müssen. Die Frauen sagten: Lasst uns weitermachen mit dieser Bewegung, lasst uns etwas Beständiges ins Leben rufen. Das war die Geburtsstunde von OCA (Ocupação Cultural Artística Do Viradouro), der künstlerisch-kulturellen Besetzung von Viradouro. Unsere Bewegung wurde somit zu einer konkreten und kontinuierlichen Einrichtung.
Ist eure Favela aktuell immer noch von der Polizei besetzt?
Ja, sie ist immer noch besetzt. Der Vorwand dafür sind Bauarbeiten gewesen. Die Gemeinde hat wohl um Unterstützung der Sicherheitskräfte gebeten, weil es wegen der Bauarbeiten Streit zwischen der Parallelmacht (bewaffneten Milizen, Anm. der Red.) und der Gemeinde gegeben hat. Aber dieser Vorwand hat zu den verschiedensten Formen von Machtmissbrauch geführt.
Mit dem Körper zu arbeiten und feministischen Aktivismus direkt zu spüren, ist sehr kraftvoll und kann Menschen auf der ganzen Welt verbinden. Seid ihr als Gruppe mit anderen vernetzt?
Das Theaterkollektiv Anastácia[fn]Aus der Selbstbeschreibung: „Wir sind eine Bewegung von Künstler*innen-Aktivist*innen. afro-lateinamerikanisch, schwarz, indigen, migrantisch, zugewandert, lesbisch, nicht-binär, fett, mit funktionaler Vielfalt, mit unterschiedlichen Erfahrungen mit psychischer Gesundheit, neben vielen anderen Faktoren, die uns zur Gruppe der unterdrückten Frauen in unseren Gesellschaften gehören lassen. Wir erkennen die Unterdrückung und haben den Wunsch, sie zu ändern.“[/fn] unterstützt unsere Arbeit zum Beispiel voll und ganz. Es gibt so viele Dringlichkeiten und Probleme auf der Welt; in unserem spezifischen repressiven Kontext entstand bald das Bedürfnis, über Machismo, über patriarchale und häusliche Gewalt zu sprechen. Da die Leute vom Kollektiv Anastácia schon seit einiger Zeit über dieses Thema reden, haben wir uns zusammengeschlossen. Die Frauen vom Anastácia-Kollektiv haben das Gleiche mit den Frauen aus dem ländlichen Raum gemacht. Wir haben uns dem Thema der patriarchalen Gewalt mit ästhetischen Mitteln angenähert, spürten ihr in unseren Körpern und unserer Stimme nach. In dieser Pandemiezeit, vor etwa drei Monaten, haben wir einige musikalische Performances gemacht. Einer der Songs ist eine schlichte Botschaft der Frau an den Mann: Verschwinde aus meinem Leben, ich werde nicht länger akzeptieren, dass du mich schlägst.
Wir haben eine Partnerschaft mit der UFF (Universidade Federal Fluminense) hier in Niterói, ebenso mit der University of Texas in den USA; Leute von dort geben den Kindern hier bei uns im Complexo Englischunterricht. Für Kinder und Jugendliche haben wir außerdem eine eigene Partnerschaft mit dem Centro de Dia Oprimido (Tageszentrum des Unterdrückten), wir bauen unser Netzwerk weiter aus. Der Mensch ist ein kollektives Wesen, alleine können wir nichts bewirken.
Fast anderthalb Jahre nach der großen Medienwelle und der weltweiten Bewegung rund um Black Lives Matter – habt ihr daraus Kraft schöpfen können? Haben sich seitdem die Debatten verändert?
Ja, auf jeden Fall. OCA hat sich im August letzten Jahres gegründet, was eine ungeheure Veränderung bewirkt hat, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Frauen nehmen an öffentlichen Anhörungen zum Thema Rassismus in der Stadt Niterói teil. Wir organisieren jetzt viele kulturelle Veranstaltungen in der Favela, um die eigene Kultur zu retten. Am letzten Sonntag im September feiern wir den Tag von São Cosme und Damião auf unsere Weise, denn er ist mit der afrobrasilianischen Kultur verbunden[fn]Bei den Katholiken gelten die Mediziner-Zwillinge Cosme und Damião, die wegen ihres Glaubens enthauptet wurden, als heilig. Für die Afro-brasilianer*innen ist es die Feier des Orixá Ibeji bzw. der Orixá Jeje-Nagô.[/fn]. Die Frauen beginnen auch, geografische Grenzen zu überwinden. Früher blieben sie immer in Niterói, jetzt gehen wir nach Rio de Janeiro oder nach Nova Iguaçu. Es gibt also eine sehr große Transformation, wir verändern uns jeden Tag.
Was wünschst du dir von weißen Verbündeten?
Die größten Partner und Netzwerke, die wir haben, sind von weißen Menschen. Was ich von dieser Unterstützung nicht erwarte, ist, dass die Leute uns von ihrem Platz aus unterstützen. Ich möchte, dass sie Verantwortung übernehmen. Wir wollen keine Almosen, wir wollen wirkliche Solidarität. Mehr noch: Wir wollen, dass sich die Menschen für den sozialen Wandel engagieren. Wir sprechen hier über ein extremes soziales Problem: die Ausrottung der Schwarzen Bevölkerung und der Favela-Bevölkerung. Jedes Mal, wenn ich eine Zusammenarbeit (mit weißen Partnern) erlebt habe, wurde diese Partnerschaft von einer weißen Person koordiniert. Ich mache den Leuten sehr deutlich, dass das nicht hilfreich ist. Wenn du dich engagierst, gehst du eine Verpflichtung als Bürgerin ein und übernimmst auch Verantwortung. Es ist also keine Frage des Helfens, sondern des sozialen Engagements. Da Brasilien ein sehr unstrukturiertes Land ist, sieht alles immer nach Hilfe aus. Oft geraten das Engagement für einen sozialen Wandel und die Hilfe durcheinander.
In der Praxis ist dies nicht einfach. Ich hoffe, dass die Menschen bei euch diese Verpflichtung eingehen und dass wir in der Lage sein werden, eine wirkliche Veränderung zu erreichen. Wie könnt ihr, von dort, wo ihr steht, die ganze Sache kontrollieren oder leiten? Es gibt viele andere Dinge zu tun. Ich habe eine Freundin, die fotografiert, ich selbst organisiere viele Veranstaltungen für Kinder. Hinzu kommt die Pandemie, ich habe Angst. Aber ich kann diesen Kindern helfen, ich kann dazu beitragen, indem ich mehr Paten für diese Kinder finde. Jeder und jede an seinem und ihrem Platz kann also etwas tun. Ehrlich gesagt möchte ich auch keinen Partner gefährden, eigentlich niemanden. Wenn ich nicht will, dass jemand eine Waffe auf mich richtet, um mich zu töten, dann möchte ich das auch für niemand anderen. Ich möchte, dass wir dafür kämpfen, dass dies ein Ende hat. Dafür muss jeder und jede Verantwortung übernehmen.
Gibt es noch etwas, das du hinzufügen möchtest?
Unsere kulturelle Bewegung ist sehr wichtig. Gegen die Geschichte der Besetzung setzen wir eine andere Geschichte der Favela. Ein Favela-Bewohner wurde zum Beispiel umgebracht, aber es ist uns gelungen, die Titelseiten der Zeitungen mit kulturellen Aktivitäten zu füllen. Ein anderes Mal haben wir es geschafft, die Titelseite einer Zeitung zu besetzen mit einem Kursangebot für Kinder. Oder wir sprechen über Paulo Freires 100. Geburtstag, und Paulo Freire sprach von Hoffnung. Es gibt nichts Hoffnungsvolleres als die Gewissheit, dass es für junge Menschen und Kinder Möglichkeiten gibt. Die antifaschistische Bewegung ist sehr wichtig. Und OCA ist eine antifaschistische und eine Widerstandsbewegung.