Weg vom Konzept der „Unterentwicklung“

Die Region Lateinamerika ist immer mal wieder im Fokus der deutschen Medien. Je nach politischer Provenienz wurde in den letzten Jahren von Nicaragua bis Argentinien ein sozioökonomischer Wandlungsprozess unter Berücksichtigung großer Teile der Bevölkerung konstatiert oder der Untergang des neoliberalen Abendlandes verkündet. Dies gilt vor allem für Länder wie Bolivien oder Venezuela. Unabhängig von der politischen Ausrichtung, eine Grundfrage beschäftigt die meisten Kommentator*innen, nämlich die nach der ökonomischen Entwicklung der Staaten zwischen Rio Grande und Rio de la Plata.

Da kommt ein aktueller Sammelband zum Thema Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik, wie ihn Hans-Jürgen Burchardt, Stefan Peters und Nico Weinmann im Frühjahr 2017 vorgelegt haben, gerade recht. Das Buch greift u.a. die genannten Entwicklungen in Lateinamerika, zum Beispiel in Brasilien oder Ecuador, auf, präsentiert darüber hinaus eine große Zahl von Fallbeispielen aus anderen Weltregionen. Es beginnt jedoch mit einer theoretischen Einordnung der Debatten um Entwicklung.

So werfen die Herausgeber einen kritischen Blick auf die gängigen Entwicklungstheorien und die Umsetzung der Maßnahmen in den Ländern des Südens (S. 7 ff.). Dabei stellen sie heraus, dass die Forschung stärker konzeptbezogen arbeiten und dezentrierte Methoden – jenseits bekannter, europäischer Konzepte – benutzen sollte, um den unterschiedlichen Realitäten in den jeweiligen Ländern gerecht zu werden. Auch konstatieren die Autoren, dass soziale und ökologische Fragen bei der Analyse von Entwicklung eine prominente Rolle spielen müssten. Zentrale Themen der Entwicklungspolitik sollten also die soziale Ungleichheit, soziale Reformen, informelle Ökonomie, Rohstoffpolitiken sowie Umweltschutz und Nachhaltigkeit sein. Dies in Abgrenzung zu den traditionellen Fragen nach der „wirtschaftlichen Unterentwicklung“ der Länder des Südens.

Der Forderung, altbekannte und möglicherweise ausgetretene Erklärungspfade zu verlassen, widmen sich in der Folge unterschiedliche Beiträge des Sammelbandes. Hier nur einige Beispiele. Boike Rehbein und Florian Stoll befassen sich mit der Entstehung von Mittelschichten in Brasilien, Kenia und Laos (111 ff.). Johanna Neuhauser, Johanna Sittel und Nico Weinmann beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Analyse lateinamerikanischer Arbeitsgesellschaften (151 ff.). Almut Schilling-Vacaflor und Christoph Steinert greifen in ihrem Beitrag die Extraktion von Rohstoffen in Lateinamerika und die Proteste dagegen auf (241 ff.).

Stefan Peters beschäftigt sich in seinem Beitrag abschließend mit einem afrikanischen Land, das – wie einige lateinamerikanische Staaten – über bedeutende Erdölmengen verfügt und in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten verzeichnete (S. 257 ff.). Er bezieht sich auf das Beispiel Angolas. Allerdings steht den hohen, auf Erdölexport basierenden Wachstumsraten keineswegs eine ökonomische oder soziale Besserstellung großer Bevölkerungsteile gegenüber. Ganz im Gegenteil: Einer kleinen Öl-Elite steht eine große Zahl von Menschen gegenüber, die nicht vom Erdölboom profitiert und weiterhin in Armut verharrt. Der staatliche Erdölkonzern handelt sehr effizient, was aber vor allem denjenigen zugutekommt, die Präsident Dos Santos und seiner Familie nahestehen. Hier wäre ein kursorischer Vergleich mit Erdöl produzierenden Staaten in Lateinamerika interessant gewesen, denn vordergründig versprechen ja hohe Öleinnahmen eine größere Handlungsautonomie des Staates und die Möglichkeit einer sozialen Umverteilung.

Im letzten Kapitel schließt Hans-Jürgen Burchardt die Klammer, die die Herausgeber in der Einleitung mit der Kritik an den gängigen Entwicklungstheorien geöffnet haben (S. 273 ff.). Dabei fällt sehr positiv auf, dass das Schlusskapitel tatsächlich mit bis dahin wenig beachteten Ideen und Sichtweisen aufwartet und es nicht bei der gebetsmühlenartigen Verurteilung eurozentrischer Ansätze bewenden lässt. Burchardt plädiert für eine stärkere Beschäftigung mit der Affektebene bei der Analyse von Entwicklung in unterschiedlichen Weltregionen. Dabei hinterfragt er den althergebrachten Subjektbegriff und stellt ihn in den Kontext der jeweils untersuchten Gesellschaft. Die in diesen Gesellschaften agierenden Subjekte können nie nur aus einer individualistischen und rationalen Perspektive heraus verstanden werden, sondern sie sind immer auch in verschiedenen Machtbalancen aneinander gebunden. So entsteht bei der Analyse der jeweiligen Gesellschaft ein vielfältiges und bewegtes Bild und keine statische Momentaufnahme. Die Herausgeber haben sich in ihrem Band alle Mühe gegeben, durch die facettenreichen Beiträge diesem Anspruch auch Rechnung zu tragen.

Einige der Beiträge sind jedoch sehr abstrakt formuliert. Das ist für einen philosophisch-theoretisch interessierten Zirkel durchaus angemessen, Studierende, geschweige denn interessierte Nicht-Akademiker*innen werden durch solch eine Sprache jedoch abgeschreckt. Auch wären praktische Übungen oder Lernvorschläge für ein Lehrbuch, als das sich der Band versteht, sehr nützlich gewesen. Zu guter Letzt sind Burchardts Schlussideen von einem bedeutenden europäischen Soziologen, von Norbert Elias inspiriert. Hätte ein nicht-europäischer Denker bei den Denkanstößen Pate gestanden, wäre die alternative Perspektive auf Entwicklung noch überzeugender ausgefallen.

Trotz dieser Mängel ist das Buch ein Gewinn für jeden an Entwicklungsfragen Interessierten. Die große Stärke des Sammelbandes liegt eindeutig in den soziologisch inspirierten Fallbeispielen, die einen Blick ins Innere verschiedener Gesellschaften und ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Konfigurationen ermöglichen. Nicht, dass es nicht möglich wäre, dies auch durch Arbeiten anderer Disziplinen zu erreichen. Allzu oft ist die Entwicklungsliteratur jedoch voll von eingegrenzten Fällen und dafür entwickelten technischen Lösungen. Im Einzelnen können diese sinnvoll sein, werden aber gern nur aus umwelttechnischer oder ökonomischer Perspektive betrachtet. Das gesellschaftliche Drumherum eines Entwicklungsweges, seiner Erfolgsfaktoren oder Hürden, wird oft ausgeblendet. Der Sammelband von Burchardt et al. bietet hier spannende Einblicke in Gesellschaften mit ihren komplizierten Machtstrukturen und Pfadabhängigkeiten. Das Buch ist ein großer Gewinn für diejenigen, die sich für Entwicklungspolitik interessieren und über den technizistischen Tellerrand hinausschauen möchten.