Auf dem Papier beruhte das mexikanische Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren auf drei Säulen. Im Sozialversicherungssystem für Staatsangestellte (ISSSTE) sind mehr als 13 Millionen Menschen krankenversichert, direkte Familienangehörige der Staatsbeschäftigten eingeschlossen. Die Mexikanische Sozialversicherung IMSS krankenversichert die formal Beschäftigten des Privatsektors, mehr als 40 Millionen Menschen. Bis Oktober 2019 bestand zudem die Anfang der 2000er-Jahre eingeführte Volksversicherung. Sie sollte zumindest bei den häufigsten Krankheiten die weitgehend kostenlose oder kostengünstige Versorgung für den Rest der überwiegend armen Bevölkerung garantieren, der sich nirgendwo anders krankenversichern konnte. Ab 2014 überstieg die Zahl der theoretisch über die Volksversicherung betreuten Personen erstmals die Krankenversicherten in der IMSS.
Ein kleiner Bevölkerungsteil, der es sich leisten kann, hat zudem eine private Krankenversicherung, um sich in Privatpraxen oder in privaten Krankenhäusern behandeln zu lassen. Die Privatkrankenversicherungen verlangen in der Regel trotz hoher Beiträge dennoch erhebliche Eigenleistungen. Neben der Beitragsstaffelung nach Alter richten sich die Zahlungen auch nach der Kategorie der Privatkrankenhäuser, für die diese Versicherungen gelten. Diese privaten Klinken haben bei ihrer Preisgestaltung völlig freie Hand. Oft ähneln sie eher Luxushotels. Entsprechend kassieren sie ab.
Was auf dem Papier eine flächendeckende und mit der Volksversicherung auch universelle Krankenversicherung verspricht, sieht in der Praxis vielfach anders aus. Während es in den mexikanischen Städten noch eine relative Dichte von Gesundheitszentren, Krankenhäusern und Arztpraxen gibt, ist der ländliche Raum absolut unterversorgt. Es dürfte derzeit etwa 365 000 praktizierende Ärzte (58 Prozent) und Ärztinnen (42 Prozent) in Mexiko geben. Davon sind laut der Statistikbehörde INEGI gut 70 Prozent im öffentlichen Sektor beschäftigt. Diese Angaben berücksichtigen allerdings nicht ausreichend, dass sehr viele der Ärzt*innen mit öffentlicher Anstellung zusätzlich noch eine Privatpraxis führen. Bei einer Bevölkerung von inzwischen knapp 125 Millionen Menschen kommt in Mexiko ein Arzt auf etwa 340 Personen. Das entspricht in etwa dem Minimum, das die Weltgesundheitsorganisation (WHO), zu deren Mitgliedsstaaten Mexiko zählt, für eine angemessene Versorgung angibt (in der OECD kommen durchschnittlich knapp 300 Personen auf einen Arzt). Es gibt einen Mangel sowohl an Fach- wie Allgemeinärzt*innen. Verschiedene Regierungsstellen und Publikationen benennen das Ärzt*innendefizit für die kommenden Jahre mit bis zu 200 000 Stellen. Noch deutlicher ist der Mangel an Krankenpflegekräften. Hier empfiehlt die WHO sechs Kräfte pro tausend Einwohner*innen. In Mexiko kommen vier Krankenschwestern und Krankenpfleger auf tausend Einwohner*innen. (Zur Erinnerung: Im August hat der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, Pflegekräfte in Mexiko anzuwerben, um den Mangel in Deutschland zu reduzieren! – die Red.) Wie bei den Ärzt*innen existiert auch beim Pflegepersonal eine deutliche Ungleichverteilung im Land.
Die staatlichen Gesundheitseinrichtungen sind völlig überlastet. Egal ob ISSSTE, IMSS oder Volksversicherung: Die Patient*innen müssen sich in überfüllten Wartesälen in Krankenhäusern und Gesundheitszentren in der Regel auf stundenlange Wartezeiten einstellen. Was die fachärztliche Beratung im öffentlichen Gesundheitswesen anbelangt, so spricht der neue und gerade einmal 40-jährige IMSS-Generaldirektor Zoé Robledo von einem Stau von drei Millionen Untersuchungsterminen. 10 000 notwendige Operationen sind in der Warteschleife. Fehlendes Personal sowie kaputte oder veraltete medizinische Geräte haben zu dieser Warteschleife erheblich beigetragen. Und während der IMSS noch in den 80er-Jahren zwei Betten pro 1000 Versicherte zur Verfügung standen, sind es heute 0,64 Betten. Mit einem rigorosen Sparkurs konnte die IMSS in den letzten Jahren ihre Finanzen konsolidieren. Doch das ging auf Kosten der Versicherten. Robledo verspricht, die Perspektive zu ändern. Die angesparten Reserven sollen für bessere und umfangreichere medizinische Leistungen eingesetzt werden. Das gilt ebenfalls für die Medikamente. Vielfach werden im staatlichen Gesundheitssektor Medikamente verschrieben, die dann jedoch in den öffentlichen Einrichtungen nicht vorrätig sind und von den Patient*innen teuer in privaten Apotheken erworben werden müssen.
Die Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems führt zu mehreren miteinander verknüpften Effekten. Die Versicherten können ihre bestehenden Ansprüche auf eine angemessene öffentliche Gesundheitsversorgung nicht geltend machen. Sie weichen daher vermehrt auf den Privatsektor aus, vor allem in dringenden Fällen. Die dadurch für die Gesundheit zusätzlich aufgebrachten Kosten belasten die Haushalte zum Teil enorm und stürzen bei Notfällen oder chronischen Krankheiten ganze Familien in den Ruin. „Geld oder Leben“ bekommt hier eine weitere Bedeutung. Für den privaten Gesundheitssektor bedeuten die Defizite im öffentlichen Gesundheitswesen ein riesiges Geschäft. Angesichts einer in den kommenden Jahrzehnten stark alternden mexikanischen Bevölkerung wird die Nachfrage nach Gesundheitsversorgung weiter wachsen. Dazu kommen Übergewicht und Diabetes, die sich in den vergangenen 20 Jahren zu sprunghaft angestiegenden chronischen Volkskrankheiten entwickelt haben.
Selbst unternehmensnahe Einrichtungen wie das Mexikanische Institut für Wettbewerbsfähigkeit (IMCO) sehen die Probleme des vernachlässigten staatlichen Gesundheitssektors und sprechen sich für eine effektive allgemeine Krankenversicherung aus. So wies das IMCO in einer jüngsten Studie auf die reale Kürzung des Gesundheitsbudgets um 20 Prozent in der Regierungszeit von Präsident Enrique Peña Nieto hin. Es nannte die Zahl von mindestens 16 Millionen Mexikaner*innen, die faktisch völlig von einer Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind.
In ihrem gerade vorgelegten Nationalen Gesundheitsplan 2019 bis 2024 verspricht die Regierung, dem öffentlichen Gesundheitswesen einen neuen Impuls und eine neue Struktur zu geben. Die Aufgaben der Volksversicherung werden durch die per Gesetzesinitiative geschaffene Gesundheitsbehörde für das Wohlergehen (INSABI) absorbiert. Deren Leistungen sollen anders als bei der Volksversicherung alle Krankheiten abdecken. Den Anspruch darauf können alle in Mexiko lebenden Personen ohne sonstige Krankenversicherung erheben, nicht nur Mexikaner*innen. In einem ersten Schritt sollen im kommenden Jahr zusätzliche 40 Milliarden Pesos (1,9 Milliarden Euro) aus einem Sonderfonds für die INSABI zur Verfügung stehen. Das entspräche einer Aufstockung des staatlichen Gesundheitsetats um 20 Prozent. Was sich nach viel anhört, würde aber vorerst nur die Kürzungen der Vorjahre wieder ausgleichen.
Juan Antonio Ferrer, designierter Direktor des INSABI, kündigt an: „Wir beginnen bei den Gemeinden, nicht vom Schreibtisch aus.“ Den Anfang machen die südöstlichen Bundesstaaten, allen voran Chiapas. Ein wichtiger Punkt dabei ist die zügige Fertigstellung und Ausstattung begonnener oder modernisierter Krankenhäuser. Oft von Präsidenten und Gouverneuren frühzeitig eingeweiht, sind viele Hospitäler wegen Personalmangel und fehlender Endeinrichtung nie in Betrieb genommen worden. Solche Projekte bezeichnen die Mexikaner*innen spöttisch als elefante blanco en obra negra (nur unzureichend mit „Prestigebau im Rohzustand“ zu übersetzen). Die neue Regierung sprach von 317 solcher unfertigen Projekte im Gesundheitssektor zu ihrem Amtsantritt vor einem Jahr. Davon will sie 81 inzwischen abgeschlossen haben. Finanzielle Anreize sollen Ärzt*innen animieren, in ländlichen Regionen zu arbeiten. Auch an die Aktivierung von Ärzt*innen im Ruhestand ist gedacht.
Präsident López Obrador hat sich für ein staatliches Verteilsystem von Medikamenten eingesetzt, damit diese auch in entlegene Gemeinden kommen. Dass dies möglich sein muss, begründet er mit dem Hinweis auf Coca Cola. Tatsächlich ist das Unternehmen auch in kleinsten Gemeinden mit seinem Zuckeraufguss präsent. Dagegen werden viele abgelegene Gesundheitszentren nur unregelmäßig mit Medikamenten beliefert und können ihre Aufgaben nicht richtig wahrnehmen. Bei den Ausschreibungen für die staatlichen Medikamenteneinkäufe setzte die neue Regierung zum Teil Höchstpreise fest. Die Pharmaindustrie jammert, sie könne nicht einmal die Produktionspreise decken. Im Sommer kam es zu vorübergehenden Engpässen bei einzelnen Medikamenten, die Regierung sprach von Sabotage.
Ein Aufsehen erregender Fall war das in Mexiko häufig bei der Behandlung von Krebs bei Kindern (vor allem Leukämie) eingesetzte Methotrexat. Die Opposition nutzte dies aus, die Regierung anzuklagen, sie lasse die Kinder sterben. Letztere verweist darauf, dass es in der Vergangenheit ganz wenige Großunternehmen waren, die Medikamente und Krankenhausbedarf an die Regierung verkauften und eine fast monopolartige Stellung hatten. Die Abhängigkeit will sie unter anderem durch verstärkte direkte Zusammenarbeit mit kleineren Pharmalabors und Zulieferern sowie dem Einkauf von mehr Generika verringern. Die aktuellen Gesundheitsbehörden gehen zudem davon aus, dass zuvor einige Unternehmen bei Verträgen bewusst begünstigt und überhöhte Preise gezahlt wurden. Dies impliziert, dass staatliche Funktionär*innen dafür entsprechend belohnt wurden.
Es ist kaum vorstellbar, die Strukturen des mexikanischen Gesundheitssystems innerhalb kurzer Zeit umkrempeln zu können. Je mehr Verbesserungen es im öffentlichen Gesundheitssektor geben sollte, desto mehr Widerstand ist aus dem privaten Gesundheitssektor zu erwarten, der dann massive Gewinneinbußen befürchten müsste. Jeder ernsthafte Versuch, eine weitgehend kostenlose und angemessene Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu erreichen, die keinen Zugang zu den Krankenversicherungen in ISSSTE, IMSS oder bei privaten Versicherern hat, wird weitaus mehr Mittel erfordern als bisher dafür zur Verfügung stehen. Ein Anfang scheint dennoch gemacht. Nicht selbstverständlich in diesen Zeiten.