Weit mehr als eine historische Episode

Die an kreativen Ideen reiche Allende-Regierung in Chile war mit einem Projekt ganz sicherlich ihrer Zeit voraus: Das so genannten Cybersyn-Projekt sollte über ein System von Computern und Fernschreibern die verstaatlichten oder von den Belegschaften übernommenen Betriebe vernetzen. Auf diese Weise sollten Planung, Einkauf und Produktion dieser Betriebe koordiniert werden. Seine Feuertaufe erlebte das neu initiierte Projekt, als im Oktober/November 1972 die Privat-, vor allem die TransportunternehmerInnen in Kooperation mit den leitenden Angestellten großer Firmen, versuchten, die sozialistische Regierung der Unidad Popular ökonomisch zu erdrosseln. Mittels des gerade aufgebauten Cybersyn-Systems gelang es der Regierung, die Kapazitäten und den Fuhrpark der angeschlossenen vergesellschafteten Betriebe so abzustimmen, dass die Versorgung der Bevölkerung notdürftig aufrechterhalten werden konnte. Die ila 368 vom September 2013 berichtete kurz darüber.

Von seiner Idee der Vernetzung mithilfe moderner Informationstechnologie war das Cybersyn-Projekt, das von dem britischen Wirtschaftsberater Clifford Stoll und einem Team junger chilenischer WissenschaftlerInnen entwickelt worden war, ein Vorläufer des Internets. Gleichzeitig hatte es ein großes emanzipatorisches Potential, weil es die ökonomische Planung nicht in die Hände einer allmächtigen Bürokratie legte, wie in den Ländern des realen Sozialismus, sondern die Betriebe und Belegschaften direkt in die Entscheidungen einbezog. Die Leitung des Cybersyn-Projektes in Santiago hatte tatsächlich vor allem koordinierende Funktion und primär dafür zu sorgen, dass die einlaufenden Daten umgehend (mittels Lochkarten – ältere LeserInnen werden sich noch an diese heute archaisch anmutende Computertechnologie erinnern) in den Zentralrechner eingegeben wurden.

Eben dieses Cybersyn-Projekt steht im Mittelpunkt des Romans „Gegen die Zeit“ von Sascha Reh. Die Wahl des Themas ist durchaus überraschend. Zwar gibt es einige deutschsprachige Schriftsteller wie Fritz Rudolf Fries, Hugo Loetscher, Erich Hackl oder Robert Menasse, deren Romane und Erzählungen bisweilen in Lateinamerika angesiedelt sind. Aber alle genannten Autoren haben entweder zeitweilig in Lateinamerika gelebt oder sich als Übersetzer intensiv mit dem Subkontinent und seiner Literatur auseinandergesetzt. Bei dem in Duisburg geborenen und in Berlin lebenden Reh ist das nach den mir vorliegenden biographischen Daten nicht der Fall. Auch dass der Militärputsch gegen die Regierung Allende am 11. September 1973 für alle in den 70er-Jahren politisch sozialisierten AutorInnen ein wichtiges Datum war, dürfte Sascha Reh nicht tangiert haben – er wurde erst 1974 geboren, hat also auch keinen originären politischen Zugang zur Regierungszeit der Unidad Popular.

Natürlich ist das Thema, das ein Autor für einen Roman wählt, immer subjektiv begründet, aber ich registriere seit einiger Zeit mit Erstaunen und Freude, dass das, was zwischen 1970 und 1973 in Chile versucht wurde, offensichtlich eine ganze Reihe jüngerer Leute interessiert. Als die Düsseldorfer Lateinamerikagruppe alerta am 11. September 2013 im Rheinland zu einer Demo zum 40. Jahrestag des Militärputsches mobilisiert hatte, fiel mir auf, dass rund die Hälfte der 400 bis 500 DemonstrantInnen, die an jenem Mittwochabend in Düsseldorf an die gewaltsame Zerschlagung des sozialistischen Experiments in Chile erinnerten, nach 1973 geboren war.

Im Mittelpunkt von Sascha Rehs Roman steht der junge Designer Hans Everding, der mit einem Entwicklungshelfervertrag nach Chile kommt, um an der Universität zu unterrichten. Bald nach seiner Ankunft wird er eingeladen, an dem Projekt Cybernet, wie Cybersyn im Roman heißt, mitzuarbeiten. Wie die anderen, allesamt chilenischen Mitglieder des Teams, lässt er sich von der Ausstrahlung und dem Optimismus des britischen Projektleiters Stanley Baud mitreißen. Ebenso fasziniert ihn nach kurzer Zeit die Grafikerin Ana, die allerdings in einer festen Beziehung lebt und für ihn widersprüchliche Signale aussendet.

Von Beginn an spielt der Roman auf zwei Zeitebenen. Die eine beschreibt die Zeit nach dem Start des Cybernet-Projektes im Jahr 1971, dessen Fortschritte, die Diskussionen im Team und die durchaus schwierige Kommunikation mit den KollegInnen in den Betrieben, die zunächst erhebliche Zweifel an Sinn und Intention des Projektes haben, ihm gar eine Kontroll- und Zentralisierungsfunktion unterstellen. Indem kleine Geschichten und Episoden erzählt werden, reflektiert der Roman mit einem immer solidarischen Blick über die subjektiven und objektiven Probleme des Versuchs, in einem abhängigen Land einen anderen, selbstbestimmten Weg zu gehen.

Die zweite Handlungsebene beginnt mit dem Militärputsch am Morgen des 11. September 1973 und schildert die nächsten Stunden und Tage. Hans Everding und die anderen Mitglieder des Teams geraten sehr schnell ins Fadenkreuz der Repressionskräfte und müssen schwerwiegende Entscheidungen treffen, um zu verhindern, dass den Militärs sensible Daten in die Hände fallen, die ihnen ermöglichen würden, ihren Terror noch gezielter einzusetzen. Dabei sind die Militärs als sehr intelligent und subtil in ihren Methoden gezeichnet. So wird etwa ein deutschstämmiger Offizier auf Everding angesetzt. Er gibt vor, ihn zu schützen, führt in Wirklichkeit aber nur sehr geschickt die ihm zugedachte Rolle im Spiel guter Bulle/böser Bulle aus.

Zwischen diesen Zeitfenstern bewegt sich die Handlung des Romans, und es gelingt dem Autor, über 350 Seiten einen Spannungsbogen zu schaffen und seine LeserInnen immer wieder zu überraschen. Vor allem in der Beschreibung der Tage nach dem Putsch wird es immer schwieriger zu erkennen, wer wo steht, wer und warum wie agiert oder meint, agieren zu müssen. Das sind Elemente, die einen guten Thriller ausmachen – in dem vorliegenden Fall aber verdeutlichen sie vor allem auf erschreckende Weise, wie ausgeliefert Individuen in einer Situation absoluter Schutzlosigkeit und Isolation sind und wie wichtig es dann ist, sich seine ethischen und politischen Grundüberzeugungen bewusst zu machen.

Bei belletristischen Texten mit zeitgeschichtlichem Hintergrund ist es nicht einfach, eine Balance zwischen den historischen Fakten und der Geschichte, die ein/e AutorIn erzählen will, zu finden. Sascha Reh gelingt das souverän, er tappt nicht in die Falle, Dialoge zwischen historischen Akteuren zu imaginieren. Zeitgeschichtlich relevante Personen wie Salvador Allende, sein Wirtschaftsminister Pedro Vuscovic oder der schwedische Botschafter Harald Edelstam, der in den Tagen nach dem Putsch zu einem wichtigen Beschützer der Verfolgten in Chile wurde, behalten im Roman ihre Namen. Dann wiederum gibt es die Personen im Cybernet-Team, die der Autor als Romanfiguren mit anderen Namen einführt, auch wenn sie in vielen Fällen reale Vorbilder haben: So wird Clifford Stoll zu Stanley Baud und damit zur fiktiven Gestalt.

Mitunter wird im Feuilleton beklagt, dass es kaum noch politische Romane gäbe. An der Richtigkeit dieser Klage habe ich meine Zweifel. Bemerkenswert finde ich jedoch, dass sich Reflexion über gesellschaftliche Fragen und politische Kritik heute immer mehr ins Genre des Kriminalromans verlagern. „Gegen die Zeit“ ist kein Krimi und dennoch ein politischer Roman, der keineswegs nur die Regierungszeit der UP zum Thema hat, sondern vor allem die Frage nach der persönlichen und politischen Identität sowie der Verantwortung des/der Einzelnen reflektiert.