Wende in Argentinien

Nach Jahren des Neoliberalismus läutete der Wahlsieg von Néstor Kirchner im Jahr 2003 ein Projekt ein, das in Argentinien als „Kirchnerismus“ bezeichnet wird. Dieser ist alles andere als eine homogene Bewegung. In peronistischer Tradition handelt es sich vielmehr um einen losen Zusammenschluss verschiedener politischer Strömungen und sozialer Schichten, die vorübergehend bestimmte Ziele teilen.

Das gemeinsame Ziel war in diesem Fall der Kampf gegen den Neoliberalismus der 90er-Jahre, der zu der tiefgreifenden ökonomischen und politischen Krise von 2001 geführt hatte. Nach dem Ende der Amtszeit Néstor Kirchners im Jahr 2007 gewann seine Frau Cristina Fernández de Kirchner die Wahlen und regierte nach einer Wiederwahl im Jahr 2011 bis 2015. Während dieser zwölf Regierungsjahre trafen die beiden verschiedene Maßnahmen, um die Lebensbedingungen der benachteiligten Bevölkerungsschichten zu verbessern. Vor allem die Wiederverstaatlichung des Rentensystems, das in den 90er-Jahren nach chilenischem und US-amerikanischem Vorbild privatisiert worden war, führte zu mehr Verteilungsgerechtigkeit bei den Renten und ermöglichte verschiedene andere Sozialleistungen. Die wohl wichtigste ist die staatliche Unterstützung für Mütter und Schwangere. Diese erhalten auch alle, die in unregelmäßigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt oder arbeitslos sind. In Argentinien, wo 40 Prozent der Arbeitskräfte in nichtformellen Arbeitsverhältnissen tätig sind, also ohne Beiträge zur Rentenversicherung, Urlaub oder Krankenkasse, ist das besonders essentiell. Die Regierung Néstor Kirchners begünstigte aber auch ArbeitnehmerInnen mit formellen Arbeitsverträgen, indem sie die paritätischen Kommissionen wieder einführte, in denen GewerkschaftsvertreterInnen und ArbeitgeberInnen über Lohnerhöhungen und Arbeitsbedingungen verhandeln.

Die Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner waren zwar weniger radikal als jene von Juan Domingo Perón (1946-1955), die sämtliche Dienstleistungsunternehmen verstaatlicht hatte, lehnten sich aber an dieses Vorbild an. Nachdem die Regierung Menem (1989-1999) alle Staatsunternehmen privatisiert hatte, überführten die Kirchners wichtige Firmen wie die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas und die Ölgesellschaft YPF erneut in öffentliches Eigentum.

Die kirchneristischen Regierungen befürworteten das staatliche Eingreifen in die Wirtschaft, um Ungerechtigkeiten des Marktes auszugleichen. Beide versuchten, die kolossale Auslandsverschuldung des Landes abzubauen, teils durch Tilgung, teils durch Verhandlungen über einen Schuldenerlass. Als die Schulden beim Internationalen Währungsfonds mit Unterstützung Venezuelas vollständig abbezahlt waren, kappte Argentinien seine Beziehungen mit dieser Institution, um eine weitere Abhängigkeit zu vermeiden.

Die Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen wurde eingeschränkt, stattdessen verhandelten die argentinischen Regierungen mit lateinamerikanischen Nationen und den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. So versuchten sie, eine selbstständige Entwicklung voranzutreiben.

Die Regierung Néstor Kirchner genoss wegen des Verhandlungsgeschicks des Präsidenten die Unterstützung verschiedenster Gruppierungen. Besonders wichtig war die Zusammenarbeit mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaftsbewegung Hugo Moyano, der eine Führungsposition innerhalb der Peronistischen Partei (PJ) übernahm. So gelang es ihm, die Gewerkschaften an die kirchneristische Regierungspolitik zu binden.

Moyano hatte sich zuvor bereits gegen die neoliberale Politik der Regierungen von Menem und de la Rua engagiert. Mit seiner Bündnispolitik gelang es Néstor Kirchner jedoch, auch solche PolitikerInnen und GewerkschafterInnen, die Menem unterstützt hatten, für sich zu gewinnen.

Cristina Fernández de Kirchner war weniger diplomatisch. Zwar blieb die ökonomische und soziale Ausrichtung der Politik bestehen, jedoch wurde sie von einer wesentlich kleineren Basis getragen. Etliche ehemalige BündnispartnerInnen schlossen sich der Opposition an, allen voran Moyano, der kritisierte, dass zu wenige GewerkschafterInnen in die Wahllisten aufgenommen wurden.

Einige GewerkschafterInnen unterstützten Cristina jedoch weiterhin, und so führte der Bruch zwischen Cristina und Moyano zu einer Spaltung der ArbeiterInnenbewegung. Die verbliebenen RegierungsanhängerInnen aus dem gewerkschaftlichen Lager leisteten über ihre Zustimmung hinaus allerdings keinerlei Beitrag zur Regierungspolitik. Entgegen aller Traditionen hatte eine peronistische Regierung erstmalig keine Verbindung zur organisierten ArbeiterInnenbewegung. Die Ablehnung ging so weit, dass die ArbeiterInnen am 20. November 2012 einen 24-stündigen Generalstreik gegen die Regierung durchführten.

Mit Cristina änderte sich also die Allianzpolitik, nicht aber die Finanzpolitik. Die argentinische Regierung blieb unnachgiebig gegenüber den Geierfonds.[fn]Hochspekulative Investmentfonds (Hedgefonds), die Wertpapiere von Unternehmen bzw. Staaten weit unter dem ursprünglichen Wert kaufen, um später bei einer Restrukturierung den vollen Wert plus Zinsen zu erstreiten (vgl. auch den Beitrag in der ila 377)[/fn] Die Vereinten Nationen, allen voran die Entwicklungsländer und BRICS-Staaten, unterstützten Argentinien in dieser Position. Zusammen mit der Ablehnung der Auslandsverschuldung zwang dies die Regierung zu Dollarkontrollen, um drohende Kapitalflucht zu verhindern. Diese Kontrollen galten für Bewegungen des Großkapitals, trafen jedoch auch die kleineren SparerInnen, die ihre Ersparnisse üblicherweise in US-Dollar anlegen, damit sie nicht unter der Inflation leiden. So regte sich innerhalb der Mittelschicht Verärgerung über die Regierung.
Die Gesellschaft spaltete sich, jedoch nicht entlang der in anderen Zeiten üblichen Grenze zwischen Mittel- und Arbeiterschicht, sondern vielmehr zwischen „K und Anti-K“. Politische Gruppen, die anfangs neutral waren, sahen sich gezwungen, sich auf eine Seite zu schlagen; mehrheitlich entschieden sie sich für Anti-K. Auch GewerkschafterInnen, unter ihnen ehemalige KirchneristInnen, schlossen sich der rechten Opposition an.

Mauricio Macri hat nie einen Hehl aus seinen neoliberalen Plänen gemacht. Bis 2011 stand er deshalb relativ alleine da, konnte lediglich in der Hauptstadt Wahlen gewinnen. Dann gelang es seiner Partei PRO jedoch, mit anderen großen und kleinen politischen Gruppierungen die Koalition Cambiemos zu gründen. Die Bündispartner waren keine traditionell rechten Parteien, akzeptierten jedoch Macri als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Oktober 2015. Die PRO erreichte mit dieser Koalition eine Wählerschaft, die weit über die eigene hinausreichte. Gleichzeitig schrumpfte die kirchneristische Frente para la Victoria zu einer politischen Strömung.

Im ersten Wahldurchgang erreichte Kirchner-Kandidat Daniel Scioli mit 37 Prozent noch die meisten Wählerstimmen. Doch nach Feiern war eher seinem Gegner Mauricio Macri zumute. Dessen Ergebnis lag mit 35 Prozent zwar leicht darunter, jedoch war er sich der Stimmen derer sicher, die im ersten Wahldurchgang für den konservativen Peronisten Sergio Massa gestimmt hatten. Dieser dritte Kandidat war vom Kirchner-Lager zur Opposition übergetreten und stand Macri deutlich näher als Scioli. In der Stichwahl präsentierte sich der Kirchnerismus als einzige Option gegen den verhassten Neoliberalismus, doch letztlich kam Scioli nur auf 48 Prozent der Stimmen – zu wenig, um Macri die Stirn zu bieten.

Der neue Präsident zögerte nicht lange und traf mit Amtsantritt einige bereits angekündigte Maßnahmen, deren Umsetzung niemand so früh erwartet hätte. Zwei Umstände erleichterten dieses schnelle Vorgehen: Macri verfügt weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus über eine Mehrheit; beide befinden sich aber im Januar und Februar in den Ferien. Unter diesen Umständen darf die Exekutive Notgesetze erlassen, die erst später vom Kongress behandelt werden. Hinzu kommt, dass jede neue Regierung zunächst über einige Monate Gnadenfrist verfügt, in der die BürgerInnen sie gewähren lassen und ihre Entwicklung stumm beobachten. 

So konnte Macri ungehindert erste neoliberale Maßnahmen umsetzen: Der Peso wurde gegenüber dem Dollar um 40 Prozent abgewertet, der Import liberalisiert. Weiterhin wurden die Einschränkungen des Devisenhandels abgeschafft, die interne Preiskontrolle gelockert sowie die staatliche Subventionierung öffentlicher Dienste, etwa Elektrizität, aufgehoben.
Die Exportwirtschaft, besonders die AgrarexporteurInnen, freut sich über die Abschaffung der Exportsteuer für Bergbau- und Agrarprodukte (außer Soja), die von den Kirchners deutlich erhöht worden war. Das hatte es dem Staat ermöglicht, Teile der Gewinne aus dem boomenden Agrarexport abzuschöpfen und anderweitig zu investieren. Diese Gelder verbleiben jetzt wieder bei den ExporteurInnen und werden dem Staat künftig fehlen. Das Exportgeschäft ist damit für die AgrarproduzentInnen, zum Beispiel die Fleischwirtschaft, deutlich attraktiver geworden. Um auch auf dem Binnenmarkt ähnliche Gewinnmargen zu erzielen, wurden die internen Preise erhöht.

So sind während der letzten Monate die Preise in den argentinischen Supermärkten in die Höhe geschnellt. Macri und seine MinisterInnen behaupten, dass das von den Kirchner-Regierungen betriebene Eingreifen in die Wirtschaft Schuld an der Inflation und somit an den aktuellen Preiserhöhungen sei. Die Preise steigen jetzt zwar deutlich dramatischer als zu Zeiten der K-Regierung, doch kann sich Macri noch die angeschlagene Glaubwürdigkeit der kirchneristischen Regierung zunutze machen: Diese hatte, da die Inflationsrate nicht den Vorstellungen entsprach, kurzerhand das Erhebungsverfahren des staatlichen Statistikbüros (INDEC) geändert, damit die manipulierten Zahlen die Regierungspolitik in günstigeres Licht rückten. Doch der Skandal flog auf und spielte Macri in die Hände.

Die aktuellen wirtschaftlichen Maßnahmen verursachen nun nicht nur interne Preiserhöhungen, sie plündern zugleich den Staatshaushalt. Wenn die Einnahmen aus der Exportsteuer wegbrechen, die Bürger gleichzeitig bei den Banken Pesos in Spar-Dollar umtauschen und dazu der Dollarkurs steigt, wird der Dollar schon bald zur knappen Ware.

Genau das plant Macri und zielt auf Auslandsverschuldung als einzige mögliche Lösung. Macristen legen daher viel Wert auf die Verhandlungen mit den Geierfonds. Solange der aus der Kirchner-Zeit rührende Streit mit diesen nicht geklärt ist, kann Argentinien keine neuen Kredite aufnehmen, jedenfalls nicht mit günstigem Zinsniveau. Findet Macri aber eine Einigung mit den Geierfonds (das würde bedeuten, Schulden in Millionenhöhe anzuerkennen), steht einer neuen Verschuldung nichts im Wege und Macri kann die leere Staatskasse wieder auffüllen. Kreditaufnahme scheint für Macri die Lösung aller Probleme. Dadurch werden finanzielle Engpässe aber lediglich aufgeschoben und mit neuen Schulden alte Schulden bezahlt, wie schon in den 90er-Jahren. Mit seinen neoliberalen Methoden wird Macri aber versuchen, die Staatsausgaben, etwa für Sozialleistungen, zu senken und damit das Haushaltsdefizit etwas zu verringern.
Zugleich soll der Staatsapparat maßgeblich verkleinert werden. Die unzähligen UnterstützerInnen der Kirchner-Regierungen, die in verschiedenen Ministerien Anstellung gefunden hatten, müssen einem neuen Ministerium weichen: dem Ministerium für Modernisierung. Rauswurfministerium wäre wohl der treffendere Name.

Macri selbst sprach von 3 600 000 Staatsangestellten, eine Phantomzahl, die nichts mit der Realität zu tun hat. Sein Modernisierungsminister Ibarra geht von 342 000 Festangestellten, 65 000 befristeten ArbeitnehmerInnen und 37 000, die bei anderen staatlichen Stellen beschäftigt sind, aus. Bereits in den ersten zwei Monaten der Cambiemos-Regierung wurden mindestens 6200 von ihnen gefeuert, die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE sprach sogar von 27 000 Entlassenen. Dem darauf folgenden Aufruf zur Demonstration auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast folgten nach verschiedenen Angaben zwischen 20 000 und 70 000 Menschen. Macris Popularität nimmt zwar Umfragen zufolge bereits ab, von 61 auf 50 Prozent Zustimmung, ist damit aber weiterhin beachtlich. Er genießt eben noch seine Gnadenfrist. Mehrheitlich befürwortet die Bevölkerung sogar die Entlassungen von Staatsangestellten.

Außerdem geht die Regierung Macri gegen die sozialen Bewegungen vor: Die Festnahme der Aktivistin Milagro Sala, die sich für die marginalisierte Bevölkerung aus Jujuy einsetzt, sowie die Pläne zur Repression gegen Massendemonstrationen sind die ersten Warnzeichen.