Carolina ist nach der Tragödie bei Verwandten untergekommen, aber an eine Rückkehr in den Alltag ist noch nicht zu denken: „Hier sieht es aus wie in einem Kriegsgebiet. Es herrscht große Trauer. Menschen aus der Nachbarschaft sind gestorben, Haustiere sind tot. Alles ist voll Staub und Asche.“ Carolina berichtet, dass die staatlichen Hilfen nur schleppend anlaufen und noch nicht einmal klar ist, wie viele Wohnungen und welche Menschen betroffen sind: „Es gibt kein klares System für ein Notfallkataster. Teams laufen rum und befragen die Leute in dem betroffenen Gebiet. Aber es sind so viele: Es gibt Mieter*innen und Eigentümer*innen, andere leben bei Verwandten oder in informellen Siedlungen auf besetztem Gelände. Es gibt Grundstücke mit mehreren Häusern oder Behausungen auf Grundstücken, die als unbebaut gelten. Es ist schwer, da ein klares Bild zu bekommen. Vor Kurzem kam in den Nachrichten, dass der größte Teil der Registrierten gar keine wirklich Betroffenen waren. Solche Betrügereien passieren dann eben. Wer registriert ist, bekommt eine einmalige Zahlung von 750 000 Pesos, für die Bezahlung einer Unterkunft oder für Lebensmittel (etwa 730 Euro, Anm.d.Red.). Aber das reicht mit viel Glück gerade mal für einen Monat.“
Für den Wiederaufbau gibt es noch keine offiziellen Pläne. Carolina rechnet damit, dass sie dieses Jahr allenfalls die Außenwände ihres Hauses wieder aufbauen kann. Bis zur Fertigstellung wird es mindestens zwei Jahre dauern. Auf staatliche Hilfen wird sie dabei kaum zählen können: „Diese Brände sind eine ständig wiederkehrende Tragödie. In unserer Nachbarstadt Valparaíso ist der Staat zum Beispiel immer noch mit dem Wiederaufbau nach dem Brand von 2014 beschäftigt. Das geht alles sehr, sehr langsam. Der Staat ist gar nicht in der Lage, sich um so viel Wiederaufbau gleichzeitig zu kümmern. Wir stehen damit allein da.“
Das Forstsystem begünstigt Brände
In einem Artikel von 2023 hat Carolina zusammen mit ihrer MODATIMA-Kollegin Manuela Roya erklärt, wie das chilenische Modell der Forstwirtschaft die Zunahme der vielen Waldbrände befördert.[fn]http://modatima.cl/2023/02/13/no-sigamos-quemando-nuestro-futuro-critica-al-modelo-forestal-y-alternativas-para-la-proteccion-de-nuestros-territorios/[/fn] Am 7. Februar wurden mehr als 80 Brandherde gleichzeitig registriert. Der Statistik der Forstbehörde CONAF zufolge gab es in Chile in den letzten zehn Jahren 126 423 Waldbrände. 45 Prozent davon waren durch Brandstiftung verursacht. Anstelle der abgebrannten heimischen Wälder wurden vielfach Kiefern und Eukalyptus gepflanzt. Diese Plantagen verschärfen das Problem weiter, da sie dem Boden Wasser entziehen und leichter in Brand geraten. Die Forstwirtschaft für den Export begann 1974, unter der Diktatur Pinochets, mit dem Gesetz „Decreto de Ley 701“, das enorme Zuschüsse für den Anbau von Kiefer und Eukalyptus vorsah. Angestoßen wurde es von dem Schwiegersohn des Diktators und damaligen Leiter der Forstbehörde, Julio Ponce Lerou, der auch für die sogenannte „Agrar-Gegenreform“ verantwortlich war, mit der staatliche Ländereien privatisiert wurden. Kleinbäuer*innen und Mapuche-Gemeinden verarmten, und das Agrobusiness breitete sich aus. Gewinner dieses Modells waren die Großunternehmen. Die Familien Matti und Angelini besitzen zusammen 1,4 der insgesamt 2,3 Millionen Hektar Forstplantagen. Auch unter den verschiedenen Regierungen nach der Diktatur ging die Förderung der Plantagen weiter. Präsident Boric hat in seinem Regierungsprogramm angekündigt, das Dekret 701 aufzuheben. MODATIMA sieht hier eine Chance, dass nach der jahrzehntelangen Finanzierung der Forstwirtschaft zugunsten von zwei Familien nun endlich in die Regenerierung der heimischen Wälder investiert wird. Das wäre auch eine Maßnahme gegen die Klimakrise.
Feuer für eine Umgehungsstraße?
Steigende Temperaturen und Wassermangel tragen zur Ausbreitung der Brände bei. Als kritisch gilt die Formel „30-30-30“: Temperaturen von 30 Grad und mehr, eine Luftfeuchtigkeit von weniger als 30 Prozent und Windgeschwindigkeiten von über 30 Stundenkilometern. Hohe Temperaturen und starker Wind haben in Viña del Mar dazu geführt, dass sich die Brände mit großer Geschwindigkeit über die Hänge an die Wohngebiete heranfraßen. Als wichtigste Ursache der Katastrophe sieht Carolina jedoch die Immobilienspekulation. Immer wieder entstehen nach Waldbränden Immobilienprojekte auf der verbrannten Erde. Umweltschutzorganisationen hatten darauf hingewiesen, dass die Spur des Feuers dem Verlauf der geplanten Umgehungsstraße von Valparaíso entspricht. Schon bei früheren Bränden hatte diese Übereinstimmung den Verdacht aufkommen lassen, dass das von Umweltschützer*innen und indigenen Gemeinden kritisierte Straßenbauprojekt mithilfe von Brandstiftung durchgesetzt werden soll. Carolina hält die Berichterstattung der Zeitschrift „El Ciudadano“[fn]https://www.elciudadano.com/reportaje-investigacion/ruta-del-fuego-de-incendio-forestal-en-la-quinta-region-coincide-con-trazado-de-proyecto-del-mop-de-pinera/02/13/[/fn] über diese Hinweise für schlüssig: „Es würde mich nicht wundern, wenn das Feuer gelegt wurde, um den Straßenbau zu befördern und die Stadtgrenzen zu erweitern. Valparaíso ist die zweitgrößte Metropole Chiles. Da gibt es Konflikte um die Flächennutzung. Das Feuer brach an verschiedenen Stellen aus. Es wurden Personen mit brennbaren Materialien angetroffen. Im Botanischen Garten fanden sich Reste von Kanistern mit Brandbeschleuniger. Aber wer dafür verantwortlich ist, wurde noch nicht herausgefunden.“
Umweltschutzorganisationen hatten gefordert, dass das Gesetz zum Umgang mit Bränden, das seit Jahren als Entwurf vorlag, endlich verabschiedet wird. Es sollte das Verbot beinhalten, verbrannte Flächen für andere Nutzung umzuwidmen oder auf dem Gebiet verbrannter Wälder Gebäude zu errichten. Das hätte das Geschäft mit den Waldbränden durch Forst- und Immobilienwirtschaft verhindern können. Ausgerechnet diese Regelung wurde bei der Verabschiedung des Gesetzes Anfang März aber nicht angenommen.
Sicherheit und Solidarität
Der Brand von Viña del Mar hat alte Palmenwälder vernichtet, die teilweise unter Naturschutz standen. Der Botanische Garten zwischen den drei Gemeinden Valparaíso, Viña del Mar und Quilpué, ein wichtiges Naturschutzgebiet mit großer lokaler Biodiversität, wurde fast vollständig zerstört. In diesem Gebiet, das ebenfalls für die Umgehungsstraße vorgesehen ist, starb eine Familie, die dort an einem Projekt zur Saatgutzüchtung arbeitete. Auch viele informelle Siedlungen waren von den Zerstörungen betroffen. Diese Katastrophe, die alles andere als natürlich ist, trifft in erster Linie die Armen, erklärt Carolina: „Wir fragen uns, wie oft wir dieses Unheil noch ertragen müssen, wie viele Menschenleben es noch fordern wird. Viña del Mar und Valparaíso sind zu einer teuren Metropole geworden. Arme und Arbeitende werden an den Stadtrand verdrängt. Wir werden aus unserem Lebensmittelpunkt vertrieben und Opfer dieser Tragödien. Für Großprojekte und die Interessen der Metropolen wird über die Menschen und die Natur hinweggegangen. Wir leben in einem ständigen Notstand. Als Gesellschaft haben wir uns daran schon gewöhnt, an den Wassernotstand und dass auf Erdbeben oder Brandkatastrophen immer nur im Nachhinein reagiert wird. Es ist an der Zeit, beim Thema Sicherheit nicht nur an Kriminalität zu denken. Anstelle der Notfallpolitik muss es eine Politik für Sicherheit im Leben geben: dass grundlegende Bedürfnisse wie eine sichere Wohnung oder der Zugang zu Wasser gewährleistet sind und dass wir vor Bränden und Erdbeben geschützt werden.“
„Immer wieder aufzustehen ist nicht einfach“, meint Carolina. „Aber in solchen Momenten zeigen sich die besten Seiten der Menschen und die größte Solidarität. Die Aktivitäten der Compañeras und Compañeros haben uns zu Tränen gerührt. Morgen gibt es in unserem betroffenen Gebiet eine solidarische Aktion der Mapuche, mit spirituellen Ritualen und Spendensammlung. Dass verschiedenste Leute sich solidarisch zeigen, Aktionen organisieren, Plakate entwerfen, Spenden sammeln oder Suppenküchen einrichten, das macht uns Mut und hilft uns weiterzumachen.“
Die ila ruft dazu auf, die Spendensammlung über die Crowdfunding-Plattform gofundme zu unterstützen: