Wenn junge Ermittler alt aussehen

„Bleibt nur noch zu hoffen, dass sich bald eine Übersetzerin oder ein Übersetzer findet, der sich traut, den Roman ins Deutsche zu übertragen“, schrieb Gaby Küppers vor exakt fünf Jahren in der ila 408 (September 2017) über den Kriminalroman „The Bone Readers“ des in London lebenden grenadinischen Autors Jacob Ross. Nun, eine Übersetzerin, der es gelungen ist, die Kombination von Englisch und dem in den Dialogen verwendeten grenadinischen Kreol in ein lesbares Deutsch zu bringen, hat sich mit Karin Diemerling gefunden. Und auch ein renommierter Verlag, nämlich Suhrkamp, der das Buch in diesem Jahr unter dem wörtlich übertragenen Titel „Die Knochenleser“ auf Deutsch herausgebracht hat.

Ich habe den Roman, als er endlich auf Deutsch vorlag, mit Begeisterung gelesen, und stehe nun vor der schwierigen Aufgabe, unseren Leser*innen diese Neuerscheinung ans Herz zu legen, aber nicht all das zu wiederholen, was Gaby in ihrer euphorischen Besprechung in der ila 408 schrieb.

Die Rezensentin hatte damals hervorgehoben, dass Jacob Ross „Gesellschaft als Machtspiel zwischen Männern und Frauen denkt“. Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen. Das alleine wäre aber eher Thema spannender essayistischer Arbeiten feministischer Publizistinnen wie Rita Segato, Maristella Svampa oder Silvia Federici, deren Thesen und Bücher zu Geschlechterverhältnissen wir in letzter Zeit in der ila vorgestellt hatten.

Anders als die Genannten ist der 1956 geborene Jacob Ross ein Mann und ein Romanautor. Und er ist einer der letzten Überlebenden jener Gruppe junger Männer und Frauen, die zwischen 1979 und 1983 auf der Karibikinsel Grenada eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft versuchten. Hinter ihnen stand keine bewaffnete Organisation. Vielmehr waren es junge afroamerikanische Intellektuelle, die, geprägt durch die emanzipatorischen Ideen von 1968 – deren Symbolfigur in der Karibik zuvorderst der 1980 ermordete guyanische Historiker und Aktivist Walter Rodney war (für den es in „Die Knochenleser“ eine kleine Reminiszenz gibt) – und die in den USA entstandene „Black Power Bewegung“, das jahrhundertealte Erbe von Kolonialismus, Rassismus und Sexismus überwinden wollten. Das alles in einem Kleinstaat mit weniger als 100 000 Einwohner*innen, der bis 1974 britische Kolonie war und erst dann die Unabhängigkeit erlangte, jedoch Mitglied des Commonwealth blieb. Entsprechend war auch zwischen 1979 und 1983 die britische Großgrundbesitzerin Elizabeth Windsor, bekannt als Queen Elizabeth II., formelles Staatsoberhaupt Grenadas, vertreten vor Ort durch einen konservativen Generalgouverneur.

Stärker als jede andere revolutionäre Bewegung der 70er-Jahre stellten die Revolutionär*innen Grenadas – die ältesten unter ihnen wie Maurice Bishop, Unison Whiteman, Kendrick Radix und Jacqueline Creft waren in den Dreißigern, die jüngeren hatten gerade ihr Studium abgeschlossen – patriarchale Strukturen in Frage. Die nach der Revolution konstituierte National Women’s Organisation (NWO) verstand sich nicht als Transmissionsriemen einer Partei, um Frauen in deren politisches Projekt einzubinden, sondern sah das Empowerment der Grenadinerinnen als ihre zentrale Aufgabe an. Wegen dieses gesellschaftlich innovativen Ansatzes mobilisierte auch die kleine bundesdeutsche Grenada-Solidaritätsbewegung ihre bescheidenen Ressourcen für die NWO und unterstützte sie mit den Erlösen aus Solifesten, -konzerten und Spendensammlungen.

Zu den bemerkenswerten Projekten der Revolutionären Volksregierung Grenadas (People’s Revolutionary Government – PRG) gehörten ihre kulturellen Initiativen, etwa um Menschen, die häufig nur eine geringe Schulbildung hatten, zu befähigen, ihre Erinnerungen, Geschichten und Anliegen in Gedichten und Kurzgeschichten zu verarbeiten. Verantwortlich für diese Programme zeichneten vor allem zwei junge Autor*innen, die bereits durch erste Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht hatten und heute zu den wichtigsten Autor*innen der englischsprachigen Karibik zählen: Merle Collins (Jg. 1950) und Jacob Ross (Jg. 1956).

Nach dem Putsch gegen die PRG und der anschließenden US-Invasion gab es für die überlebenden Revolutionär*innen keine Zukunft mehr in Grenada, die meisten, so auch Jacob Ross, verließen die Insel (Ministerpräsident Maurice Bishop und mehrere andere Regierungsmitglieder waren am 16. Oktober 1983 während des Putschs ermordet worden. Nicht einmal ihre Leichen wurden nach der US-Invasion zur Bestattung freigegeben, sie blieben verschwunden).

Dies alles muss man für eine Lektüre des Romans „Die Knochenleser“ nicht unbedingt wissen, außer um die Widmung „Für Maurice. Für die Verschwundenen…“ zu verstehen. Aber es weist darauf hin, dass Jacob Ross nicht nur ein großartiger Autor ist, sondern einer, der die Verhältnisse, die er beschreibt, grundlegend verändern wollte. Dass Ross im Geschlechterverhältnis, konkret in der allgegenwärtigen Männergewalt und den Versuchen der Frauen, damit umzugehen, sie in ihren brutalsten Ausprägungen einfach nur zu überleben, das Grundübel der Gesellschaft Grenadas ausmacht, ist bemerkenswert. Es kommt für ihn noch vor den Besitzverhältnissen, den imperialen Einflüssen, den rassistischen Strukturen, die durch den Tourismus immer wieder gefestigt werden, oder der sehr lebendigen Religiosität und den damit verbundenen Möglichkeiten, Macht über Gläubige auszuüben. Von all dem erzählt der Roman, aber immer sind es die hierarchischen Geschlechterverhältnisse, die im Zentrum stehen.

Übrigens heißt Grenada im Roman „Camaho“, die ihm vorgelagerte, zum Staatenverband gehörende Insel Carriacou heißt „Kara Isle“, und aus der Hauptstadt St. George’s wurde St. Andrews. Weitere Verfremdungen hielt der Autor nicht für angebracht.

Aber wie wird aus all dem ein spannender Kriminalroman, den ich beim Lesen kaum aus der Hand legen konnte? Nun, dieses Genre bezieht seine Anziehungskraft daraus, dass die Leser*innen die Hintergründe und Verantwortlichkeiten für bestimmte Ereignisse und Taten erst Stück für Stück durch die Erkenntnisse der Ermittler*innen erfahren. Dass Kriminalromane – mehr als jede andere literarische Gattung – in den letzten Jahrzehnten auf spannende Art politische und gesellschaftliche Konflikte thematisieren, liegt unter anderem daran, dass sie durch Beschreibung der Ermittlungstätigkeit unterschiedliche gesellschaftliche Milieus ausleuchten und miteinander in Beziehung setzen können. Das alles macht auch Jacob Ross. Das Originelle an seiner Aufhellung der Hintergründe zu den untersuchten Verbrechen – mehrere Jahre zurückliegende Vermisstenfälle, bei denen nicht klar ist, ob die Opfer wirklich tot sind, weil keine Leichen gefunden wurden – ist, dass er seine geschlechtsspezifische Erzählperspektive auch auf die Ermittlungsarbeit anwendet. Alles, was die Sonderkommission der Polizei, allen voran Michael Digson, ein kritischer Intellektueller und Polizist wider Willen, dessen Vorgesetzter Malan, ein klassisch selbstgerechter Bulle mit einem schnellen Finger am Abzug, und Ex-Kripochef Chilman, ein kauziger und versoffener, aber hochintelligenter und -sensibler Kriminalist, recherchieren, ergibt nur Sinn, wenn es mit dem zusammengetragen wird, was die beteiligten Frauen um die Kripo-Quereinsteigerin Miss Stanislaus, die Polizeibeamtin Pet und die weiblichen Mitglieder einer rätselhaften Kirche ohnehin wissen, aber nur in sehr kleinen Portionen den ermittelnden Männern preisgeben können.

So sehen nicht nur die Polizisten immer wieder alt aus, sondern auch die Leser (wie es bei den Leserinnen ist, kann ich nicht beurteilen), weil die intellektuelle Herausforderung der Krimilektüre, nämlich schon vor der Auflösung am Ende des Buches zu wissen, wie und wer es war, bei „Die Knochenleser“ einfach nicht gelingen will. Da hilft nur, den Roman ganz zu lesen.

Die Rezension des englischen Originals von Gaby Küppers siehe hier in der ila 408. In der ila 260 (Nov. 2003) war die Erzählung „Oleanderstraße“ von Jacob Ross in der Übersetzung von Ludwig Laher erschienen.