Das Gespann Televisa und TV Azteca hätte bei einer grundlegenden und demokratischen Reform des mexikanischen Medienrechts einiges zu verlieren gehabt. Ein paar Zahlen belegen dies. In Mexiko existieren 461 kommerzielle Fernsehkanäle. Einige davon strahlen bundesweit aus, die meisten regional oder lokal. Doch die scheinbare Vielfalt erweist sich bei kurzem Hinsehen als Einfalt und Medienkonzentration in zwei Händen: Für 257 dieser Kanäle besitzt Televisa die Konzession, für 176 TV Azteca. Zusammen ist das ein 95-prozentiger Anteil am kommerziellen Fernsehen und nach Erhebungen 90 Prozent Zuschauerbindung. Die kommerzielle Radiolandschaft ist ein kleines bisschen bunter. Zehn Unternehmensgruppen, darunter die beiden erwähnten Sender, konzentrieren 75 Prozent der Konzessionen auf sich. Nur bei den Printmedien ist das Spektrum deutlich breiter. Die allerdings werden in Mexiko nur von einer Minderheit gelesen.
Die technische Entwicklung macht es möglich, dass auf dem Spektrum der Sendefrequenz, die von einem analog übertragenden Fernsehkanal benötigt wird, künftig drei oder vier digitale Kanäle koexistieren können. Derselbe Platz kann auch für Internetübertragungen oder Mobilfunknetze genutzt werden. Dies bietet die Aussicht auf lukrative Geschäfte, wie der Medienexperte Raúl Trejo Delabre[fn]Dieser Artikel beruht zu großen Teilen auf Informationen, die Trejo in einem langen Beitrag «Das Gericht und die Medien» für die mexikanische Zeitschrift «nexos» im Juli 2007 veröffentlichte.[/fn] beschreibt: „Jeder Fernsehkanal belegt sechs Megahertz eines immer stärker mit Signalen verschiedener Telekommunikationsdienste gesättigten radioelektronischen Spektrums. Bereits vor zwei Jahren wurde der Marktwert eines Megahertz in den dicht besiedelten Regionen Mexikos auf fünf Millionen Dollar geschätzt.“ Trejo zitiert zudem den Vorsitzenden des mexikanischen Berufsverbandes der Ökonomen, der den heutigen Marktwert eines Megahertz für einen Fernsehsender mit landesweiter Ausstrahlung mit knapp 23 Millionen Dollar angibt. Televisa verfügt mit seinen erwähnten 257 Kanälen über ein Breitbandsystem von insgesamt gut 1500 Megahertz. Es geht also um Milliarden.
Die Fernsehgewaltigen hatten im Kommunikationsministerium und mit dem konservativen Präsident Vicente Fox verlässliche Partner. Schon im Juni 2004 hatte das Ministerium beschlossen, jedem Fernsehsender eine zusätzliche Konzession für eine weitere Frequenz mit sechs Megahertz zu übergeben. Auf dieser, so die Idee, sollte in einer Übergangszeit von 17 Jahren derselbe Inhalt, aber in digitaler HD-Qualität (High Definition), ausgestrahlt werden. Nach dem für Ende 2021 angestrebten vollständigen Übergang zur Digitaltechnik ist die Rückgabe der zusätzlichen Frequenz an den Staat vorgesehen. Doch welch Zufall: Ein festgelegtes Verfahren, in dessen Rahmen die Konzessionäre die zusätzliche Frequenz zurückzugeben hätten, fehlt, wie Trejo bemerkt. Er bemängelt zudem: „2004 entschied die mexikanische Regierung, dass wir dieselben bisher bestehenden Optionen des mexikanischen Fernsehens haben, nur im HD-Format.“ Stattdessen sei genauso gut denkbar gewesen, auf diesen Frequenzen zwei oder drei neue Kanäle – mit Digitaltechnik, aber nicht in HD-Qualität – zu fördern, um ein vielfältigeres Angebot zu haben. Eine weitere Unterlassungssünde: Den Sendern wird nicht verboten, in der Zeit, in der sie kein HD-Fernsehen auf der neuen Frequenz übertragen, andere Telekommunikationsdienste anzubieten und zu verkaufen oder dies parallel zu tun, wenn die HD-Technologie weiter fortschreitet und weniger Platz beansprucht. Ein 17-jähriger Freibrief für Televisa und TV Azteca, die zusammen statt über 433 nun über 866 Konzessionen verfügen können.
Ihre vorteilhafte Ausgangssituation wollten die Fernsehsender bei einer Reform keinesfalls aufgeben, sondern vielmehr ausbauen. Was macht man in solch einem Fall? Televisa fand die naheliegende Lösung: Man verfasst das angestrebte Gesetz mit Hilfe hauseigener und externer Juristen am besten selbst, setzt neben dem eigenen Führungspersonal noch Consultingfirmen für die stille Lobbyarbeit bei Regierung und Parlamentsmitgliedern aller Fraktionen ein und schickt dann einen strebsamen Abgeordneten vor, der dieses Ley Televisa (Televisa-Gesetz) als Eigeninitiative einbringt. Das mexikanische Wochenmagazin
«Proceso» hat dieses Verfahren in mehreren Ausgaben der vergangenen zwei Jahre detailliert dokumentiert.
Die Anstrengungen des Juristenteams von Televisa richteten sich vor allem auf zwei Ziele, nämlich die Vereinbarungen mit dem Kommunikationsministerium aus dem Jahr 2004 in Gesetzesform zu gießen und die weitere Expansion und Marktbeherrschung zu möglichst günstigen Bedingungen zu garantieren. Während beispielsweise kommerzielle Mobilfunkanbieter hohe Summen für das Recht zahlen mussten, das radioelektronische Spektrum nutzen zu dürfen, schlug das Ley Televisa eine Alternative vor. Die Fernsehsender sollten über neu gewonnenen Platz ihrer Frequenzen im Rahmen der bisherigen Konzessionen frei verfügen können, ohne einen einzigen Peso dafür zu zahlen. Eine Kurzmitteilung an die staatliche Kontrollbehörde, die darüber informiert, dass die Frequenz nun auch für Telefondienste oder das Internet genutzt wird und damit genug. Das bedeutet angesichts des genannten Marktwertes pro Megahertz ernorme Einsparungen, ein rundes Geschäft.
Gleichzeitig ließ sich der think tank von Televisa eine originelle Regelung für die potentielle Erteilung neuer Konzessionen einfallen. Sie sah vor, solche Konzessionen ganz demokratisch an die meistbietenden Unternehmen zu versteigern, andere Auswahlkriterien spielen keine Rolle. Das schützt Televisa als größten und finanzstärksten Medienkonzern Lateinamerikas vor unliebsamer Konkurrenz, mit TV Azteca wird man sich schon einig. Wer nicht mitbieten will, selbst schuld. Die Meinung der im Fall des Ley Televisa kritischen Nationalen Wettbewerbskommission bei den Versteigerungen anhören – zukünftig überflüssig. Da der Sender Planungssicherheit braucht: Konzessionen mit einer Laufzeit von 20 Jahren, die sich praktischerweise automatisch verlängern. Für die Genehmigung gemeinnütziger, nicht auf Gewinn abzielender neuer Rundfunksender dagegen wurde ein umständliches und hindernisreiches Verwaltungsverfahren vorgeschlagen.
Zunächst lief alles nach Plan. Ein PRI-Parlamentarier brachte das Ley Televisa im letzten Novemberdrittel 2005 ins Abgeordnetenhaus ein. Daran, dass dieser Abgeordnete weder Erfahrung im Thema Telekommunikation aufwies noch jemals zuvor Interesse dafür gezeigt hatte, störte sich niemand. Beschränktes Interesse an längeren inhaltlichen Diskussionen gab es ebenso in den zuständigen Ausschüssen, wo der Entwurf durchgereicht und abgesegnet wurde. Die Lobbyisten hatten ganze Arbeit geleistet. So kam das Gesetz bereits wenige Tage später, am 1. Dezember 2005, ins Plenum. Die 327 anwesenden Abgeordneten verabschiedeten es einstimmig und ohne jegliche Debatte. Besonders traurig einmal mehr die Figur, die die linksmoderate Oppositonspartei der Demokratischen Revolution (PRD) abgab. Oft genug ist die Partei von Televisa und TV Azteca diffamiert worden. Doch fortschrittliche Medienpolitik im Detail ist nicht die Sache der PRD-Abgeordneten. PRD-Mann Pablo Gómez, der als Vorsitzender des Koordinierungsausschusses sogar die „schnellstmögliche“ Verabschiedung des Ley Televisa im Plenum forderte, gab später als Ausflucht zu Protokoll, den Entwurf nicht gelesen zu haben.
Die Fernsehkonzerne konnten sich schon die Hände reiben. Die noch notwendige Abstimmung im mexikanischen Senat schien nur eine Formsache, die ebenso leise über die Bühne gehen würde. Doch die Debatte, die die Abgeordneten nicht wollten, wurde auf einmal mit immer heftigerer Intensität in der Gesellschaft geführt. Nachdem die Einzelheiten des Ley TeIevisa bekannt wurden, prangerten ganze Berufsverbände, kleine Radiosender, NRO, die große Mehrheit der ExpertInnen und auch einige Senatoren in seltener Einigkeit die rein kommerzielle und auf Pfründensicherung ausgerichtete Perspektive des Gesetzes an. Trotz des wachsenden Widerstandes war das Ergebnis aber im Senat festgezurrt. Am 30. März 2006 stimmte eine Senatorenmehrheit aus PAN und PRI die mutigen Abweichler in den eigenen Reihen und die umgeschwenkte PRD nieder. Die Außenwirkung war jedoch desaströs. Denn während die Dissidenten in der 13-stündigen Abschlussdebatte ein fundiertes Argument nach dem anderen gegen das Ley Televisa vorbrachten, verzichtete die schweigende Mehrheit so gut wie ganz auf eine Verteidigung des ihnen angetragenen Anliegens. Mit gutem Grund. Zu offensichtlich war der Deal geworden. Die Führung der PRI wie auch der regierenden Partei der Nationalen Aktion (PAN) wollte es sich in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes nicht mit dem Fernsehduopol verderben. Vor allen Dingen die PAN brauchte wenige Monate vor dem Urnengang im Schmutzwahlkampf gegen den PRD-Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador die ganze Unterstützung der Medien. Und die war von Televisa und TV Azteca nicht umsonst zu haben. Der PAN-Kandidat und heutige Präsident Felipe Calderón legte sich in der Öffentlichkeit nicht auf eine klare Position fest, forderte aber nach Informationen von «Proceso» bei den Senatoren die Unterstützung des Ley Televisa ein. Santiago Creel, Senator in der neuen Legislaturperiode und damals in der PAN-internen Kandidatenausscheidung Calderón unterlegen, sagte im April 2007 in einem Interview bezüglich des Abstimmungsprozesses: „Es handelte sich bei der Angelegenheit eher um ein Aufzwingen als ein Verhandeln.“ Ex-Präsident Vicente Fox, in seiner Amtszeit stets ein Freund der großen Unternehmensgruppen, hätte das Gesetz mit einem Veto verhindern können. Stattdessen beeilte er sich, es zu veröffentlichen.
Paradoxerweise war es ausgerechnet der PAN-Senator Javier Corral, der in den Folgewochen 46 weitere KollegInnen von PRI und PRD überzeugte, das Ley Televisa vor dem Obersten Gerichtshof Mexikos als in wesentlichen Punkten verfassungswidrig anzuklagen. Corral, dessen Zugehörigkeit zur PAN im Grunde ein Rätsel bleibt, ist ein Kenner der Materie und setzt sich seit Jahren für eine demokratischere Medienverfassung ein. Im Moment ohne weitergehende politische Ambitionen konnte er nicht unter Druck gesetzt werden und hielt auch einer Diffamierungskampagne von Televisa und TV Azteca stand. Der Lohn war das Urteil des Verfassungsgerichtes.
Von Ende Mai bis Anfang Juni 2007 erklärte das mexikanische Verfassungsgericht nach mehrmonatigen Beratungen und Expertenanhörungen die wichtigsten Paragraphen des Gesetzes für ungültig. Zumindest über Pay-TV konnten die entscheidenden Sitzungen live verfolgt werden. Die auf 546 Seiten niedergelegte Argumentation des Verfassungsrichters Salvador Aguirre Anguiano, die er dem Plenum seiner Kollegen vortrug, war zuvor im Internet öffentlich einsehbar. Ein Präzedenzfall. Den Richtern, mehrheitlich nicht unbedingt für fortschrittliche Positionen bekannt, war die permanente Desinformation in Televisa und TV Azteca wohl einfach zu viel und zu dreist. Deutlich kritisierte Aguirre die exzessive Konzentration der Rundfunkmedien in den Händen weniger Unternehmer: „Dem Staat wird seine kurz-, mittel- und langfristige Lenkungsfunktion bei der Planung eines effizienten Betriebs des radioelektronischen Spektrums genommen, indem, obwohl es sich um ein knappes öffentliches Gut handelt, erlaubt wird, dass seine Nutzung durch die Konzessionäre bestimmt wird.“
Zur öffentlichen Versteigerung neuer Konzessionen und dem Argument, diese werde Willkürentscheidungen der Regierung verhindern, bemerkte er: „Das transformiert die vorherige Willkür nur in ein klar antidemokratisches und in ökonomische Macht übersetztes Kriterium… Dies verfälscht nicht nur die Dienstleistungsessenz des Rundfunks, sondern verletzt Verfassungsprinzipien und internationale Verträge, die darauf abzielen, den Zugang zu Rundfunkdienstleistungen unter gleichen und gerechten Bedingungen zu sichern.“ In ähnlich klaren Worten seine Kollegin Olga Sánchez: „Die Unternehmen zielen immer auf Gewinnmaximierung ab… Der Umstand, dass die Medien in wenigen Händen konzentriert sind, verzerrt das Recht auf Information, denn es erlaubt denjenigen, die die Kontrolle über diese Medien haben, die öffentliche Meinung im Sinne ihrer Interessen zu manipulieren und zu formen sowie zu verhindern, dass das Publikum in signifikanter Weise zur politischen Debatte… beitragen kann.“ Der Oberste Gerichtshof erklärte im Wesentlichen alle aufgeführten Tricks, mit denen das Ley Televisa den Konzernen Vorteile verschaffen wollte, für verfassungswidrig. Er betonte die soziale Funktion, die der Rundfunk verfolgen muss, die notwendige Pluralität der Programminhalte und die staatliche Kontrollpflicht des radioelektronischen Spektrums. Die neuen Senatoren und Abgeordneten müssen das bei der „Reform der Reform“ beachten.
Zu Euphorie gibt das Urteil dennoch keinen Anlass. Zu groß ist der Einfluß von Televisa und in geringerem Maße TV Azteca auf die Politik, als dass der mexikanische Kongress auf einmal ein völlig gegen ihre Interessen gerichtetes Gesetz erarbeiten würde. Den Verfassungsrichtern so gerade Genüge tun, ohne das Medienduopol wirklich zu schädigen, das ist unter den gegebenen Kräfteverhältnissen die wahrscheinlichste Tendenz. Die Rechtsberater der Fernsehsender werden dabei gerne behilflich sein. Gegen das inhaltliche Angebot von Televisa und TV Azteca hilft wohl nur das jüngst zu seinem 30. Todestag viel zitierte Rezept von Groucho Marx: „Fernsehen bildet. Immer, wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.“