Die Geschichte der Rockmusik in Lateinamerika ist vom US-amerikanischen Imperialismus geprägt, was dazu führte, dass Rockfans vor allem in den 60er- bis 80er-Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern, wie etwa Cuba oder Chile, Repressionen ausgesetzt waren. In Cuba war Rockmusik aufgrund des Konfliktes mit den USA verboten, in den rechten Diktaturen Südamerikas wurde sie geächtet, da befürchtet wurde, dass diese Musik die Menschen dazu inspiriere, gegen die Regierung aufzubegehren. Erst in den 90er-Jahren wurde Rockmusik in allen lateinamerikanischen Ländern entkriminalisiert.
Man könnte meinen, dass Rock eine inhärent westliche und weiße Musikrichtung sei. Die großen Zentren der Rockmusik sind New York und London. Und der einzige Künstler in der „Rock’n‘Roll Hall of Fame“ mit lateinamerikanischer Herkunft ist Santana. Bands wie die Beatles, die Rolling Stones oder Queen kennen die meisten Menschen, sowohl in Lateinamerika als auch in den USA oder Europa. Hört man aber Namen wie Los Prisioneros (Chile), Charly García (Argentinien) oder Molotov (Mexiko), wissen nur wenige, wer das ist, geschweige denn, welche Relevanz diese Musiker innerhalb ihrer jeweiligen Musikszenen haben. Auch die Wurzeln des Rock’n’Roll werden oft vergessen. Denn ihren Ursprung findet die hybride Musikrichtung eben im Zusammenspiel von weißen, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Künstler*innen aus Rhythm & Blues, Swing und Folk. Durch die Beatles findet dann ein Boom der Rockmusik in Großbritannien und den USA statt. Ab diesem Moment werden überwiegend weiße Rockmusiker*innen von den Plattenlabels gefördert, während Musik von afroamerikanischen Künstler*innen unter dem Genre Soul vermarktet wird. Später werden daraus neue Richtungen wie Funk und danach Hip Hop entstehen, Genres, die bis heute unter dem Überbegriff Black Music zusammengefasst werden.
Wie kommt es nun, dass gerade junge indigene Musiker*innen diese Musikrichtung als Ausdrucksform für sich annehmen? Vielleicht, weil sie sich dadurch als Indigene in der globalisierten Welt positionieren können. Die verschiedenen Bands, die im Hochland von Chiapas entstanden sind, fusionieren Instrumente und Klänge ihrer Kultur mit E-Gitarren und Verzerr-Effekten. Bands wie Sak Tzevul (Weißer Blitz), Lumaltok (Nebel), Vayijel (Wächtertier), Yibel Metik Balamil (Die Wurzel unserer Erde), Uyuj (Tierwesen), Yochob (Zwischenwelt), Xkukav (Leuchtkäfer), Ik’al Joj (Schwarzer Rabe), Ik’al Ajaw (Schwarzer Herr), singen auf einer der vielen Mayasprachen der Region und fördern dadurch deren Erhalt. In Chiapas gibt es zwölf indigene Sprachen, die auch in der Verfassung anerkannt sind. Die meisten der oben genannten Bands singen auf Tzotzil und Tzeltal. Wenn sie mit ihrer Musik in der mexikanischen Rockszene groß rauskommen wollten, wäre es wohl lukrativer, wenn sie auf Spanisch singen würden. Außerdem hat die Tzotzil-Sprache so viele lokale Variationen, dass sich selbst Tzotziles untereinander nicht immer verstehen. Genau darum geht es aber. Denn durch den Gesang in der eigenen Muttersprache erschaffen sie eine eigene kulturelle Identität für eine junge Bevölkerung, die zwar ihre Wurzeln nicht verlieren möchte, aber trotzdem daran interessiert ist, „westliche Kulturgüter“, zum Beispiel in Form von Rockmusik, zu konsumieren. Es wird eine Brücke zwischen der eigenen Kultur und transnationalen kulturellen Phänomenen geschlagen. Außerdem eröffnet es einen neuen Raum für indigene musikalische Praktiken, die sonst dem zeremoniellen Rahmen vorbehalten waren. Ein musikalischer Ausgangspunkt ist zum Beispiel der Bolom Chon, ein bekanntes Lied der Tzotziles, Tzeltzales und Tojolabales, die in Chiapas leben. Dieser „Tanz des Jaguars“ wird unter anderem mit Gesang, Gitarre, Akkordeon, Harfe und Trommeln begleitet und bei rituellen Veranstaltungen gespielt. Eine Rockversion des Liedes gibt es von der Band Sak Tzevul. Die Grenzen zwischen den Musikrichtungen und -traditionen verschwimmen. Die Musiker schaffen ihre eigene Definition davon, was es in der heutigen Zeit bedeutet, indigen zu sein. So sagt die Band Vayijel über ihre Musik: „Wir haben uns fest vorgenommen, die Weltsicht eines der Tzotzil-Völker zu bewahren, das dafür bekannt war, kriegerisch und standhaft seine Kultur zu verteidigen. Deshalb folgt Vayijel den angestammten Fügungen seines Volkes und singt auf Tzotzil, der Muttersprache aller Bandmitglieder, über die Erfahrungen der jungen Maya. Durch die Rockmusik wird ein Synkretismus zwischen dem Geist der traditionell-
religiösen Musik San Juan Chamulas mit den unausweichlichen Einflüssen der westlichen Musik geschaffen.“ Es werden sowohl Themen, die die Lebensrealität und die Weltsicht der indigenen Jugendlichen betreffen, angesprochen, als auch Kritik an sozialen Ungleichheiten und Umweltproblematiken geübt.
In anderen Regionen Mexikos und im angrenzenden Guatemala gibt es ebenfalls Rockmusik von indigenen Künstler*innen. Warum es gerade in Chiapas eine große Anzahl an indigenen Rockbands gibt, hat mit mehreren soziokulturellen Faktoren zu tun. Zum einen die Verfassungsänderung in Mexiko von 2011, welche die Debatte um lokale Kulturen und indigene Gruppen wieder angefacht hat. Anfang der 2000er-Jahre, als die zapatistische Bewegung viel internationale Aufmerksamkeit bekam, fanden in Mexiko-Stadt viele Konzerte in Solidarität mit den Zapatist*innen statt. Ein Zusammenschluss von lateinamerikanischen Musiker*innen veröffentlichte die CD Juntos por Chiapas. Das führte zur steigenden Bekanntheit der Region und dazu, dass sich indigene und internationale junge Musiker*innen vernetzen konnten. Darüber hinaus gab es auch auf Ebene der Städte und des Bundesstaates Chiapas bestimmte Projekte, die die Entstehung von Rockbands förderten, wie zum Beispiel staatlich organisierte Konzerte und Festivals. Der Sänger von Sak Tzevul erzählt, dass er seine erste E-Gitarre durch eine staatliche Förderung bekam, dem „Programm zur Unterstützung von populärer Kultur“ (PACMyC).
Lumaltok bewerben über Facebook ihr neues Album wie folgt: „Das Album bietet ein weites Spektrum an musikalischen Einflüssen, zum Beispiel Rockabilly in Svabajel Pukuj (Der Rhythmus des Teufels); einen klassischen Blues im Lied Sik (Kälte), bis hin zu Hard Rock und Country in einigen der Songs. Die Themen, die uns beschäftigen, sind unter anderem Frauenmorde, Migration und Freiheit“. Auch wenn die indigene Identität ein prominentes Merkmal dieser Bands ist, geht es am Ende doch um die Musik. Und die ist aus vielen Richtungen inspiriert. Die Begriffe „Ethnorock“ oder „Indigener Rock“ greifen etwas zu kurz, um die ganze Bandbreite der Einflüsse und Sounds zu beschreiben. Lumaltok bezeichnen ihren Musikstil deshalb kurzerhand als „Psicodelic Pox Blues“.
Es lohnt sich, weiter zu forschen und über den Tellerrand zu schauen. Denn ob Rockmusik auf Tzotzil, Trap auf Quechua (wie ihn etwa Renata Flores aus Peru macht) oder non-binary Rap auf Mapusungun (wie bei „Kümelen Berti“ alias PAZ aus Argentinien) – die lateinamerikanische Musikszene hat einiges zu bieten, sowohl musikalisch als auch inhaltlich. Indem wir diesen multilingualen Künstler*innen zuhören und ihnen Gehör verschaffen, tragen wir auch zur Unterstützung ihrer politischen Forderungen bei.