Der Krieg in Afghanistan ist ein internationaler Konflikt. Auf der einen Seite stehen US-amerikanische und europäische Truppen sowie die von diesen ausgerüstete afghanische Armee, die die „Sicherheitsinteressen“ des Westens und von Teilen der lokalen Eliten verteidigen, auf der anderen Seite die rechtsklerikalen Taliban, unterstützt von den reaktionären Regimen der Golfstaaten und einem anderen Teil der afghanischen Eliten. Daneben agieren noch verschiedene Warlords, die ihre Truppen und Waffen an den/die Meistbietenden vermieten und häufig auch im Drogenhandel mitmischen. Zwischen diesen Kriegsparteien steht die große Mehrheit der 30 Millionen AfghanInnen, die seit mehr als drei Jahrzehnten unter den bewaffneten Konflikten in ihrem Land leiden.
Mit den westlichen Truppen kam die internationale Entwicklungszusammenarbeit ins Land, um – so die Theorie – die Lebensbedingungen der AfghanInnen zu verbessern und deren Herzen und Köpfe zu gewinnen. Doch die internationale Mission in Afghanistan ist nur bedingt erfolgreich. Die Taliban sind keineswegs besiegt, sondern scheinen sogar wieder an Einfluss zu gewinnen, was vor allem daran liegt, dass sich die wirtschaftliche und soziale Lage der afghanischen Bevölkerung seit Beginn der Militärintervention kaum verbessert hat.
In dieses vom Krieg erschütterte Afghanistan ging 2007 der in Hamburg geborene Deutsch-Bolivianer Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, um dort mit der von dem Brasilianer Augusto Boal entwickelten Methode des „Theaters der Unterdrückten“ zu arbeiten. Der 2009 verstorbene Boal war in den 60er-Jahren ein politisch engagierter Theatermacher, der mit seiner Truppe durch Brasilien tourte und in seinen Stücken zum Widerstand gegen das Militärregime aufrief. Als die SchauspielerInnen gefragt wurden, wie man sich ihren Widerstandsaktivitäten anschließen könnte, mussten sie eingestehen, dass sie nur Theater spielten und nicht wirklich an politischen Aktionen beteiligt waren. Für Boal und seine MitstreiterInnen war das der Ausgangspunkt, sich vom klassischen Bühnendualismus – hier SchauspielerInnen, dort Publikum – zu verabschieden und neue Formen der Theaterarbeit zu entwickeln. Ähnlich wie bei der „Pädagogik der Unterdrückten“ seines Landsmanns Paulo Freire wollte Boal den AdressatInnen seiner Theaterarbeit keine fertigen Konzepte mehr überstülpen, sondern mit ihnen in Dialog treten. So stellen die – meist nicht professionellen – DarstellerInnen etwa einen Konflikt dar, um dann zusammen mit dem Publikum verschiedene Möglichkeiten zu dessen Lösung zu diskutieren und durchzuspielen. Oder die ZuschauerInnen können eine Szene per Zuruf stoppen, wenn sie meinen, dass darin etwas „falsch“ läuft. Das Ziel ist ein emanzipatorischer Prozess, in dem die Menschen verstehen, dass sie gemeinsam Handlungsoptionen entwickeln können und nicht bloß die von den Herrschenden als „alternativlos“ propagierten Politiken existieren.
So viel in aller Kürze zum Theater der Unterdrückten, hinter dem sich sehr differenzierte Techniken und Übungen vereinen, die an ganz unterschiedlichen Orten (öffentlicher Raum, Theatersaal, geschlossene Seminarveranstaltung oder Workshop) mit jeweils unterschiedlichem Publikum realisiert werden können (vgl. dazu die Beiträge von Till Baumann in der ila 326, 335, 346, 354, 371 und von Isabel Cárcamo in der ila 375).
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn hatte schon mehrere Jahre mit der Methodik des „Theaters der Unterdrückten“ gearbeitet und dazu in verschiedenen Ländern Seminare, Workshops und Fortbildungen durchgeführt. 2007 ging er dann als „Fachkraft“ des damals noch existierenden Deutschen Entwicklungsdienstes (DED)[fn]Der DED ist inzwischen in der „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) aufgegangen.[/fn] nach Afghanistan, um dort mit Boals Ansatz Theaterarbeit im Rahmen friedenspädagogischer Projekte zu machen. Seine dabei gemachten Erfahrungen schildert er in dem Buch „Wenn die Burka plötzlich fliegt“.
Bevor er allerdings über seine Theaterarbeit berichtet, erfahren die LeserInnen manches über das Leben in Afghanistan und die Praxis der internationalen „Entwicklungszusammenarbeit“ vor Ort. Für mich durchaus überraschend ist die Beschreibung der Lebensbedingungen der großen Mehrheit der BewohnerInnen der Hauptstadt Kabul. Nach wie vor leben die meisten Menschen dort ohne Zugang zu fließendem Wasser. Strom gibt es, wenn überhaupt, nur stundenweise und das nicht jeden Tag. Außerhalb Kabuls ist diese Situation meist noch prekärer. Vor diesem Hintergrund kämpfen die meisten AfghanInnen auch materiell ums tägliche Überleben.
Ohne mir jemals Illusionen über die internationale Afghanistanmission gemacht zu haben, hatte ich doch erwartet, dass in deren Rahmen zumindest so viel Geld in zivile Projekte investiert wurde, dass eine Basisinfrastruktur sichergestellt wäre. Schließlich beinhalteten alle in den letzten Jahrzehnten praktizierten Strategien der westlichen Militärs gewisse materielle Verbesserungen für die Zivilbevölkerung in Konfliktregionen, um sich deren Unterstützung zu sichern.
Vielleicht bin ich aber auch nur der hiesigen Berichterstattung, vor allem der öffentlich-rechtlichen Medien, auf den Leim gegangen, die ihren Programmauftrag so interpretierten, jahrelang permanent zu wiederholen, dass die in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten vor allem uniformierte Aufbauhelfer seien, die vorrangig Brunnen bohren und Schulen (besonders für Mädchen) bauen.
Ebenso wenig wie die prekäre Lage der Bevölkerung ist das Drogenproblem in Afghanistan Thema in den internationalen Medien. Berichtet wird, dass dort im großen Stil Schlafmohn angebaut und Heroin produziert wird – eine wichtige Finanzierungsquelle der Taliban und anderer bewaffneter Gruppen. Dass aber, ähnlich wie in den südamerikanischen Ländern, in denen Kokain hergestellt wird (vgl. ila 378), auch im Land der Drogenkonsum ständig zunimmt und es kaum Hilfsangebote für die Abhängigen gibt, erfährt man nicht.
Von den Geldern, die für zivile Projekte nach Afghanistan fließen, scheinen die normalen AfghanInnen wenig zu haben. Ein Grund dafür mag in der Struktur der Entwicklungszusammenarbeit zu liegen, von der ein beträchtlicher Teil in die Gehälter hochbezahlter ExpertInnen fließt. Der Kontakt dieser ausländischen Fachkräfte zu den normalen AfghanInnen beschränkt sich wegen der prekären Sicherheitslage auf ein Minimum. Die meisten Entwicklungsorganisationen geben ihren MitarbeiterInnen aus Sicherheits- und versicherungstechnischen Gründen vor, wie und wo sie sich in Afghanistan bewegen können, und schränken damit deren Radius sehr stark ein. Eine Arbeit mit einer auf Dialog, Partizipation und Vertrauen basierenden Methode wie dem Theater der Unterdrückten ist somit nur äußerst schwer zu realisieren. Hinzu kommen Probleme mit den wenig transparenten Strukturen der afghanischen Nichtregierungsorganisation, an die Joffre-Eichhorn angebunden war, sowie mit den Vorgaben des örtlichen DED-Büros. Nach sieben Monaten in Afghanistan beim Deutschen Entwicklungsdienst kündigte er schließlich.
Das bedeutete allerdings nicht, dass seine Arbeit in Afghanistan zu Ende war. Im Gegenteil, sie begann erst richtig, als er nicht mehr im Dienst des DED stand. Finanziert über Kurzzeitverträge mit Nichtregierungsorgnisationen begann er in verschiedenen Zusammenhängen, etwa mit behinderten Menschen oder Drogenabhängigen, Workshops zum Theater der Unterdrückten durchzuführen. Wichtige Kooperationspartner wurden relativ bald Opferverbände, vor allem Organisationen von Witwen, deren Männer im Krieg oder aus politischen Gründen getötet worden waren. Nachdem zu Beginn die Vorbehalte gegen die neue Methode überwunden waren, sahen viele Witwen im Theater der Unterdrückten eine Möglichkeit, ihre erlittenen Traumata und Schmerzen zu artikulieren und sich mit anderen auszutauschen.
Joffre-Eichhorn schildert sehr ausführlich die verschiedenen Veranstaltungen, die in sehr unterschiedlichen Kontexten stattfanden, beschreibt, welche einzelnen Methoden beziehungsweise Übungen des Theaters der Unterdrückten dabei angewendet wurden, welche im afghanischen Kontext funktioniert haben und welche nicht. Spannend dabei ist nicht nur zu erfahren, wie Boals Ansatz in einer gänzlich anderen Kultur funktioniert, sondern auch, welche Konflikte und Widersprüche in der afghanischen Gesellschaft bei dieser Arbeit zutage traten.
Vor allem zwei Themen kamen immer wieder auf, zum einen die Geschlechterbeziehungen und die Gewaltverhältnisse, denen Frauen sowohl in der Öffentlichkeit, vor allem aber im familiären Umfeld ausgesetzt sind, zum anderen die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit den Kriegsverbrechen und der politischen Repression in den unterschiedlichen politischen Konstellationen der vergangenen Jahrzehnte. Ein weiteres Thema war die offensichtlich trotz aller ideologischen Umbrüche der letzten 35 Jahre unangetastete Macht der Großgrundbesitzer und Notablen.
Die rigide Zuschreibung von Geschlechterrollen wird in der afghanischen Gesellschaft weiterhin mit brutaler Gewalt gegen Frauen durchgesetzt. Dies muss auch die Theaterarbeit berücksichtigen. So berichtet Joffre-Eichhorn an einer Stelle, dass eine Frau von ihrem Mann verprügelt wurde, weil sie an einem Theaterworkshop teilgenommen hatte (aber trotzdem wiederkam). Oder dass Männer und Frauen zwar im Schutzraum geschlossener Seminarveranstaltungen miteinander arbeiten konnten, es aber nicht möglich ist, dass sich die männlichen und weiblichen TeilnehmerInnen eines Workshops auf der Straße grüßen, wenn sie sich zufällig begegnen. Für eine Frau kann es (lebens-)gefährlich sein, wenn sie von einem Mann, mit dem sie nicht verwandt ist, im öffentlichen Raum freundlich angesprochen wird, weil das Zweifel an ihrer Tugendhaftigkeit aufkommen lässt.
Auch in anderen Zusammenhängen scheint die soziale Überwachung selbsternannter Tugendwächter erheblich. So gab es nach einem Seminar Probleme mit den Nachbarn der Organisation, auf deren Gelände die Veranstaltung stattfand, weil ein eingeladener kolumbianischer Kursleiter seine Gitarre ausgepackt und mit einer Seminargruppe gesungen hatte. Hier wurde von der argwöhnischen Nachbarschaft christliche Missionstätigkeit vermutet – auch dies ein Vorwurf, der schwerwiegende Konsequenzen für die Beschuldigten haben kann.
Trotz dieser Widersprüche und Rückschläge war das Interesse zivilgesellschaftlicher Organisationen am Theater der Unterdrückten so groß, dass sich bald eine Gruppe bildete, die mit dieser Methode im ganzen Land Veranstaltungen und Projekte durchführte. Die TrainerInnen waren dabei zunehmend AfghanInnen, die an den Workshops Joffre-Eichhorns teilgenommen hatten und nun ihr Wissen weitergaben. Das große Interesse verschiedener Gruppen, weiter mit diesem Ansatz zu arbeiten, führte schließlich zur Gründung der Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO), die Veranstaltungen und Schulungen zum Theater der Unterdrückten durchführt, TrainerInnen ausbildet und die politische Artikulation der in der Theaterarbeit behandelten Themen fördert und unterstützt.
„Wenn die Burka plötzlich fliegt“ ist ein äußerst anregendes Buch über Afghanistan, über das Theater der Unterdrückten Augusto Boals, über kulturelle Verschiedenheiten, vor allem aber über soziale Interaktions- und Lernprozesse von Menschen.